8 Kenwood Park.
【 NIALL 】
━━━━
Es war der reinste Krieg mit Nella über die Baupläne zu hocken und mit ihr zu diskutieren. Kenwood Park blieb aber trotzdem genau das, nach dem ich gesucht hatte.
Der Ort war Erholung pur. Allein, wenn man vom Haupthaus aus, aus dem Fenster blickte, war die Aussicht so einnehmend, dass ich mich immer wieder zwingen musste, den Blick abzuwenden.
Man durfte auf dem Gelände nichts bauen, was die Natur zerstören würde und das respektierte ich, ebenso durfte ich das Grundstück nicht aufteilen und weiterverkaufen. Aber mal ehrlich, ich wäre verrückt, wenn ich genau das tun würde. Der Park war so groß, dass ich irgendwann einmal das gesamte Gelände abwandern musste. Oder eben einer der Jungs, falls sie je ihren sturen Kopf endlich aus den Wolken nahmen.
Alles würde ich sicher nicht alleine machen!
Das Haupthaus musste in den Zimmern modernisiert werden, neue Tapeten, Farben und Möbel. Einige Treppen knarrten und Deckenlampen gehörten ausgetauscht. Es war lauter so Kleinkram und laut Nella wäre es vielleicht nicht unbedingt schlecht, wenn wir uns tatsächlich zuerst um das Haupthaus kümmerten und uns dann Stück für Stück die Cottages vornahmen.
Sie hatte mir zwischenzeitlich einen weiteren blauen Umschlag von Harry gegeben. Nach welchem System sie einen rausrückte wusste ich nicht. Trotzdem war es gut auf diese Art zu wissen, dass Harry eine Nachricht hinterließ. Nur eben anders und nicht aktuell.
„Beteilige dich beim Aufbau deines Projekts."
Mehr stand in seinem Brief nicht und ich wusste auch ohne große Erklärung, dass er damit meinte, dass ich nicht einfach nur Handwerker anheuern sollte und wieder nach Hause fuhr.
„Niall, du packst dir Sebastian, fährst nach Carlton's Mills, fragst nach Handwerkern, Klempnern und ob die einen Förster haben, der sich die Wälder einmal ansehen kann", kommandierte Nella direkt beim Frühstück.
Es stand außer Frage, dass mir ihr herrischer Tonfall überhaupt nicht passte. Zusammen mit Sophia und Sebastian saßen wir an einem langen Tisch auf je unterschiedlichen Stühlen. Prompt ließ ich das Marmeladenbrot in meiner Hand sinken: „Was soll der Försterin den Wäldern, Bigfoot jagen, oder was?"
„Wer ist Bigfoot?", fragte Sebastian über den Rand seiner Tasse Kakao hinweg.
Nella dagegen rollte mit den Augen: „Er soll sich die Bäume ansehen und schauen, ob wir das Gestrüppe lichten lassen müssen, damit das Ökosystem Wald nicht gestört wird. Wir wissen schließlich nicht, was sich unter dem ganzen Wild dort befindet. Das, was wir abholzen müssen, können wir ja verwenden für Lagerfeuer."
Sie schien einen vollen Plan zu haben. „Sophia und ich wollen uns die Räume genauer ansehen, außerdem bezweifle ich, dass du einen sonderlich guten Geschmack hast, Niall."
„Bei was?", fragte ich sie und Sophia lächelte: „Tapeten, Möbel, die zum rustikalen Stil passen, Farben, Teppiche-"
„Ich hab's verstanden", lenkte ich schnell ein. „Gut, ich frage wegen Handwerker und den Rest."
„Und Sebastian wird dir beim Einkaufen helfen", setzte Nella noch einen drauf, dann sprach sie an den kleinen Jungen gewandt: „Wir brauchen jemanden, der auf ihn ein Auge hat, damit er gesunden Kram kauft. Niall hat nämlich die Angewohnheit Obst und Gemüse zu vergessen."
Sebastian sah sie schweigend an und prompt wurde ich zum Kind gemacht, das Aufsichtspersonal brauchte. Gleichzeitig fragte ich mich, woher Nella wissen wollte, dass ich ein schlechter Einkäufer war. Doch die Antwort erhielt ich, indem ich mich daran erinnerte, dass die Freundin meines besten Freundes anwesend war.
