☁ | ⊱『FOUR』⊰ | ☁

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{ 4/5 }
- Donnerstag -
{ ☁ } 14. Oktober { ☁ }
┋10┋20┋ Uhr
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[ Point of view: Kenma ]

Wenn es ein Fach gab, das ich hasste, dann war es der Schulsport. Ich war nie besonders gut in Sport und außer Volleyball trieb ich auch keinen weiteren Sport, was man mir natürlich auch anmerkte. Traurigerweise hing aber der eigene Wert bei Klassenkameraden immer davon ab, ob man gut in Sport war oder nicht. Und das hatte mir den Schulsport für immer kaputt gemacht. Aber nicht nur das, auch dieses Gefühl, immerzu von allen beobachtet zu werden. Diese Blicke, als würden sie sagen "nun beweg dich doch", "gib dir mal Mühe"oder "kein Wunder, dass der keine Freundin hat, so ignorant und stumpf wie der ist".
Während ich mich fast wie in Zeitlupe auszog, dachte ich über letzteres nach. Ich habe mich noch nie dafür interessiert. Selbst in tausend Jahren konnte ich mich selbst weder mit einer Frau, noch mit einer eigenen Familie sehen. Das passte einfach nicht zu mir. So ein Leben wollte ich zudem auch nicht. Es war nunmal nicht jeder gleich. Natürlich war es auch nicht schön, ganz allein zu sein. Aber war ich das denn? Ich hatte ja Kuroo und Shoyo. Meine Freunde. Wenn sie das denn waren. Was dachte ich da bloß wieder? War es nicht eher so, dass Kuroo, so wie er mich behandelte, nur aus Mitleid und der Vergangenheit wegen mein Freund war? Und Shoyo... Na ja, bei ihm war ich mir nicht sicher. Er war aus heiterem Himmel wieder aufgetaucht und in mein Leben getreten, von sich aus, hatte mir Dinge gesagt, die mir sehr viel bedeuteten und er hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Er hatte sich das zwar einfach aus dem Ärmel geschüttelt, aber es war keineswegs eine Lüge. Zumindest glaubte ich das. Er war so unschuldig, jemand wie er würde wegen so was nicht einfach lügen. Außerdem telefonierte er jeden Tag mit mir, selbst wenn er völlig geschafft war. Selbst als ich gestern dabei eingeschlafen war, hatte er nicht aufgelegt sondern schlief einfach selbst ein. Und morgens weckte er mich, damit ich pünktlich zur Schule kam, rettete mir drei Mal in dieser Woche schon das Gesäß. Am Montag, als ich kurz davor war, etwas schlimmes zu tun. Am Dienstag, als er mich morgens weckte, bevor ich den Bus verpasste. Am Mittwoch, als er mich auf den Test hinwies. Woher er das wusste, wusste ich immer noch nicht. Wenn ich ganauer darüber nachdachte, war es fast wie in der Beziehung zwischen meinen Eltern. Mein Vater hatte meine Mutter aus einem Loch gezogen, als sie direkt hintereinander erst ihre Mutter, dann ihren Job und zuletzt fast ihren Kampf gegen ihre psychischen Erkrankungen verloren hätte. Als ich geboren wurde, kamen sie aber kaum noch über die Runden. Mein Vater nahm einen zweiten Job an und überarbeitete sich völlig, weswegen er häufig nur mit meiner Mutter telefonierte, bis sie friedlich und unbesorgt einschlafen konnte. Er weckte sie auch morgens mit Anrufen und wenn sie unter all dem Druck mal zusammenbrach, war er für sie da. Als ich noch jünger war, verstand ich das nicht wirklich. Meine Eltern emtfernten sich zu einer Zeit irgendwann von mir und weil ich es nicht anders gewohnt war, beschäftigte ich mich weiterhin allein. Bis Kuroo in mein Leben trat und meine Welt sich schlagartig wendete. Ich kannte Kuroos Eltern irgendwann so gut wie meine, die sich immer weiter von mir zu entfernen zu schienen und sah es als selbstverständlich an. Die Art, wie meine Eltern miteinander umgingen. Aber jetzt realisierte ich erst, dass es alles andere als selbstverständlich war. Wie besonders mein Vater für meine Mutter war. All das erinnerte mich an mich und Shoyo. Er spielte die Rolle meines Vaters und ich die meiner Mutter. Durch diesen Gedanken dachte ich darüber nach, dass ich meinen Vater all die Zeit über für den perfektesten Menschen gehalten habe. All das, was er damals für meine Mutter tat, tat Shoyo momentan für mich. Aber wofür das alles? Letztendlich war all das umsonst. Er hatte meine Mutter verraten, sie hintergangen. Obwohl er im perfekten Licht stand und ich nie gedacht hätte, dass er so werden würde. Wer sagte denn, dass nicht das selbe mit Shoyo passieren würde? Gerade, wo ich ihm so vertraute. Wenn er mich auch so hintergehen würde, dann... Ich wollte das gar nicht zu Ende denken. Würde ich dann so werden, wie meine Mutter jetzt war? Ich wollte ihr nicht ähneln und doch tat ich es. Das Vertrauen, das ich meinem Vater entgegengebracht hatte, hatte er schamlos ausgenutzt. Vielleicht tat Shoyo das auch. Vielleicht sollte ich aufhören, in ihm meinen Lebenswillen zu suchen. Wir waren nicht zusammen und ich konnte ihn nicht mit meinem Vater vergleichen. Aber trotztdem wurde ich diese Gedanken nicht los. So war das eben, wenn man jemandem Vertrauen entgegenbrachte und dieses beinahe reuelos wie ein dünner Stock, der vom Baum fiel, entzweit wurde. Selbst wenn man diesen Stock wieder zusammenklebte, er würde nie mehr ganz werden, geschweige denn wieder richtig fest an diesem Baum befestigt sein. Was einmal fiel und dann zerbrach, wird nie wieder richtig auf zwei Beinen stehen können.

