4 Der Fall Horan.
【 NIALL 】
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„He... da ist jemand... hier... der Junge dort... Vorsicht."
Schmerzen. Unendliche Schmerzen. Innerlich zerriss es mich.
„Hörst du mich? ... hey... bleib hier... wach..."
Es war dunkel und kalt. Ich wollte, dass es aufhörte. Alles.
„Macht den Krankenwagen fertig! Dr. Dever... Puls... schwere innere Verletzung."
Ich spüre Hände, hörte Stimmen, aber sie waren so unendlich weit weg.
„Lasst... Hubschrauber... Not-OP... jetzt!"
Jemand musste ihnen sagen, dass dort noch jemand ist. Irgendjemand musste den anderen Jungen sehen. Doch ich schaffte es nicht. Stattdessen fiel ich in ein tiefes Loch.
Falle und falle und falle.
Geschockt riss ich die Augen auf und starrte an meine dunkle Schlafzimmerdecke. Mein Atem ging unregelmäßig und sofort setzte ich mich aufrecht hin. In mir drehte sich alles.
Als ich keuchend am Rande meines Bettes saß und versuchte meinen Atem zu beruhigen, bemerkte ich, dass ich klatschnass geschwitzt war. Der Schweiß lief mir noch an der Schläfe runter und ich wischte ihn mir mit der Hand fort.
Ganz ruhig. Ich war zu Hause, nicht im Krankenhaus. Mir ging es soweit wieder gut, ich-
Innerlich stoppte ich, dann rieb ich mir mit beiden Händen über das Gesicht.
Es war nicht das erste Mal, dass mich der Tag des Unfalls heimsuchte. Die Alpträume blieben gegenwärtig, besonders, wenn ich es nicht schaffte mich kontinuierlich zu beschäftigen, sodass ich dermaßen erschöpft ins Bett fiel, um mir keinerlei Gedanken mehr zu machen.
Wäre ich heute doch nur wieder laufen gegangen.
Mit zittrigen Beinen erhob ich mich vom Bett und schritt in der Dunkelheit in das angrenzende Bad. Dort machte ich Licht und begann mich auszuziehen. Doch bereits nachdem ich mir das Shirt über den Kopf gezogen hatte, blieb mein Blick unweigerlich am wandgroßen Spiegel hängen.
Je angestrengter ich diesen Blick ignorierte umso öfter knickte ich ein und sah, was ich nicht sehen wollte. Nämlich die Narben, die mich seit fast zwei Jahren begleiteten. Die an meinem Bein machte mir nichts aus.
Ich hatte schließlich schon vorher eine am Knie gehabt. Auch mit den zwei an meinem linken Arm konnte ich leben, sowie die am Kopf, die ich nur ertastete, wenn ich mir die Haare wusch.
Was mich fertig machte waren die drei Narben auf meiner Brust.
Brutal, sichtbar und auffällig.
Die Erste zog sich durch die Mitte meines Brustkorbes, die Zweite ging über meine linke Rippenseite entlang und die Dritte fast zwanzig Zentimeter an der Seite entlang. Sie waren die Erinnerung daran, dass ich nicht mehr ich war.
Mit viel Überwindung wandte ich mich ab und trat in die Dusche. Ich stellte das Wasser eiskalt ein und schloss die Augen. Früher hatte ich das nicht gekonnt, aber heute brauchte ich die Kälte, um mich zu beruhigen.
Erst als meine Hände zitterten stellte ich den eisigen Strom aus und schlüpfte in meine Boxershort. Nachlässig rubbelte ich mir die Haare mit einem Handtuch trocken und schritt durch den Flur. Vorher holte ich mir aus dem Schlafzimmer ein frisches Shirt und automatisch führte mein erster Weg mich in die Küche.
Aus reiner Gewohnheit machte ich den Kühlschrank auf und sah hinein, obwohl ich wusste, dass mir nicht nach Essen zumute war. Stattdessen schnappte ich mir eine Cola. Koffein hin oder her, ich schlief so oder so schlecht.
Als ich die Dose mit einem lauten 'Klack' öffnete, starrte ich auf die vielen Medikamente auf meiner Theke, die ich nun jeden Tag nehmen musste. Am Anfang hatte ich sie beinahe jedes Mal vergessen. Die Zeit nach der Transplantation war furchtbar und auch heute lief mir eine Gänsehaut über den Rücken.
Würde ich aufhören die Medikamente zu nehmen, dann starb ist.
So einfach war das.
Zum Glück hatte es Liam gegeben, der mir mit allen Mitteln unter die Arme gegriffen hatte.
Trotzdem war es seit einem Jahr komisch zwischen uns, so als wären wir Fremde. Doch ohne ihn wäre ich nachlässig geworden und hätte das noch nicht einmal schlimm gefunden.
Ich drehte die Dose in den Händen und ging ins Wohnzimmer, dort machte ich per Fernbedienung mehre kleine Lampen an und ließ mich auf die Couch fallen. Dann lauschte ich der Stille und in dieser Stille wollte ich mich verlieren. Einfach nur um mich selbst zu beruhigen.