Nach dem kargen Frühstück holte ich den Kindersitz aus Sophias Auto und sah, wie sie Sebastian gut zuredete und ihm versprach, dass ich ihn auf jeden Fall wieder zurückbrachte. Innerlich fragte ich mich, was der Kleine dachte, wohin ich mit ihm abhauen würde. Disneyland? Sophia machte den kleinen Finger Schwur und das schien Sebastian schließlich sogar zu überzeugen.
Er war ein merkwürdiger Junge, sehr still und leise.
Meistens sprach er nur, wenn er etwas direkt gefragt wurde oder etwas wissen wollte. Dieser ganze Quatsch, dass er Liams Sohn sei, fand ich an den Haaren herbeigezogen. Denn gerade Liam!
Kurzerhand schnallte ich Sebastian fest, bekam von Nella eine ganze Liste in die Hand gedrückt („Damit du auch nichts vergisst!") und stellte gerade noch rechtzeitig das Hörbuch in meinem Wagen aus, als ich mit Sebastian hinten drin Kenwood Park verlassen wollte. Für einen Fünfjährigen war es vielleicht besser, keine Thriller zu hören. Ich wollte das Radio nicht anmachen, aber als ich im Rückspiegel sah, dass Sebastian damit beschäftigt war, aus dem Fenster zu sehen, ließ ich es schließlich auch bleiben.
Erst als ich in der Nähe vom Rathaus parkte, bekam ich Sebastians Aufmerksamkeit wieder. Es war nicht so, dass ich nicht mit Kindern umgehen konnte, schließlich fraß Theo mir aus der Hand und auch sämtliche Tomlinson-Gören liebten mich, aber dieser Junge war einfach seltsam. Merkwürdig still.
„Du willst doch nicht wirklich aufpassen, wenn ich einkaufe, oder?", fragte ich gespielt entsetzt und Sebastian musterte mich regungslos, dann murmelte: „Ich hab's versprochen."
Artig folgte er mir, als ich den kleinen Klempner-Laden von Hank & Sons betrat. Dort machte ich mit einer viel zu stark geschminkten Frau einen Termin aus. Ihr Haar war hochgesteckt und sah aus, als wäre es zu lange frittiert worden.
„Reden wir von einer kaputten Toilette?", fragte sie überdreht und dann erklärte ich ihr, dass ich das ganze Programm bräuchte. „Alle möglichen Rohre müssen überprüft werden, wäre gut, wenn Sie ein großes Team schicken könnten."
„Nun, einer meiner Söhne hat Urlaub, aber ich könnte für morgen drei Mann schicken", erklärte sie lächelnd und ich stöhnte innerlich. Drei Mann waren eindeutig zu wenig, aber vielleicht besser als gar keiner.
Kurzerhand schrieb ich die Adresse auf, meine Handynummer dazu und sah mich dann nach Sebastian um. „Kurzer, komm, wir müssen noch schauen, ob wir nen' Förster finden und Handwerker."
Wir waren schon fast an der Tür, als die blonde Frau hinter ihrem Schreibtisch hervorstürzte: „Sie haben Kenwood Park gekauft?"
Ich nickte und plötzlich musterte sie mich interessiert, dann sprach sie: „Sie wissen, dass Sie auf diesem Gelände nichts großartig bauen dürfen?"
„Ja, das ist mir durchaus bewusst", antwortete ich höflich und schob Sebastian zur Tür raus, doch die Frau schien mich nicht so einfach gehen zu lassen: „Was wollen Sie aus Kenwood Park machen?"
Das ging sie erst einmal gar nichts an und zweitens war alles noch im Aufbau. Ich lächelte lediglich und griff nach Sebastians Hand. Seine kleine verschwand in meiner großen. „Auf wiedersehen." Damit wollte ich ihr zu verstehen geben, dass ich erst einmal keine weitere Auskunft geben würde.
Nicht auszudenken, wenn sie damit an die Presse trat und ich dann plötzlich kampierende Paparazzo vor dem Tor hatte. Darauf konnte ich nämlich verzichten. Ebenso auf Idioten, die auf Bäume kletterten und hofften, irgendwelche skandalösen Fotos zubekommen.
Carlton's Mills war eine neugierige Kleinstadt, denn als ich mit Sebastian einen Baumarkt abklapperte, Werkzeug kaufte und alle Hand Zeugs bestellte, was Nella mir aufgeschrieben hatte, bemerkte ich, dass zwei alte Herren hinter uns tuschelten.