Meine Gedanken nahmen ein Ende, als der Lehrer ankündigte, dass wir in dieser Sportstunde Volleyball spielen würden. Zuerst dachte ich, dass das gut wäre. Das konnte ich wenigstens etwas und weil fast jeder hier wusste, dass ich im Volleyballclub war, war es das erste Mal, dass ich mal besser war als die Anderen. Das erste Mal, dass sie mich nicht als den Jungen ansehen würden, der keine Lust auf irgendwas hat und lediglich am Rand steht und glotzt.
Aber auch das sollte nicht sein. Man setzte mich nämlich nicht als Zuspieler ein, sondern als Außenangreifer. Ich hätte jede Position akzeptiert. Meine Annahmen waren ganz akzeptabel, ich hätte auch Libero sein können. Ich hatte dadurch, dass ich häufig vorne am Netz stand, auch im Blocken ein wenig Erfahrung. Aber im Angriff war ich grottenschlecht. Das war ja wieder super gelaufen.
Wie erwartet lief es auch total super. Meine Motivation war dahin, ich spielte gar nicht richtig. Bis zu dem Zeitpunkt, als irgendein Hirni, der nicht aufgepasst hatte, nochmal alle erinnerte, dass ich ja seit sechs Jahren in einem Club spielte. Ab dann spielte der Zuspieler jeden Ball in meine Richtung. Anfangs merkte man es mir nicht an, dass ich das wirklich nicht konnte, weil der Zuspieler absolut kein Talent dazu hatte und ich keinen Ball auch nur ansatzweise hätte schlagen können. Aber als sich sein Zuspiel verbesserte, war es natürlich offensichtlich. Nach dem fünften Ball gab ich es schließlich auf. Ich verweigerte und sprang nicht mehr, blieb stehen und starrte nur noch auf den Boden. Bei der letzten Rotation stand ich dann dort, wo ich sonst als Zuspieler stand. Hätte ich doch nur diese Position bekommen.
Plötzlich knallte etwas hartes auf meinen Kopf. Der Ball vermutlich.
Ich sah aber gar nicht erst auf. Das hier war meine letzte Chance, zu beweisen, dass ich etwas kann. Und ich hatte sie verpatzt und damit war der zweite Satz verloren, wie der erste auch.
Ich verließ einfach wortlos das Spielfeld und lief in Richtung Umkleide, versuchte, all die Kommentare zu überhören.
"Und der soll seit sechs Jahren in einem Club spielen?"
"Ich könnte dem so den Hals umdrehen."
"Der kann ja echt nichts."
"Meinte Fuchimoto nicht, dass er in der Startaufstellung ist? Wie soll das denn gehen? Dem ist ja sogar der Ball auf den Kopf gefallen."
"Wie kann man denn mit sechs Jahren Spielerfahrung so unerfahren sein?"
"Das mitansehen zu müssen war eine Beleidigung des Sports."

