6 Granny Baker.


【 NIALL 】


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Die kurze Nacht hatten wir in einem kleinen Gasthaus am Rande einer Provinzstadt verbracht. Ich raffte mich am Abend noch zu einer Jogginrunde auf und fiel deshalb in einen ziemlich traumlosen Schlaf.

Trotzdem war ich nach knapp sechs Stunden wieder so wach, dass ich nichts dagegen gehabt hätte, Nella dazu zu nötigen, um sieben wieder im Auto zu sitzen. Ich war gnädig und ließ ihr bis acht Uhr Zeit.

Ziemlich grummelig warf sie sich auf den Beifahrersitz und nickte nach wenigen Augenblick ein. So lange, bis ich wieder über eine hoppelige Landstraße fuhr. Trotzdem musste ich ihr zugutehalten, dass sie eine angenehme Reisegefährtin war.

Ich hörte weder: Hunger-Pippi-Kalt, noch die nervige Frage: Wann sind wir denn da?

Sie passte sich meinem Rhythmus an, ob ich Pause machte oder eben nicht.

In Holyhead besichtigten wir die nächste Immobilie und auf den ersten Blick mochte ich das großzügige Grundstück, mit viel Wiesenfläche, einem großen alten Herrenhaus, mit hohen Fenstern und viel Raum etwas zu verändern.

Der aalglatte Makler pries uns das Grundstück dermaßen an, dass ich mich prompt überzeugt fühlte. Es war hell, freundlich und bereits modernisiert. Auf den großen Wiesen konnte man viel bauen. Spielplätze, Grillstellen und sicher auch einen großen Pool. Für den Winter würde mir bestimmt auch noch etwas einfallen.

Der übereifrige Makler ließ uns allein und Nella warf einen Blick auf die Verträge. Schweigend hockten wir auf den Steinstufen, die direkt zur großen Wiese führten. Ich nippte genüsslich an meiner Coke, während Nella ihre nicht anrührte.

Sie war eine komische Frau.

Obwohl ich jetzt zwei volle Tage mit ihr verbracht hatte, kam es mir vor, als würde ich sie kein Stück besser kennen als an jenem Tag, als sie mich nach dem Weg gefragt hatte. Ihre Nüchternheit und diese schreckliche Beherrschung, ich fragte mich, ob sie wirklich immer so war. Selbst privat. Professionalität hin oder her, das musste man privat doch ablegen, oder?

„Ich würde nicht unterschreiben", riss sie mich schließlich aus meinen Überlegungen und ich ließ die Coke sinken: „Wieso nicht?"

Nella ordnete die Verträge und erklärte zusammenfassend: „Du darfst hier nichts verändern, also die Wiese muss so bleiben. Dann fließen 30 Prozent der Einnahmen, egal was du hiermit machst, in die Stadtkasse, was sicher nicht in deinem Sinn steht. Und jetzt einmal ehrlich, Niall, ich finde den Ort nicht sehr passend für Kinder. Er ist immer noch zu imposant. Wenn es zumindest an eine Burg erinnern würde, dann in Ordnung. Aber das hier schüchtert Kinder ganz sicher immer noch ein. Trotz hoher Fenster, Licht und Helligkeit. Außerdem würden sich die Familien bestimmt nicht wohl fühlen. Zu viel Luxus, eine ganz andere Welt eben."

Sie sah mich eindringlich an und ich drehte den Kopf, sodass ich auf die Fassade blickte. Nella gelang es spielend leicht, meine Aufmerksamkeit auf die wichtigen Details zu lenken, denn sie hatte Recht. Ich hatte nur gesehen, wie fertig, renoviert und modernisiert das alles doch war.

„Du kannst es gerne kaufen", sprach sie weiter, doch ich schüttelte den Kopf: „Nein. Hat sich erledigt." Ich seufzte und stand schwerfällig auf, dann nahm ich ihr die Verträge ab und ging ins Innere.