Ich ignorierte sie und fragte nach Handwerkern. Der bullige Mann hinter der Theke ließ mich wissen, dass er zwei Männer vorbeischicken würde und ich fragte, wie viele er denn zur Verfügung stellen könnte. Am Ende handelte ich vier aus und rechnete mir aus, wie lange ich brauchen würde, um das Camp auf die Beine zu stellen.
Vielleicht bis Weihnachten?
„Sie wissen schon, dass Sie in Kenwood Park nicht bauen dürfen?", brummte der Typ mit dem Schnauzer und dem karierten Hemd und sah mich prüfend an.
„Ich weiß das", wiederholte ich mich und packte die schweren Eimer mit Farbe zurück in den Wagen, dann das vereinzelte Werkzeug. Der Mann schien jedoch nicht überzeugt: „Wenn Sie die Richtlinien ignorieren, dann kostet das eine saftige Strafe."
„Richtig so", stimmte ich trocken zu und war mehr als froh, dass ich raus aus dem Laden war. Was war das hier nur für eine Stadt?
Während ich die Eimer Farbe in den Kofferraum stellte, half mir Sebastian indem er das Werkzeug aus dem Wagen angelte und reichte. Ich zog die Liste von Nella aus meiner Hosentasche und klappte sie auf. „Jetzt müssen wir nur noch Lebensmittel einkaufen."
Der Supermarkt war nicht weit und als ich mit Sebastian vor den Cornflakes stand, wurde mir bewusst, dass wir in Kenwood Park absolut kein Spielzeug für ihn hatten. Er entschied für uns, dass die Maple Loops das einzige Verbrechen war, das er erlaubte. Denn beim Süßigkeitenregal marschierte er einfach energisch weiter. Die Chips verschwanden wie von Zauberhand aus dem Wagen als ich nach Aufschnitt suchte und zurückkam. Sebastian tat, als könnte er kein Wässerchen trüben.
Die Acidophilusmilch auf der Liste ignorierte ich und sah erst gar nicht nach, ob sie im Kühlregal stand. Das Zeug hatte sehr seltsam geschmeckt und normale Milch würde es wohl auch tun. Jogurts in allen verschiedenen Varianten fanden den Weg in den Wagen und ich sah Sebastians Augen leuchten.
Vielleicht sollte ich mir merken, dass dieses Kind nicht mit Schokolade zu bestechen war, aber mit Milchprodukten. Neben Wasserkisten, Tee, unendlich viel Gemüse und Obst, steckte ich noch ein Malbuch mit Stiften dazu.
Nachdem wir die Sachen ins Auto gepackt hatten, nickte ich mit dem Kopf auf eine Eisdiele. „Das haben wir uns verdient", meinte ich, doch Sebastian hüpfte hinter mir her und sprach: „Aber es gibt doch bald Mittag!"
Wer unter achtzehn Jahre schlug ein Eis aus? Ich blieb stehen und hockte mich zu ihm runter, dann sprach ich seufzend: „Sebastian, so läuft das nicht. Hör mal, wenn wir beide auf die Dauer klarkommen wollen, dann darfst du nicht versuchen, mir den Zuckerkram madig zu machen, okay?"
Mit großen Augen sah er mich an und ich erklärte: „Wann immer ich dir Eis, Schokolade, Chips – prinzipiell alles was ungesund ist, anbiete, dann strahlst du, nickst heftig und isst alles, was ich dir vorsetzte, haben wir uns verstanden?"
„Aber-"
„Das machst du nur bei mir! Bei Sophia ist Nella bist du weiter dieser Ökofanatiker, der nicht einmal weiß, was Schokolade ist", unterbrach ich ihn, dann runzelte er plötzlich die Stirn und fragte: „Was ist ein Ökonatiker?"
Statt auf die Frage einzugehen, nickte ich und verlangte: „Gut so, genau diese Miene machst du, wenn Sophia dich fragst, ob wir etwas Süßes gegessen haben und dazu sagst du dann noch 'ich weiß nicht wovon du sprichst' und schon haben wir einen tollen Deal."
Er war verwirrt, ich sah es ihm an der Nasenspitze an. Schließlich rümpfte er tatsächlich das kleine Näschen und meinte: „Aber das ist doch gelogen!"
Die Verhandlungen mit diesem Jungen waren härter, als ich geglaubt hatte. Schweigend musterte ich ihn, dann fragte ich ernst: „Willst du ein Eis?"