Einfach weitergehen und überhören. Es interessiert mich nicht. Sie haben ja Recht. Ich war wohl einfach unfähig. Im ganzen Spiel hatte ich verkackt. Ich habe weder durch meinen Block, noch durch meine Annahme beweisen können, dass ich irgendwas kann. Über den Angriff wollen wir gar nicht reden. Und selbst als ich die Chance hatte, ein perfektes Zuspiel vorzuzeigen, kriegte ich selbst das nicht hin. Mir fiel sogar der Ball auf den Kopf. Meine Aufschläge gingen alle ins Netz oder ins Aus, weil mir diese Blicke meiner Klassenkameraden so unangenehm waren, dass ich mich gar nicht konzentrieren konnte. Ich hatte völlig versagt. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so schnell wieder umgezogen. Ich wollte mit niemanden von denen reden und mich rechtfertigen. Dann verließ ich die Halle wieder. Das war ja super gelaufen. In wenigen Minuten wussten dann die 12-1 und die 12-2 vermutlich auch Bescheid, also Yamamoto und Fukanaga eingeschlossen. Na ja, sie würden vermutlich lachen. Ist ja klar, dass jemand der das Training wochenlang schwänzt nichts auf die Reihe kriegt. Wenn Kuroo das wüsste... Ich war schließlich der Kapitän. Obwohl Yamamoto als Vize-Kapitän ohnehin der bessere Kapitän war als ich. Und mit Lev und den neuen Erstklässlern kommt er auch besser klar. Ich war sowieso überflüssig. Einen Kapitän, der wochenlang schwänzt und einen Zuspieler, dem der Ball auf den Kopf fällt, kann kein Club der Welt gebrauchen.
Ich passte gar nicht mehr auf, wohin meine Füße mich trugen, hauptsache, ich rannte in niemanden aus dem Club rein. Vor denen versteckte ich mich bewusst, sonst würden sie mich zum Training zerren. Meine Wanderung führte mich schließlich auf das Schuldach. Es wäre eine gute Möglichkeit gewesen, jetzt etwas zu essen, aber mir war der Appetit vergangen. Gott sei Dank war niemand auf dem Dach. So konnte ich in Ruhe nachdenken. Wieso störte es mich plötzlich so? Ich hatte ja immer Angst davor, was Andere von mir hielten, auch wenn ich häufig die kalte Schulter zeigte, war mein Kopf voller Gedanken. Es war ja irgendwie wohl auch nachvollziehbar. Man selbst gab ein Bild ab an jeden Anderen, das überzeugen musste. Aber ich gab ein völlig anderes Bild ab. Ich zeigte ihnen das Bild eines ruhig fließendem Flusses an einem grauen, bewölktem Tag. Aber in Wahrheit müsste es ein Bild eines schlimmen Gewitters sein und der Fluss ein Meer, das riesengroße Wellen schlug.
Ich verlor ihn wieder.
Den Glauben an mich, den Glauben an das Gute und den Glauben an die Zukunft. Ich hangelte mich jeden Tag eine Stange am Klettergerüst weiter. Weiter in Richtung "Freude". Aber jetzt kam ich wieder nicht an die nächste Stange heran und hing nur noch mit einer Hand am Gerüst, kurz davor, wieder zu fallen.
Im dem Moment erinnerte ich mich an Shoyos Worte.
Wenn ich ihn brauche, dann soll ich ihn anrufen.
Jetzt war so ein Moment. Ich brauchte jetzt jemanden, um mich nicht völlig zu vergessen. Aber wo ich so darüber nachdachte, fiel mir wieder das von vorhin ein. Wäre er wirklich für mich da? War das alles eine Lüge, die er nur aus Mitleid aufgetischt hatte? Würde er dieses Versprechen halten oder würde er mein Vertrauen auch brechen?
Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Ich rief ihn einfach an. Aber ich bekam gar nicht mit, ob er überhaupt ans Handy ging, denn genau in dem Augenblick kamen Klassenkameraden von mir ebenfalls auf das Dach. Sie selbst schienen lediglich etwas essen zu wollen, aber als sie mich da sitzen sahen, grinsten sie und kamen auf mich zu. Das war aber kein Lächeln der "Schön-dich-zu-sehen"-Sorte. Eher eines der "Wen-haben-wir-denn-hier"-Sorte. Ich schaltete langsam die Gesprächslautstärke runter, falls Shoyo ranging, wüssten sie nicht, dass ich am telefonieren war. Hätte ich an dem Tag bloß einfach aufgelegt.