Dort reichte ich dem Makler alles zurück und ließ ihn wissen, dass sein Vorzeigeprojekt nicht ganz das war, was ich gesucht hatte.

Es dauerte lange diesem eifrigen Vermittler davon zu überzeugen, dass ich nicht mehr drüber nachdenken würde. Mir wurde klar, dass Harry sehr weitschauend gedacht hatte, denn ohne Nella würde ich definitiv einen Fehler nach den nächsten machen. Trotzdem behagt es mir nicht, dass sie mir weiter verschwieg, wo Harry war und ob ich wirklich ernsthafte Gründe hatte mir Sorgen zu machen.

Denn das tat ich.

Immer wieder fragte ich mich, ob ich tatsächlich etwas bei Harry übersehen hatte. Kleine Details, bei denen mir die Hutschnur hätte hochgehen müssen. Der Makler fing an mir auf die Nüsse zu gehen indem er noch einmal alle Vorteile hervorhob und betonte, dass es ein einmaliges Schnäppchen sei.

Schließlich drückte ich ihm energisch die Verträge zurück in die Hand und sprach: „Danke für die Zeit." Und drehte mich wieder um.

Draußen wollte ich Nella erklären, dass ich weiterfahren wollte, um vielleicht noch bis Durham zu kommen. Auch, wenn das sehr unwahrscheinlich war, bei dem Tempo, dass ich an den Tag legte.

Ich hörte, dass Nella telefonierte und sah, dass sie unruhig auf und ab ging. Ihre Miene war ernst, sehr angespannt. Immer wieder hörte ich sie nur knapp 'Ja' und 'Ich verstehe' sagen. Als sie schließlich auflegte, blickte sie mich nervös an.

„Niall, würde es dir etwas ausmachen, wenn wir zuerst in Carlisle vorbeifahren und dann nach Durham?"

Verwirrt runzelte ich die Stirn: „Liegt das nicht Nordwesten? Durham ist im Nordosten."

Sie nickte unsicher: „Ich weiß, aber ich müsste wirklich dringend nach Carlisle."

Ich schob meine Hände in die Jeanstaschen und musterte sie: „Wieso?"

„Meine Granny wird in ihrer Senioren-Residenz sexuell belästigt."

Abgesehen von der Belästigung, schockte mich zeitgleich die Tatsache, dass jemand das reizende Wort Senioren-Residenz überhaupt in den Mund nahm. Wieso sagte sie nicht einfach Altenheim?

„Bitte, ich will diesen Schweinehund ernsthaft auf den Zahn fühlen. Das geht nicht, dass sich dort jemand an alte Leute vergreift!" Sie klang so entschlossen, dass ich schließlich mit den Schultern zuckte und einknickte.

Ich wollte schließlich nicht für das zerbrochene Seelenheil einer alten Dame angeklagt werden. „Na schön, von mir aus."

Dankbar lächelte sie mich an und eilte erstaunlich schnell zum Auto. Weg war ihre Gelassenheit. Wir waren kaum eine Stunde aus Holyhead raus, als sie mir ernsthaft auf die Nerven ging, indem sie mit den Fingern einen unruhigen Takt auf die Tasche auf ihrem Schoss trommelte.

„Wie ist deine Grandma so?", begann ich mitten im Hörbuch ein Gespräch, denn scheinbar würde sie sich sowieso nicht auf Karin Slaughter und 'Gottlos' konzentrieren können.

Nella hörte auf, auf ihrer Unterlippe herum zu kauen und neigte leicht den Kopf: „Sie ist... etwas eigen, aber eine großartige Lady. Ich habe fast sämtliche Schulferien bei ihr verbracht, da meine Eltern immer dann zu wichtigen Geschäftsreisen mussten. Im Moment ist sie noch recht fit und hat sich von einem Sturz im Winter gut erholt. Ich schwöre, sollte wirklich etwas daran sein, dass ein Pfleger ihr zu nahegetreten ist, dann werde ich den so lange verklagen, dass seine Enkel noch etwas davon haben!"