„Klar!", murmelte er und kurz darauf drückte er sich die Nase an der Auslage platt. Die zwei Kugeln waren eindeutig zu viel für ihn. Schokolade lief sein Kinn runter und er kämpfte sich zum Erdbeereis vor. Wir saßen auf der Bank vor dem Rathaus und beobachteten die Leute.
Ich drehte mein eigenes Hörnchen mit Zitronen- und Stracciatella Eis zwischen den Händen und langsam begriff ich, warum meine Schwägerin einst gesagt hatte, dass Taschentücher die Retter der Welt waren. Ich kam mir vor, wie ein Loser-Daddy, doch trotzdem organisierte ich von einer Rentnerin Taschentücher und wischte Sebastian die Schnute ab.
„Ist Nella deine Freundin?", fragte er plötzlich und ich schüttelte den Kopf. „Nein."
„Aber Sophia ist es auch nicht", stellte Sebastian fest, dann wollte er wissen: „Ist Nella dein Aufpasser?"
„Wie wäre es mit Freund?", schlug ich vor und das nahm er einfach hin. Nachdem gegessenen Eis, sprach ich: „So, jetzt zeig mir deine Unschuldsmiene!"
Übertrieben artig verzog er das Gesicht und sah mich dabei an, wie ein Hundewelpen, kurz vorm Wasser lassen. Mit diesem Jungen würde ich noch auffliegen, bevor ich einen Fuß aus dem Auto gemacht hatte.
Das konnte ich mir nicht ansehen, weshalb ich ihm meine Snapback von Nike aufsetzte und hoffte, dass man ihm so nicht sofort ins Gesicht blicken konnte, da sie ihm viel zu groß war.
Auf der Rückfahrt zum Kenwood Park sah ich im Rückspiegel, dass Sebastian immer wieder die Snapback richtete, vor sich hin grinste und sich damit wohl ziemlich toll fand. Als wir ankamen, begrüßte uns Sophia mit einem Lächeln und noch bevor sie irgendetwas gesagt hatte, huschte Sebastian an ihr vorbei und beteuerte: „Ich weiß nicht, wovon du sprichst!"
So viel zum Thema Timing. Verwirrt sah Sophia mich an und ich zuckte mit den Schultern.
Danach führte Sophia mich fast zwei Stunden von einem Raum in dem nächsten, wo sie mir erklärte, was sie sich an Wandfarbe, Möbel und Aufteilung der einzelnen Räume gedacht hatte.
Die Frauen waren fleißig gewesen, denn auf dem langen Küchentisch konnte ich unendlich viele Listen entdecken und zum ersten Mal wünschte ich mir, ich müsste das nicht alles alleine entscheiden, sondern mit den Jungs zusammen.
Ratlos stand ich nach dem Mittagessen, dass aus Nudeln und Hackfleischsoße bestand, alleine in einem der Zimmer im oberen Stock. Das etwas abgenutzte Laminat unter meinen Füßen knarrte und ich fragte mich, ob ich das überhaupt alles schaffen konnte. Denn nach dem Essen hatte ich noch einmal auf die Karte geschaut, die Kenwood Park in seiner ganzen Größe zeigte.
Sebastian war eingefallen, dass wir den Förster vergessen hatten und Nella erklärt, dass die Verträge am Morgen von einem Boten abgeholt werden. Irgendwie machte es das ganze endgültig. Offiziell gehörte Kenwood Park dann erst einmal mir und wenn die Jungs sich entschieden, nach Harrys Regeln zu spielen, dann würde sich vertraglich noch einmal etwas ändern. Im Augenblick fühlte ich mich von den Jungs jedoch stark im Stich gelassen, auch von Harry selbst.
Ich wollte nicht alles allein entscheiden, denn es war doch schließlich ein Gemeinschaftsprojekt. Die Möbel würden warten müssen und diejenigen reichen, die wir auf dem Speicher gefunden hatten. Ich schlief relativ gut auf einer nackten Matratze, aber angesichts der Tatsache, dass ich seit über einem Jahr nicht mehr richtig gut schlafen konnte, war mir so etwas sowieso egal. Tief atmete ich durch und wollte das beklemmende Gefühl in meiner Brust vertreiben.
Kurzerhand schnappte ich mir meinen Hoodie, zog ihn über und polterte die Treppen runter. Heute würden wir hier sowieso nicht mehr viel tun können, schließlich mussten die Handwerker erst einmal das Nötigste kontrollieren, erst dann konnten wir damit anfangen, die ersten Räume zu streichen. Allen voran im Bad dieses grässliche knallige Gelb zu den blauen Waschbecken verschwinden lassen.