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- Donnerstag -
{ ☁ } 14. Oktober { ☁ }
┋12┋25┋ Uhr

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[ Point of view: Hinata ]

Gerade als es zur Mittagspause klingelte, stand bereits Kageyama in der Tür zum Klassenraum. Ich dachte mir zunächst nichts dabei, da es oft vorkam, dass wir die Mittagspause gemeinsam verbrachten. Aber als ich ihm freundlich entgegen lächelte und er mich bloß emotionslos am Ärmel packte und rauszog, merkte ich, dass etwas anders als sonst war.
« Kageyama, was machst du denn? », fragte ich ihn, während ich verzweifelt versuchte, mich loszureißen.
« Komm einfach mit, du Idiot. »
« Ja ja, aber ich kann auch allein laufen! »
Dann ließ er mich endlich los und ich folgte ihm einfach den Gang entlang bis nach draußen. Als er stehenblieb, tat ich es auch und starrte ihn ahnungslos an.
« Jetzt komm endlich zur Sache, ich habe Hunger. », qüangelte ich und blickte immer wieder auf meine Uhr und zurück.
« Sag mal, was ist eigentlich los? », fragte er und schaute mich an wie meine Mutter, wenn ich sie anlog und sie wusste, dass ich es tat.
« Was soll denn sein? »
« Merkst du noch was? Erst teleportierst du dich am Montag, dann bist du mal übermütig und kurzzeitig könnte man echt meinen, du denkst tatsächlich nach, dann grinst du wieder, du weißt ständig mehr als alle Anderen und kommst mit Augenringen des Todes zur Schule. Und schau dich an, du bist voller Wunden. Und beim Training bist du ständig nur halb dabei. Du bist total seltsam! »
« Das bildest du dir nur ei- »
« Idiot! Verkauf' mich nicht für dumm! Ich sehe das doch! Und nicht nur ich, das kannst du auch alle Anderen fragen, die werden dir das Selbe sagen. Ich will Antworten. Was ist passiert? »
« Oho, machst du dir etwa Sorgen? », stichelte ich, um vom Thema abzulenken. Ich hatte schließlich keinerlei Erklärung dafür.
« Erzähl keinen Scheiß. Ich habe nur keine Lust mehr auf deinen Blödsinn. Nicht nur, weil das echt gruselig ist, sondern auch, weil du ständig so übermüdet bist. Wie willst du vernünftig trainieren können wenn du ständig kurz vorm Umkippen bist? »
« Kageyama... Du... Idiot... »
Mir fiel nichts ein, was ich darauf erwidern konnte. Ich konnte ihm ja schlecht sagen, dass ich manchmal Nachts nicht schlafen kann, weil ich Kenma das Leben rette und dafür Tage doppelt erleben muss und mein Körper den Schlaf nicht bekommt. Und wenn ich die Chance zum Schlafen hatte, telefonierte ich bis zur Mitternacht mit Kenma und konnte auch nicht wirklich schlafen, weil mich ständig diese Alpträume und Ängste plagten. Wird Kenma wieder sterben? Wie und warum? Kann ich es aufhalten? Wie? Und dann wieder die Gedanken, dass ich es nie geschafft habe, ihn ohne das Zeitreisen zu retten und ich ihn ohne diese Fähigkeit längst verloren hätte. Von Tag zu Tag wurde er mir wichtiger und von Minute zu Minute vermisste ich seine Stimme mehr. Deshalb hatte ich solche Angst, ihn zu verlieren. Angst, dass es wegen mir war, weil ich ihn nicht retten konnte. Aber all das würde Kageyama nicht verstehen. Ich konnte es ihm nicht sagen.