Sie stieß weitere Verwünschungen aus. „Meine Eltern kümmern sich nicht richtig drum, ist ihnen wohl zu lästig. Am liebsten würde ich sie nach London holen, aber sie liebt es in Carlisle und meint die Luft wäre gut für ihren Tein und beugt weitere Falten vor."

Ich musste grinsen und Nella empörte sich: „Das ist nicht witzig! Die Luft ist dort nicht viel besser als in London! Aber sie ist sehr stur. Außerdem raucht sie, obwohl der Arzt ihr gesagt hat, dass sie das lassen soll."

Fast fünf Stunden später erreichten wir am Nachmittag schließlich die Stadt Carlisle und ich bog zum Seniorenheim ab. Alleine der Name 'Rosengarten Grafschaft' hätte mir bereits verklickern müssen, dass ich es nicht mit einem normalen Altenheim zu tun kriegen würde.

Und in der Tat, alles kam mir wie eine gehobene Preisklasse vor. Hier wurden die Menschen in Würde und Annehmlichkeiten alt. Bänke, Bäume, Blumenbeete, soweit ich gucken konnte, begrüßten uns.

Ein Anwesen war umgebaut worden und als ich parkte schwang Nella hektisch die Beine aus dem Auto. „Du kannst hier warten, wenn du willst."

„Nein", widersprach ich. „Ich will dabei sein, wenn du das Anwaltsgetue auspackst."

Ihre gleichgültige Miene blieb. Dann rauschte sie voran und ich hatte Mühe und Not ihr zu folgen. An der Rezeption meldete Nella uns knapp an, dann wandte sie sich ab und schien den Weg zu den Räumen ihrer Großmutter genau zu kennen.

Die Flure waren hell und einladend. Irgendwo hörte ich Musik und der eine oder andere Greis humpelte an uns vorbei. Jedes Mal grüßte Nella freundlich, allerdings hörte sie sich sehr gepresst an.

Als sie vor Zimmer 210 stehen blieb, wäre ich fast in sie reingelaufen. Sie klopfte und riss innerhalb von Sekunden die Tür auf. Als Erstes erkannte ich eine alte Dame, mit toupierten weißen Haaren, in einem eleganten Blümchenkleid und mit einem Gesicht, das über und über mit Falten überzogen war.

Doch die strahlenden blauen Augen konnten nicht leugnen, dass sie noch immer auf jedes Detail in ihrer Umwelt zu achten schien. Sie saß in einem Sessel und beugte sich über ein Schachbrett. In der linken Hand hielt sie elegant eine Zigarette.

„Mach sofort die verdammte Kippe aus!", herrschte Nella ihre Großmutter barsch an, doch die Alte verzog nur strahlend das Gesicht: „Honigbienchen, du bist aber flott! Ich habe erst morgen mit deinem Besuch gerechnet."

Ohne Umschweifen rauschte Nella auf die Dame zu, nahm ihr die Zigarette aus der Hand, warf sie aus dem Fenster und schnappte sich die frisch geöffnete Packung. „Dr. Norton hat dir gesagt, dass du das lassen sollst. Wie bist du nur wieder darangekommen?"

Sie musterte ihre Großmutter prüfend. „Hast du dem alten Sherman wieder schöne Augen gemacht?"

Schmunzelnd schloss ich die Tür und betrat das große Zimmer. Amüsiert beobachtete ich, wie die alte Lady empört das Gesicht verzog: „Ach Honigbienchen, wo denkst du nur hin! Als wenn eine Dame in meinem Alter noch äugeln könnte."

Oh, ich traute ihr zu, dass sie das in der Tat noch sehr gut konnte. Nella schien das genauso zu sehen, denn ihre Augen verzogen sich zu misstrauischen Schlitzen.