Nella, die über ihren Laptop brütete, bemerkte mein Weggehen und folgte mir: „Wo willst du hin?"
„Ich sehe mich mal ein bisschen um, wandere die Cottages ab und so", erklärte ich knapp. Allerdings folgte sie mir weiter hartnäckig, grapschte nach ihrer Jacke und rief: „Aber doch nicht allein, du kannst dich hier verlaufen!" Ich warf ihr einen Blick zu, der ihr zu verstehen geben sollte, dass das sehr unwahrscheinlich sei. Trotzdem hörte ich, dass sie mir folgte.
„Nella, ernsthaft, ich bin keine sechs mehr. Erst drückst du mir Sebastian als Aufpasser aufs Auge und jetzt kann ich keinen Fuß mehr allein vor die Tür setzten?"
„Du hast den Förster vergessen und Sebastian mit Eis vollgestopft, da sieht man mal, wie sehr du einen Aufpasser brauchst", konterte sie und ich fragte mich, wieso der Furzknoten mir dermaßen in den Rücken fiel.
Ohne etwas darauf zu erwidern, setzte ich den Weg fort und nahm ein Trampelpfad nach rechts, der in den Wald führte, wahrscheinlich ein Stück am See entlang. Es war mir egal, denn ich wollte mich einfach nur bewegen. Es dauerte nicht lange und dann hörte ich Nella schon mosern: „Du bist der unreifste Erwachsene, der mir je unter die Nase gekommen ist!"
„Weil ich spazieren gehe?", fragte ich sie gelangweilt und sie holte auf, sodass sie nur noch einen halben Meter hinter mir war. Der Geruch von Harz machte sich in der Luft breit. Es roch frisch, nach Erde und ein bisschen nach Regen. Den würde es sicher heute noch geben, denn der Himmel war bewölkt und trist.
„Man kann sich hier schneller verlaufen, als du glaubst", teilte Nella mir mit und ich fragte mich, ob sie das hier schon getan hatte. Immerhin kannte sie Kenwood Park. Blieb nur offen, wie gut. Ich schwieg und stieg über eine Wurzel.
Den Blick ließ ich schweifen und erkannte durch die Baumstämme hindurch den See, nicht weit von uns. Ob er einen bestimmten Namen hatte? Das musste ich unbedingt noch herausfinden. Hinter mir redete Nella einfach weiter. Es schien ihr egal zu sein, dass ich nicht antwortete. „Es gibt so viele Wege hier, manche sind nicht einmal auf der Karte. Es wäre schlauer mit einem Förster hier lang zu gehen. Außerdem glaube ich, dass hier nicht überall Handyempfang möglich ist."
Mich interessierte das nicht. Stattdessen merkte ich selbst, dass das merkwürdige Gefühl in meiner Brust erdrückt wurde. Mittlerweile wusste ich, dass es immer ein Anzeichen dafür war, dass ich früher oder später eine kleine Panikattacke bekam.
So konnte ich sie vorbeugen.
Durch Bewegung und starker Beschäftigung.
Wäre ich ein passabler Handwerker, dann hätte ich selbst damit angefangen die Terrasse abzuschleifen, oder in den Zimmern das Laminat auszubessern.
„Meinst du, es gibt hier Wölfe?"
Nun blickte ich über meine Schulter und bemerkte, dass Nella die Arme vor der Brust verschränkt hatte und sich immer wieder umsah.
„Sag du es mir, ich meine, du kennst den Ort doch schließlich und hast du nicht einen Universitätsabschluss?" In Britannien gab es keine Wölfe – hoffte ich zumindest. Sie fing an zu schweigen und das war mir auch ganz lieb so. Ich wollte mich nicht über irgendwelchen Quatsch unterhalten.
Nach und nach verlor ich das Zeitgefühl. Immer wieder sah ich den See und als ich, wie in Narnia, mitten im Wald eine Straßenlaterne stehen sah, musste ich schmunzeln. Dieser Duke Lankford musste wirklich Humor besessen haben. Vielleicht sollte ich mich einmal genauer über ihn informieren.
Ranken schlängelten sich um die Laterne und ich fragte mich, ob sie noch funktionierte. Statt stehen zu bleiben, ging ich jedoch weiter. Dabei bemerkte ich, dass Nella, im Gegensatz zu mir, kurz innehielt und die Laterne berührte. Es sah aus, als würde sie über etwas nachdenken. Dann stieß sie sich ab und folgte mir weiter.