« Hinata, das Team funktioniert nicht, wenn du so bist. Ich habe keine Lust auf deinen Kindergarten. Was ist passiert? Was hält dich nachts wach und wieso bist du so komisch? Bist du verliebt oder welchem Schwachsinn bist du wieder zum Opfer gefallen? »
Plötzlich pochte mein Herz unfassbar schnell, als würde ich mich erwischt fühlen. Warum das so war, wusste ich nicht. Vermutlich hatte ich mich vor so einer dummen Aussage einfach erschreckt, weil sie so unverhofft kam.
« Was redest du da für einen Quatsch? Ich bin doch nicht in Kenma verliebt! »
Außenstehende klatschten sich wohl jetzt die Hand vor die Stirn.
« Kenma? Wieso denn der? Über den haben wir doch gar nicht gesprochen! »
Ich hoffte, dass Kageyama dumm genug war, das jetzt nicht falsch zu interpretieren. Tatsächlich befand ich mich in einer misslichen Situation. Hatte ich mich gerade versehentlich geoutet? Nein, Quatsch. So war es ja schließlich nicht. Aber wie kam ich sonst darauf? Nein, was ein Quatsch, ich habe nur schneller geredet als nachgedacht, das wird es sein.
Wie gerufen klingelte plötzlich mein Handy. Sofort war mein Puls wieder auf hundertachzig. War das wieder eine der Nachrichten, vor denen ich mich den ganzen Tag fürchtete? Aber ich musste ran gehen, egal, ob es so war oder nicht. Ich zog das Handy also aus der Tasche und sah, dass der Anrufer Kenma war. Mein Daumen bewegte sich zitternd in Richtung des grünen Hörers, doch bevor ich ihn darauf absetzen konnte, griff Kageyama nach dem Handy.
« Hinata, wir sind noch nicht fertig! Außerdem, bist du dir mit dem sicher, was du gerade gesagt hast? Wieso bist du plötzlich so nervös, wenn er anruft? Lüg mich nicht an! Meine Güte, Volleyball funktioniert nicht, wenn wir- »
Jetzt platzte mir langsam die Geduld. Wenn Kenma anrief, war es wichtig und ich brauchte jetzt dieses verdammte Handy.
« Verdammt noch mal, es dreht sich nicht alles nur um Volleyball! Ich weiß, das sage ich gerade, aber stell dir mal vor, ich habe Freunde, dessen Leben mir wichtiger ist als Volleyball! Das würdest du verstehen, wenn du in deinem Herzen auch mal Platz für Menschen machen würdest anstatt nur für einen dämlichen Ball! Bedeute ich dir als Person denn gar nichts? Was macht diese verfluchte Lederhülle so wichtig, dass du nicht ein einziges Mal... »
Mittlerweile schrie ich fast und mir liefen zwei einzelne Tränen die Wangen hinab. Als ich das merkte, wurde ich ein wenig leiser.
« ... Dass du nicht ein einziges Mal einfach nur mein Freund sein kannst? Du sagtest, mit dir bin ich unbesiegbar, aber jetzt gerade bist du da und ich bin... Kaputt. »
Dieser verdammte Idiot. Er hatte mich doch tatsächlich zum Heulen gebracht. Was war eigentlich los mit mir? Na ja, eigentlich einfach zu erklären. Ich hatte Angst um das Leben einer Person und stand unter höchstem Druck und er zeigte keinerlei Gefühle und drückte noch ordentlich nach.
« Jetzt gib mir das Handy. Ich muss diesen Anruf entgegen nehmen. »
Ausdruckslos gab er mir das Handy wieder und dann verschwand er. Ich konnte nicht deuten, was gerade in ihm vorging und ich fragte mich, ob überhaupt irgendetwas bei ihm angekommen war von dem, was ich gesagt hatte. Aber darum würde ich mich später kümmern. Denn jetzt brauchte ich einen freien Kopf für Kenma.