„Komm, Honigbienchen, lass dich erst einmal anständig begrüßen", sie zog Nella in eine herzliche Umarmung und musterte sie dann: „Isst du auch vernünftig?"

„Ja, natürlich Granny. Ich habe sogar fünf Pfund zugenommen seit ich das letzte Mal hier war", Nella schien sich nicht mit Geplänkel aufhalten zu wollen, denn sie fragte prompt: „Wer ist der Pfleger, den man melden sollte?"

„James Green, so ein unfreundlicher Bursche."

Ich sah mich um und verlor den Faden zwischen Enkeltochter und Großmutter. Stattdessen musterte ich das große Regal an der Wand, dass vollgestopft mit Büchern, Schallplatten und Fotoalben war.

Unauffällig versuchte ich mich in Luft aufzulösen und sah schließlich auf die andere Wand, wo sorgfältig hinter Glas, kräftige Fotos zu sehen waren. Doch bevor ich sie genauer in Augenschein nehmen konnte, riss Nella meine Aufmerksamkeit an sich.

„Granny, das ist Niall, ich lasse ihn ein paar Minuten bei dir, damit ich mir diesen Green vorknöpfen kann. Niall, meine Granny Scarlett Editha Baker. Ich bin gleich wieder da."

Und da ließ sie mich einfach stehen. Sie lieferte mich quasi selbsterklärend der Löwenhölle aus.

Kaum hatte Nella leise die Tür hinter sich geschlossen, bemerkte ich den wachen Blick der alten Dame auf mir. Sie musterte mich, dann sprach sie: „Und wer genau bist du, ihr neuer Gigolo? Bezahlt sie dich zumindest anständig?"

Ich grinste breit. „Nein, kein Gigolo."

Die alte Dame schnippte enttäuscht mit dem Finger: „Tz, dabei würde ihr das sicher ganz gut tun. Nun denn, kannst du die unterste Schublade der Kommode dort, aufmachen?"

Natürlich kam ich dem nach und blickte schließlich auf eine neue Schachtel Zigaretten. Wortlos reichte ich sie Mrs Baker und zum ersten Mal sah ich die großen Bilder richtig. Sie hatten einen besonderen Stil, eine erstaunliche Klarheit, dass ich sicher war, sie irgendwoher zu kennen.

Eins zeigte ein weites Kornfeld, in dem ein Mädchen tanzte. Das andere zeigte hohe Berge, die sich in einem See spiegelten. Beides wirkte zum Greifen nahe, so als würde man die Welten durch das Glas hindurch berühren können.

Nikotingeruch stieg mir beißend in die Nase.

„Also Jüngelchen, wenn du kein Gigolo bist, dann behandle mein Honigbienchen gut, ja?"

Ich wandte mich ab und räusperte mich: „Mrs Baker, ich glaube, Sie missverstehen da etwas."

„Ach, verkauf mich nicht für dumm", wehrte sie sofort ab und schwang elegant die Hand mit der Zigarette. „Nella würde dich wohl kaum mit hier herbringen, wenn du nicht jemand wärst."

Bevor ich jedoch das Detail korrigieren konnte, nickte sie mit dem Kinn auf die Bilder an der Wand. „Die sind großartig, nicht?"

Ich drehte mich leicht. „Ja. Mir kommen sie allerdings bekannt vor."

Mrs Baker kicherte: „Die gibt es nur einmal, und zwar bei mir. Das hat mir der Samuel versichert."

„Samuel?", fragte ich verwirrt und die alte Lady nickte: „Ja, Samuel, ein wirklich netter Junge."

Ich trat näher an die Bilder ran und dann konnte ich ganz unten rechts die kleinen Initialen SCG erkennen. Nun riss ich die Augen auf: „Das sind Bilder von Samuel Charles Giffard?" Ungläubig sah ich, wie die alte Dame nickte.