Ich hörte nur das Knirschen unter meinen Füßen und genoss es. Ab und anmachte sich ein Vogel bemerkbar, aber ansonsten war es still. Selbst der Wind schwieg. Wir erreichten eine mitgenommene Brücke aus Holz, die über einen etwas größeren Back führte.
Einige Bretter waren eingebrochen und lebensmüde setzte ich meinen Weg einfach fort. Nella folgte mir und bemühte sich, genau jene Bretter zu berühren, die ich vorher auf Sicherheit geprüft hatte.
„Du bist nicht nur Ire, sondern auch irre!", beschwerte sie sich. „Eine seltene Mischung, sei stolz drauf! Bringt dich sicher schnell ins Grab."
Ihre Worte schnürten mir die Luft ab, auch, wenn sie sich dabei nichts gedacht zu haben schien. Es führte dazu, dass ich mein Tempo nur beschleunigte und sie vollkommen ignorierte. In meinen Ohren rauschte es nur noch. Ich war nach draußen gegangen, um die Welle an Panik zu ersticken, aber Nella schaffte es, dass mir es mir auch hier nicht völlig gelang, wieder frei zu atmen.
Der Pfad veränderte sich, es erschienen alte, leicht marode Steinplatten, die eine Art Treppe darstellten und einen Hang hinaufführten. Ich nahm fast zwei Stufen auf einmal. Immer schneller und bemerkte somit nicht, dass mir der Schweiß am Nacken herunterlief.
Erst, als ich nach fast fünfzehn Minuten außer Atem am oberen Ende des Hangs ankam, registrierte ich meinen keuchenden Atem. Ich sah auf eine verwahrloste Feuerstelle aus Stein und einen Ort, der zum Zelten benutzt werden konnte.
Keuchend drehte ich mich um mich selbst, sah hinauf zu den endlosen Baumkronen und schloss die Augen.
Luft. Platz. Ruhe. Kontrolle. Atem.
Mein Herzschlag beruhigte sich wieder, die Welle an Angst und Kontrollverlust verschwand. Sie wurde gedämmt. Die Welle zerfloss im großen Meer, meiner angestauten Gefühle.
Als mein Atem wieder langsamer ging, fiel mir auf, dass Nella mir nicht gefolgt war. Hoffentlich hatte ich sie endlich abgewimmelt. Denn auch wenn ich wusste, dass Nella mir nur bei Harrys Projekt helfen sollte, so wollte ich, dass sie auch genau das eben auch tat. Nicht mehr und nicht weniger.
Trotzdem glaube ich manchmal, dass sie sich nicht an den üblichen Pflichten hielt, auch wenn ich es nicht konkret benennen konnte.
Es fühlte sich nur so an.
Dabei waren meine Gefühle das Letzte, auf die ich mich verlassen würde.
Seit ich nach dem Unfall Melissa wieder getroffen hatte, verließ ich mich lieber auf Fakten und den rationalen Verstand. Vielleicht nicht die beste Entscheidung, aber die Strategie half mir halbwegs durch den Alltag zu kommen.
Ich machte auf den Absatz kehrt und nahm die Stufen wieder zurück vom Hang runter, da sich kein weiterer Pfad ausmachen ließ. Dann war die Feuerstelle zumindest die Endstation. Auf dem Rückweg bemerkte ich, dass einiges an Grünzeug beseitigt werden müsste, damit auch wirklich jeder Spaziergänger wusste, dass es sich lohnte den improvisierten, verwunschenen Stufen zu folgen.
Fast am Ende des Treppenweges sah ich auf und bemerkte, dass Antonella auf einer Stufe saß und ihren Schuh neu schnürte.
„Und ich hatte schon gehofft, du hättest dich geschlagen gegeben", machte ich mich sarkastisch bemerkbar, doch Nella sprach nur nüchtern: „Ich hätte dich geschlagen, wenn du nicht so ein mörderisches Tempo an den Tag gelegt hättest und die Körperverletzung vom letzten Mal mich nicht behindern würde."
Sie klang nicht einmal wütend und auch als ich einfach an ihr vorbei ging und sie mir humpelnd folgte, flippte sie nicht aus. Weshalb war sie mir gefolgt, wenn der Knöchel, den sie zwischen Tür und Angel gerammt hatte, immer noch nicht komplett ausgeheilt war?