Stattdessen hörte ich es.
Meinen Herzschlag.
Nein, nicht meinen, sondern der eines Fremden.
In meinem Kopf rauschte es. Mir wurde schlecht, regelrecht übel. Dann abwechselnd heiß und kalt. Ich bemerkte gar nicht, dass sich meine Haltung prompt anspannte, jeder Muskel zum Zerreißen gespannt war und ich wieder Probleme hatte, richtig durchzuatmen.
Dieses fremde Herz sorgte dafür, dass ich weiter da war, weiter existierte. Aber gleichzeitig bedeutete das, dass ich eigentlich tot war und auch gewesen sein musste zu der Zeit als man mein Herz quasi ausgetauscht hatte.
Ich hasste es daran zu denken, dass ich tatsächlich einen Schritt auf die andere Seite gemacht hatte. Denn ich hatte das Gefühl als könnte ich mich an etwas erinnern.
Da war viel Licht gewesen, Wärme und zwei Hände auf meinen Rücken, die mich geschubst hatten. So als wollte jemand, dass ich einen Schritt zurück auf die andere, lebende Seite machte.
Nie hatte ich mit irgendjemanden darüber gesprochen. Weder mit meinen Eltern noch mit meinen besten Freunden. Denn es war mir zu absurd und surreal vorgekommen.
Ich sah weiter an die Decke und versuchte den faden Beigeschmack zu ignorieren. Allgemein war es ein großer Teil meines Lebens geworden alles zu ignorieren von dem ich wusste, das sich etwas falsch anfühlte. Es waren unzählige Kleinigkeiten und nichts daran konnte ich ändern.
Leicht neigte ich den Kopf und sah auf die drei Gitarren, die an der Wand lehnten und nur darauf warteten, dass ich sie zur Hand nahm. Seit sechs Monaten, auf den Tag genau. Seit die letzte Tour zu Ende gegangen war, hatte ich nicht mehr gespielt.
Ich hasste es.
Das war das Tragische. Ich hasse die Musik, ganz egal, ob es die eigene war oder die von anderen. Radio hören, meine Anlage benutzen, mit den Jungs zu arbeiten, dass alles zerriss mich innerlich.
Dabei wollte ich nichts anderes, als es wieder so zu lieben, wie ich es einst getan hatte. Ich wusste, dass es nichts gegeben hatte, was ich je mehr liebte. Keine Frau der Welt, hätte es mit dieser Liebe aufnehmen können.
Melissa.
Immer, wenn ich an sie dachte, dann atmete ich tief durch und war erleichtert. Ganze zehn Monate hatte sie es nach dem Unfall an meiner Seite ausgehalten. Dann hatte sie die Wahrheit offen ausgesprochen.
„Du liebst mich nicht mehr."
Ich leugnete es nicht.
Denn seit unserer ersten Begegnung nach dem Unfall hatte ich es gewusst. Das Gefühl für sie. Es war einfach weg. So sehr ich mich auch bemühte, trotzdem blieb es aus.
Herzklopfen.
Das war der erste Verlust von vielen.
„Genug zerdacht", sprach ich mit mir selbst und blickte auf den Ordner auf meinem Wohnzimmertisch und den Umschlag, der daneben lag. Diese junge Anwältin, sie hatte mich erneut belästigt und ich war versucht das meinem eigenen Anwalt zu überlassen.
Was mich davon abhielt war die Tatsache, dass sie für Harry arbeitete und ich wollte mich nicht mit ihm streiten.
Er war ein guter, wenn auch nerviger Kerl und in den letzten Tagen wunderte ich mich schon, warum er nicht mehr vorbeikam. Die Presse munkelte irgendetwas von Drogenentzug, aber das glaubten sie ja wohl selbst nicht.
Harry war der Typ, der alle sechs Monate eine Saftkur machte, der Obst und Gemüsetage einhielt und nur Apfelsaft und Wasser trank. Ich hatte ihn noch nie mit einer Cola oder Eistee gesehen. Höchstens einem Bier auf Partys.
Ich nahm den Umschlag und die darin verstauten Unterlagen wieder in die Hand. Natürlich war erneut ein dämlicher blauer Brief dabei.
Im Ersten hatte Harry mich darum gebeten eine Organisation auszusuchen oder eine Idee auszuarbeiten, quasi für einen guten Zweck. Persönlich und vom Herzen sollte es kommen.
Ich hatte das schnell hinter mich bringen wollen und an Save the Children fand ich nichts Falsches. Diese nervige Anwältin allerdings umso mehr. Ein Schreiben war zurückgesegelt in dem stand, dass ich die Aufgabe mangelhaft erfüllt hatte.
„Da ist nichts Persönliches zu finden", gab ich ihre schriftlichen Worte kindisch wieder. In Harrys zweiten Brief stand nur, dass ich mir doch bitte Mühe geben sollte und es nicht schaden würde, wenn ich mir ein paar Gedanken machte.