Natürlich war mir der Name ein Begriff, denn Samuel Charles Giffard war ein junger aufstrebender Fotograf, den die Kritiker regelrecht in den Himmel gehoben hatten. Ich war ihm nie persönlich begegnet, aber ich wusste, dass er je für Ed Sheeran und Taylor Swift ein Album-Cover geschossen hatte.

Giffard machte keine Massenaufträge, sondern immer nur ein Foto. Damals hatte Ed mir oft die Ohren vollgejammert, dass er zwar restlos begeistert von seinem Bild war, aber unglaublich gerne ein weiteres gehabt hätte.

Ich konnte es nachvollziehen, denn als ich das Cover gesehen hatte war mir klar geworden, dass Giffard hundertprozentig Ed eingefangen hatte, so wie er tatsächlich war.

„Mein Freund, Liam, er hat zu Hause auch ein Bild von Samuel Giffard. Es zeigt London von oben und hat ihn ein halbes Vermögen gekostet."

Mrs Baker lächelte: „Ja, der Samuel wollte immer, dass es seine Bilder nur einmal gibt. Sie sollten einzigartig sein und meistens hat er es gehasst Menschen zu fotografieren. Aber bei meinem Honigbienchen hat er gerne eine Ausnahme gemacht."

Sie zeigte mit dem knochigen Zeigefinger auf das dritte Bild und ich beugte mich vor. Ich erkannte ein Mädchen, dass bis zu den Knöcheln im Wasser stand und mit dem Finger versuchte die Wasseroberfläche zu berühren.

Auf der Oberfläche spiegelte sich der Himmel so klar wieder, dass man hätte meinen könnten, Giffard hätte das Bild nach bearbeitet. Aber das tat er nicht, denn es war ein besonderes Merkmal seiner Arbeit.

„Ist das-"

„Mein Honigbienchen", erklärte die alte Mrs Baker stolz. „Sie hat ihm jedes Mal fast den Kopf abgerissen, aber der Junge mochte es immer schon sie auf die Palme zu bringen."

Ich konnte mir Nella kaum dabei vorstellen, wie sie sich überhaupt fotografieren ließ. Sie wirkte nicht wie der Typ, der für künstlerische Dinge etwas übrighatte.

Schnell paffte die alte Dame ihre Zigarette aus und wies mich dann an, sie aus dem Fenster zu werfen. Grinsend wurde ich ihr Komplize und auch keine Minute zu spät, denn die Tür knallte erneut auf.

Sowohl Mrs Baker als auch ich zuckten zusammen, als wir Nella im Türrahmen stehen sahen. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und ihre Augen funkelten angriffslustig. Die eisige Kälte in ihnen, machte es nur noch gruseliger.

„Granny, ich habe gerade etwas unglaublich Lustiges erfahren", sprach sie so ruhig, dass mir ein Schauer über den Rücken lief.

„So, was denn?", spielte Mrs Baker eindrucksvoll mit und Nella erklärte: „Hier arbeitet überhaupt kein James Green."

„Na so etwas", tat die alte Frau erschrocken. „Ja, dann werde ich wohl etwas durcheinandergekommen sein. So etwas kann in meinem Alter schließlich passieren." Sie lächelte. „Aber jetzt, wo ihr schon einmal hier seid, könnt ihr ja mit mir ein Tässchen Tee auf der Sonnenterrasse trinken, nicht wahr?"

Sie sah mich treuherzig an und ich knickte sofort ein. Langsam verstand ich, was Nella damit meinte, dass ich mich in Acht nehmen sollte. Denn plötzlich hatte ich es überhaupt nicht mehr eilig nach Durham zukommen.

Nella seufzte und sah mich abwartend an, dann sprach ich: „Wir haben Zeit. Durham eilt nicht." Dankbar nickte sie und half sie ihrer Granny aus dem Sessel. Mit einem edlen Stock schlurfte die alte Frau voran und überraschte mich, dass sie selbst schlendern in einem eleganten Zustand konnte.