Sie beschwerte sich nie und diese beschissene Haltung machte mich nur wütend und stimmte mich alles andere als versöhnlich. Bei ihrer Großmutter hatte ich schließlich auch einen Blick auf eine andere Nella werfen können.
Eine, die wahrhaftig wütend wurde und die Momente, in denen ihre Gleichgültigkeit schwand, waren mir irgendwie lieber, als wenn sie mich in Watte packte. Auch, wenn ihre Äußerungen, wie gerade eben, nicht das waren, was ich hören wollte.
Tapfer humpelte Nella bis zur Brücke, dann lehnte sie keuchend gegen das marode Gelände. Der Weg zurück war nicht gerade ein Katzensprung und ich musterte sie, dann kam mir eine Idee. Zugegeben, keine besonders nette, aber immerhin.
„Ich nehme dich Huckepack und trage dich zum Haupthaus, aber nur, wenn du mir ein paar Fragen beantwortest", erklärte ich und Nella neigte leicht den Kopf. Ich konnte förmlich sehen, wie sie nachdachte. „Ich werde dir nicht verraten, wo Harry ist."
„In Ordnung", lenkte ich ein und dann half ich ihr, auf meinen Rücken. Sie war nicht schwer, sondern überraschend leicht. Ihr langes Haar kitzelte mich, als sie die Arme um meinen Hals schlag und sich vorbeugte. Ich setzte einen Fuß vor dem nächsten und meine Nase zuckte. Nella roch angenehm, nach etwas, was ich kannte. Aber mir fiel nicht ein, nach was.
„Fang mit deinem Verhör an, dann habe ich es hinter mir", verlangte sie schließlich und ich ging direkt zum Angriff über: „Samuel Giffard, erzähl mir mehr von ihm."
„Wieso interessiert dich das?", stellte sie die Gegenfrage und statt, dass ich darauf hinwies, dass sie hier die Fragen zu beantworten hatte, erklärte ich: „Ich weiß nicht viel über dich und irgendwo muss ich anfangen."
Nella antwortete nicht sofort und als ich glaubte, sie würde es auch nicht mehr tun, sprach sie: „Sam war mein bester Freund seid der Junior School. Sein Vater und meiner sind Partner in einer Kanzlei in Liverpool."
„Das sind nur trockene Fakten, sagt aber nichts über ihn, oder dich aus", gab ich zu bedenken, als Nella damit schloss: „Das war's." Sie schnaubte, dann streifte ihr Atem meine Wange: „Na schön, okay. Wir sind nicht mehr befreundet, da wir uns gestritten haben und bevor ich die Möglichkeit hatte, mich zu entschuldigen, ist er bei einem dummen Unfall gestorben."
Damit hatte ich nicht gerechnet und stolperte leicht. Sie fuhr fort: „Ich kann dir nichts über Sam erzählen, weil... ich lange gebraucht habe, um nicht jedes Mal zu heulen, wenn ich nur an ihn denke, okay? Also nimm es mir nicht übel, wenn ich mich an Fakten halte, was Sam angeht."
Harte Worte, aber als ich darüber nachdachte, konnte ich das irgendwie verstehen. Gleichzeitig glaubte ich jedoch nicht, dass Schweigen eine gute Lösung war. „Ist das nicht irgendwie... kalt? Ich meine, er war dein bester Freund und du solltest ihn doch lebendig in Erinnerung behalten und nicht mit Fakten."
„Sagt der Typ, der Musiker ist und keine Musik mehr hört", hielt sie dagegen und prompt blieb ich stehen. Ich wollte sie herunterlassen, denn mein Herz raste. Wände glitten näher und als ich glaubte, ich müsste wieder laufen, lenkte Nella mich ab, indem sie mir gestand: „Manchmal, wenn ich das Gefühl habe, dass ich Sam wirklich vergesse, dann schaue ich mir seine selbst geschossenen Fotos an."
„Du hast welche?"
„Ich habe eine ganze Kiste, voll von Negativen und auch entwickelten und unverkäuflichen Ausstellungsstücken."
Das alles war sicher ein halbes Vermögen wert.
„Seine Bilder, sie erzählen oft alles. Wie er sich fühlte, was ihn beschäftigte und wo er mit seinem Herz gerade war", sprach Nella und ihre Stimme klang überraschend weich. „Die Kritiker hielten seine Technik für grandios, aber eigentlich gab er einen Scheiß auf Technik und hat einfach fotografiert, was ihn berührt hat. Er nannte das immer seinen fotografischen Sinn."