Da ich schon draußen war, konnte ich nicht mehr tun, als mich in eine der Ecken des Schulhofes zurück zu ziehen und dort ranzugehen.
« Kenma? Shoyo hier. Ist alles in Ordnung? »
Keine Antwort. Nur ein Rauschen.
« Kenma? Bist du noch da? »
Wieder alles still. War das ein Scherz? Nein, das sah Kenma gar nicht ähnlich. Ich wollte gerade ein weiteres Mal rufen, als ich hörte, wie jemand sprach. Ich merkte sofort, dass das nicht Kenmas Stimme war. Ich konnte aber nicht verstehen, wer da was sagte. Es flogen nur einzelne Worte. Ich versuchte, mich genau zu konzentrieren, um irgendwie mithören zu können, aber es gelang nicht. Letztendlich hörte ich nur Worte wie "schlecht", "Versager", "verloren". Darauf folgten "Last", "Unnötig". Dann kam eine dritte Stimme und ich hörte lediglich "Weglaufen" und "Schlag". Ab da wusste ich, was los war. Aber ich konnte nichts tun. Was sollte ich denn machen? Meine Schreie hörten sie nicht, dorthin kam ich nicht. Es war eine einzige Qual. Da zu sein, aber nichts tun zu können, war schrecklich. Ich wollte das nicht, aber ich konnte nichts machen und es machte mich verrückt.
Ich versank bereits in Ratlosigkeit, als plötzlich Schreie erklangen. Erschütternd schlimme Schreie. Dann wurde geflucht und geflucht und ich hörte nun ganz deutlich die Worte "Gesprungen" und "Tot".
Da hatte ich verstanden. Es war das vierte Mal diese Woche. Und trotzdem weinte ich. Es ließ mich einfach nicht kalt. Es war ein einziger Alptraum und ich erlebte ihn immer und immer wieder, es war eine Endlosschleife und es hörte einfach nicht mehr auf. Wer entschied das? Wer hatte die Macht dazu, welche Art von Lebewesen trifft eine solche Entscheidung, außer jemand, der nie selbst gelebt hat? Jemand, der keinerlei Empathie besaß.
« Ich will es ungeschehen machen». Immer wieder dachte ich diesen Satz. Das einzige, das mich vor einem Zusammenbruch rettete, war, dass ich endlich merkte, wie mein Magen sich umdrehte. Das Zeichen, das Kenmas Tod ungeschehen machte und mich meinen Kopf anstrengen ließ.

Als es endlich vorbei war, war es wieder früher Morgen und ich saß auf dem Schulhof. Ohne Handy. Es war das gleiche wie Dienstag, außer, dass ich jetzt darauf vorbereitet war. Für den Fall, dass so etwas wie vorgestern in der bereits veränderten Realität nochmal passieren würde, hatte ich mein altes Handy in einer Box im Hausmeisterschuppen versteckt, mit Kenmas Nummer bereits eingespeichert. Ich hatte eben mal nachgedacht. Sonst hätte ich jetzt wie vor zwei Tagen zu Fuß nach Hause rennen müssen. Also stand ich auf und machte mich auf den Weg zum Schuppen. Währenddessen überlegte ich, was Sache war. Meine Armbanduhr sagte mir, dass es halb sieben war. Das sollte mir wohl vermitteln, dass ich Kenma noch vor der Schule vor etwas warnen musste. Das wiederum hieß, dass in der Schule etwas geschehen war, das ich verhindern musste. So wie ich das deutete, war Kenma in der anderen Realität vom Dach- ich konnte diesen Gedanken nicht einmal zu Ende denken. Mir lief eine Gästehaut über den Körper. Lassen wir das, dachte ich. Ich hatte keine Informationen darüber, was wirklich geschehen war, also hatte ich keine Wahl, als Kenma komplett von der Schule fernzuhalten.
An der Hütte angekommen, sah ich mich erst noch um, ob der Hausmeister vielleicht schon früher gekommen und in der Nähe war, dann trat ich aber ein und holte das alte Handy aus der Box. Während ich das tat, fühlte ich mich wie ein krasser Kerl mit Wegwerf-Handy. Aber nur ein ganz bisschen. Trotzdem musste ich mir die Angst und Spannung irgendwie selbst nehmen, und wenn es kindische, belanglose Gedanken waren. Anders konnte man mir nicht helfen. Ich hoffte, Kenma würde überhaupt ran gehen. Wenn er auf das Display sah und eine unbekannte Nummer sah, wurde er ganz sicher nicht rangehen. Gut, dass er mich gefragt hatte, ob ich ihm morgens wecken könne. Das würde bedeuten, dass er vielleicht aus Gewohnheit einfach rangeht. Gott sei Dank.