Sie führte uns zur Sonnenterrasse und als wir uns in große Korbstühle setzten, eine heiße Tasse Tee vor uns hatten, fragte Mrs Baker: „Was wollt ihr zwei jungen Leute denn in Durham?"

„Wir sind auf der Suche nach einem geeigneten Grundstück für ein Camp für benachteiligte Kinder aller Art", sprach ich und begann ihr schließlich von dem Projekt, was sich zwar noch vage anhörte, aber durch Nella schriftlich in richtiger Form gerückt werden sollte, zu erzählen.

Aufmerksam und sichtlich interessiert hörte sie mir zu. Stelle Fragen und schien sich überhaupt nicht darüber zu wundern, woher ich eventuell das Geld dafür hätte. Langsam wurde mir bewusst, dass Nella aus einer eher gehobenen Schicht kam.

Allein die Unterbringung der alten Dame dürfte ein halbes Vermögen kosten. Es erklärte die Steifheit in Nellas Charakter und die Art sich zu bewegen.

„Wieso fahrt ihr denn dafür bis nach Durham? In Carlton's Mills gibt es doch den Kenwood Park, der zum Verkauf angeboten wird." Mrs Baker blickte von mir zu Nella und letzte runzelte die Stirn: „Kenwood Park wird verkauft? Aber wieso, ich dachte Duke Lankford wollte niemals ein Stück seiner Ländereien zum Verkauf anbieten."

Mrs Baker nippte an ihrem Tee: „Der gute Lankford ist vor vier Monaten verstorben und in seinem Testament hat er einige Dinge festgehalten, die es seinem Sohn schwer machen, Kenwood Park an den Mann zu bringen."

„Weißt du auch was?", wollte Nella plötzlich sehr interessiert wissen und ihre Granny erklärte etwas davon, dass Kenwood Park nur im ganzen Stück verkauft werden dürfte, aber niemand so viel Land besitzen wollte. Würde man es aufteilen, dann gäbe es saftige Grundstückspreise.

„Außerdem darf die Natur nicht wahllos zerstört werden. Große Bauarbeiten sind demnach nicht in Kenwood Park gestattet."

Ich sprach: „Dann ist es ja kein Wunder, dass niemand kaufen will."

Nun sah mich Mrs Baker vorwurfsvoll an: „Mein lieber Junge, du hast Kenwood Park noch nicht gesehen. Da gibt es nichts einzureißen und aufzubauen."

Nella neigte den Kopf und meinte: „Wir könnten uns Kenwood Park wirklich einmal ansehen."

Ich zuckte mit den Schultern, mir war es egal. Durham müsste eh bis zum nächsten Tag warten. Wieso also nicht. Demnach telefonierte Nella kurz darauf mit einem weiteren Makler und machte den Termin für den Abend aus.

„Es wird dir gefallen", prophezeite mir Mrs Baker zwinkernd. „Der Ort ist herrlich und ich verstehe nicht, wie man so ein hübsches Fleckchen Erde überhaupt verkaufen kann."

Ich schon, denn oft war viel Land mit enormem Aufwand verbunden. Deshalb hatte ich ein eher Bescheidenes zu Hause. Irgendwer musste es schließlich in Schuss halten und ich hatte definitiv keine Lust ständig irgendwelche Putzen im Haus zu haben.

Als die Bewohner der Rosengarten Grafschaft zum Abendessen gerufen wurden, verabschiedete Nella ihre Granny und versprach: „Ich komme dich sehr bald wieder besuchen, aber bitte behaupte nie wieder, man hätte hier sonst was für einen Unsinn mit dir getrieben."

Mrs Baker kicherte: „Ehrenwort." Doch ich war mir sicher, sie ließ sich nächstes Mal einen anderen Trick einfallen.

„Lass deinen Gigolo nicht gehen, Honigbienchen!", rief sie noch zum Abschied und Nella griff sich an die Stirn.