Ich musste grinsen. „Fotografischen Sinn?"
„Ich weiß auch, dass es sich pervers anhört", warf Nella ein. „Aber so nannte er es einfach. Manchmal verschwand er deshalb wochenlang. Dann meldete er sich nur per Kurznachricht und stand zu den unmöglichen Zeiten plötzlich vor der Tür und plünderte meinen Kühlschrank."
„Hat er mehr gefunden als Acidophilusmilch?"
Sie kniff mich in die Wange und meinte sarkastisch: „Diese Milch hilf bei der Verdauung und ist förderlich für die Darmfauna!"
„Darmfauna, was ist denn das für ein Wort! Das gibt es doch hundert pro nicht." Wir kamen vom Thema ab und ich spürte, dass die Anspannung aus Nellas Körper wich. Leider registrierte ich nicht, dass sich auch ihre Stimmlage veränderte, sobald sie über Samuel sprach.
Wir schafften es zum Haupthaus zurück, diskutierend, ob ich Sebastian beim Einkaufen bestochen hatte, oder nicht.
„Sieh dir den Hosenscheißer an, den kann man nicht bestechen", hielt ich dagegen, aber Nella meinte nur: „Ich habe das Malbuch gesehen und die Stifte, wieso sonst hättest du ihm so etwas kaufen sollen?"
Sie schien nicht auf die Idee zu kommen, dass ich auch einfach Mitleid mit dem Jungen hatte. Kaum das wir das Haupthaus erreichten, teilte Sophia Nella mit: „Dein Handy hat sturmgeklingelt, da will dich jemand wirklich dringend erreichen."
So elegant wie möglich humpelte Nella an ihr vorbei und ich schüttelte den Kopf. Sophia runzelte die Stirn: „Was hat sie?"
„Nen' Fuß- und Kopfknackst gleichermaßen."
Irgendwie hatte sie den wirklich. Ich ging in die Küche und sah Sebastian dort an einem Tisch malen. Während ich mir eine Schüssel mit Maple Loops machte, hörte ich Nella im Nebenraum reden. Neugierig lehnte ich mich gegen den Türrahmen und sah auf ihren Rücken.
„Sorry, ich war babysitten", erklärte sie und mir bleiben die Loops fast im Hals stecken. Ach, so nannte sie das also, wenn sie mir hinterherstiefelte?
„Ja entschuldige bitte, dass ich nicht hexen kann und-"
Ich schob mir einen vollen Löffel in die Backen und dann wurde ich hellhörig.
„Woher soll ich wissen, wieso sich keiner der anderen beiden hierher bequemt, es sind deine Freunde, nicht meine."
Redete sie von Liam und Louis?
„Was soll ich denn machen? Ich habe ihnen alles geschickt, wie du es mir gesagt hast. Wenn du unbedingt deinen Kopf durchsetzen willst, dann musst du mir mit einem neuen Plan kommen."
In diesem Augenblick ratterte es in meinem Kopf. Sie sprach mit Harry und die Tatsache, dass er telefonieren konnte, verriet mir, dass er sich nicht im Drogenentzug befand. Denn in einem geschlossenen Entzug durfte man keinen Kontakt zur Außenwelt haben.
Nella schwieg und schien ihm zu zuhören. Zu gerne hätte ich gewusst, was Harry ihr da vorschlug.
„Du hast einen Knall. Entschuldige, aber... das ist echt..." Dann schwieg sie erneut und schließlich legte sie mit einem Seufzer auf. Als sie sich umdrehte, zuckte sie zusammen, ganz so, als hätte sie mich nicht an der Tür erwartet.
„Wie sieht Harrys Plan B aus?", fragte ich sie direkt und grinste sie charmant und mit vollen Backen an.
„Woher willst du wissen, dass das Harry-"
„Spar's dir", unterbrach ich sie und stieß mich von der Tür ab. „Ganz so doof, bin ich auch nicht. Sag mir einfach, was er will."
Nella verschränkte die Arme vor der Brust, ihre Stirn war gerunzelt und dann sprach sie: „Du wirst es lieben."
Sarkasmus ließ grüßen. Ich hörte ihr zu und dann verschluckte ich mich. Harry hatte definitiv einen an der Waffel, doch trotzdem hatte Nella mit einem recht.
Ich liebte den Plan.
⸙ ● ⸙ ● ⸙
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top