« Shoyo...? », fragte die mir nur allzu gut bekannte Stimme verschlafen und löste wie immer das gleiche Gefühl von Freude und Erleichterung in mir aus.
« Ja, ich bins. Guten Morgen! »
Er gähnte. Sofort huschte ein Grinsen über meine Wangen. Die Vorstellung die sich mir bot, wie es wohl aussehen würde, wenn er gähnte... Bis jetzt sah jeder den ich kannte aus wie eine Mischung aus einem Pferd mit hochgeklappter Oberlippe und kreischender Dinosaurier, aber ihn stellte ich mir wie ein kleines Kätzchen vor.
« Noch da? », fragte er und riss mich aus meinen fragwürdigen Gedanken.
« Ehh, ja klar. Übrigens, kann ich mal was sagen? », antwortete ich, um schnell zur Sache zu kommen.
« Immer doch. Ist was? », antwortete er und anhand der Hintergrundgeräusche deutete ich, dass er aufgestanden war.
« Ja. Egal was passiert, du darfst nicht in die Schule gehen. Versprich es mir. »
Stille.
« Kenma? »
« Ja, ich bin noch da. Nicht, dass ich da unbedingt hin will, aber wieso? Und wie soll ich das organisieren? Meine Mutter lässt mich sicher nicht zu Hause. »
Das waren zwei gute Fragen, die ich nicht ohne weiteres beantworten konnte. "Wieso". Na ja, dass er sonst sterben würde, konnte ich ja schlecht sagen. Aber wie er das organisieren sollte, war ja ganz klar.
« Du tust so, als würdest du zur Schule gehen, gehst aber in Wahrheit irgendwoanders hin. »
« Aber Shoyo, ich- »
« Wunderbar, so machst du's. Wir schwänzen zusammen, wir telefonieren die ganze Zeit! »
So konnte ich überprüfen, ob Kenma auch wirkich nichts passierte, ich konnte stundenlang seine Stimme hören, würde die unangenehme Konversation mit Kageyama vollkommen vermeiden und ich musste nicht noch mal zu Fuß nach Hause gehen. Meine Mutter musste heute nicht arbeiten, was bedeutete, sie würde mich nicht wecken kommen und gar nicht merken, dass ich nicht in der Schule war.
« Shoyo, ich- »
« Kenma, bitte, vertrau mir. Es ist mir wirklich sehr wichtig. Ich tue das aus Überzeugung. »
Nach einer langen, fast beängstigenden Stille, antwortete er schließlich:
« Ist ja gut, ich mach's. »

Und so funktionierte es auch. Stundenlang telefonierte ich mit Kenma, bis offiziell Schulschluss und unsere Handys leer waren. Es wurde nie langweilig, wir hatten fast immer etwas zum reden und wenn nicht, war selbst die Stille schön und nicht unangenehm. Kenma öffnete sich mir immer mehr und ich verspürte immer mehr den Drang, in zu umarmen und mein größter Wunsch war es, ihn eines Tages lachen zu sehen. Es war schon verrückt. Diese Gefühle waren komisch, unbekannt und ich konnte sie nicht zuordnen. Aber es waren keine schlechten Gefühle.
Im Gegenteil, teilweise saß ich selbst mit einem Dauergrinsen auf der Bank.
Dieser Tag war mit Abstand der Schönste seit langem, fast sogar der Schönste. Ich war sicher, dass ich nicht nur mir etwas gutes getan hatte und vergaß das erste Mal in dieser Woche die Angst, den Stress und die Sorgen. Uns beiden ging es gut. Wir lebten. Fragte sich nur, wie lange noch.

- - - ☁ end of chapter 4/5 ☁ - - -

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