„Sag nichts!", sprach sie an mich gewandt und meine Mundwinkel zuckten. Als wir schließlich zum Auto gingen, fragte ich: „Was hat es eigentlich mit diesem Gigolo-Gehabe auf sich, musst du was beichten?"

Sie schüttelte den Kopf und stellte das Navigationssystem ein. „Nein, es ist ein Witz, den meine Brüder einmal gemacht haben, weil ich so wenig ausgehe. 'Nella wird sich noch mal einen Gigolo mieten, damit wir nicht auf falsche Gedanken kommen' blabla", äffte sie Stimmen trocken nach. „Denk dir nichts dabei."

Ich sagte besser nicht, dass es alles eher herzlich und liebevoll klang. Stattdessen lenkte ich den Wagen auf die Straße und dann fiel mir noch etwas ein: „Du bist mit Samuel Giffard befreundet?"

Überrascht sah Nella mich an und gestand: „Ich war es, warum?"

„Wie ist er so?", wollte ich wissen und dann beobachtete ich etwas Merkwürdiges. Nella nahm den Blick von mir und sprach: „Ich möchte nicht drüber reden."

Eine klare und unmissverständliche Ansage. Verwirrt von dieser Reaktion entschied ich nicht weiter nachzubohren und mich auf die Straße zu konzentrieren. Es klang, als hätten sie sich gestritten, aber okay, dass ging mich vielleicht auch überhaupt nichts an.

Fast über eine Stunde brauchten wir, um das kleine altmodische Städtchen Carlton's Mills zu erreichen. Überall konnte ich winzige Geschäfte erkennen und unverwechselbaren Charme. Eine Kneipe, einen Lebensmittelladen, vereinzelte Kleidungsgeschäfte, eine Buchhandlung – nichts schien es im Überfluss zu geben.

Vor einem schiefen Backsteinhaus ließ ich Nella raus und ich nahm mir die Zeit, um das winzige Rathaus zu mustern. Hier wollte der Makler ihr die Schlüssel geben, oder auch der Verwalter. Je nachdem wie man den alten, ruppigen Arbeiter in Jeans und verwaschenen Hemd nennen wollte, der mit Nella wieder herauskam.

Sie knallte die Autotür zu und erklärte: „Wir können über Nacht sogar bleiben. Im Haupthaus gibt es laut Burt Strom und fließendes Wasser. Nur sollen wir daran denken, dass Tor wieder richtig zu schließen."

Ich nickte abwesend und dann führte uns eine schmale Straße aus Carlton's Mills hinaus. Begleitet von viel Wald und Natur dauerte es fast zwanzig Minuten, bis wir vor einem Tor stehen blieben. Zusammen stiegen wir aus und schoben das schwere Eisentor auf.

Und als ich mich umdrehte, erstarrte ich.

Rechts von der schmalen Straße erstreckte sich ein klarer See hinter dem Berge in den Himmel ragten. Sie spiegelten sich im Wasser und dann wurde mir klar, wo Samuel Giffard das Foto von Nella gemacht hatte. Sie war schon einmal hier gewesen und die Farben des Bildes passten exakt zum Anblick, der sich mir nun bot.

Die Abendsonne färbte das Wasser und als ich nach links sah, erstreckte sich ein verwildertes Waldgebiet. Doch angezogen wurde ich von dem See und machte einen Schritt in das Gelände rein. Sprachlos ließ ich den Anblick auf mich wirken und hörte kaum, dass Nella neben mir getreten war.

„Schön, nicht wahr?"

„Unglaublich", verbesserte ich sie.

Vor mir erstreckte sich ein Paradies und noch bevor ich das komplette Grundstück gesehen hatte, wusste ich: Ich war angekommen an einem Ort, der sich anfühlte, wie ein Stück vom Himmel.




⸙ ● ⸙ ● ⸙

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