Gutes zu tun sei schließlich keine Diplomarbeit. Er wies darauf hin, dass der zugewiesene Anwalt, was in diesem Fall wohl diese nervige Miss Baker war, mir auch bei der Umsetzung Hilfe garantieren würde.
Ich raffte das nicht.
Wenn er so versessen darauf war, dass dieses was-auch-immer-gut-Mensch-Projekt umgesetzt wurde, wieso arbeitete er da nicht selbst dran? Was hielt ihn davon ab?
Louis hatte bei unserem letzten Telefonat nur gelacht und gemeint, ich sollte es aussitzen, während Liam nicht einmal gewusst hatte, wovon ich sprach. Er wäre seit Wochen nicht mehr in England gewesen.
Ich ließ den Ordner liegen, machte den Fernseher an und schaltete die BBC News an. Dann ging ich in die Küche und begann mir ein Sandwich zu schmieren. Mit halbem Ohr höre ich dem Nachrichtensprecher zu. Zuerst ging es um weitere Nah-Ost-Konflikte, nichts, was mich brutal gesagt interessierte. Dann wechselten sie das Thema.
»Die anhaltenden Gerüchte darüber, dass der britische Sänger, Harry Styles, ein bekanntes Mitglied der Band One Direction, sich wegen einem Drogenentzug in eine Klinik einweisen ließ, halten sich hartnäckig.«
Wann hielten sich Gerüchte nicht? Ich kramte im Kühlschrank nach Mayonnaise und suchte dann nach einem Löffel, um den Rest auszukratzen.
»Jetzt sind Fotos aufgetaucht, auf denen sich dieses Gerücht bestätigt.«
Was?
Ich ließ das Messer fallen und stürzte ins Wohnzimmer. Die verarschten uns doch. Gebannt sah ich auf den Fernseher und es wurden in der Tat Bilder eingeblendet, die Harry dabei zeigten, wie furchtbar mitgenommen, blass und fertig versuchte einen Paparazzo die Kamera zu entwenden.
Dann erschienen Aufnahmen, auf denen man ihn etwas unscharf erkannte und dazu das Schild einer Drogenentzugsklinik.
»Laut seriösen Quellen habe sich der Sänger selbst eingeliefert. In den letzten Monaten war es ruhig um Harry Styles gewesen. Jetzt ist herausgekommen, dass es nicht an seinem Lebenswandel lag, sondern einer starken Abhängigkeit bezüglich Medikamente, Alkohol und den hohen Missbrauch von Heroin.«
Das war doch Schwachsinn! Harry würde nie-
Es wurden erneut die Bilder vom Anfang gezeigt und ich musste hart schlucken. Er sah unheimlich fertig aus und konnte ich hundert prozentig behaupten, dass er absolut clean war?
Ich dachte an die Tage, als er bei mir aufgekreuzt war und furchtbar müde ausgesehen hatte. Und hatte er sich nicht manchmal schmerzend das Knie gehalten, wenn er aufgestanden war? Gelenkschmerzen waren doch ein Hinweis auf Missbrauch von Aufputschmittel, oder warf ich nun etwas durcheinander?
»Wünschen wir Harry Styles nun nur das Beste«, schloss die blonde Nachrichten-Tussi. Dann wandten sie sich den Sportnachrichten zu und ich griff nach meinem Handy. Auf Twitter war die Hölle los.
Schock und Unverständnis verbreitete sich rasend schnell.
Hastig wählte ich Harrys Nummer, doch ich landete nur, wie schon die Tage davor, auf der Mailbox. Dann rief ich Louis an und hörte im Hintergrund Musik, aber auch Stimmen. Klang nicht danach als hätte ich ihn aus dem Bett geholt, aber auch nicht als wäre er in einen Club.
»Nialler, was gibt's?«, fragte er zur Begrüßung und schien nicht wütend darüber zu sein, dass ich ihn mitten in der Nacht störte. Er klang angeheitert und dann vernahm ich ein weibliches Lachen. Ich konnte mir denken, wieso er noch auf war.
„Hast du die BBC News gesehen?"
»Nein, aber Twitter. Mach dir keine Sorgen, das sind sicher nur gefakte Fotos. Ich meine, kannst du dir einen Drogenabsturz bei Harry vorstellen?«
„Nicht wirklich", gab ich zu, „aber... ich habe auch bald eine Woche nichts mehr von ihm gehört, geschweige denn ihm richtig zugehört."
Da gab es nichts zu rütteln, ich hatte Harry tatsächlich nach einiger Zeit einfach ausgeblendet. Denn das ewige Gerede hatte sich immer um dasselbe gedreht. Musik, das Projekt, eine neue Tour. Und das waren genau die drei Dinge gewesen, die ich auf keinem Fall machen wollte.
»Ich kann morgen jemanden drauf ansetzten, denn ich bin sicher, dass man Harry schnell findet. Wahrscheinlich ist er nur in LA und lässt die Seele baumeln.«
Louis hatte die Ruhe weg und ich wünschte, ich wäre auch so gelassen. Der Peter Pan der Band versprach, dass er sich morgen auch mit Liam in Verbindung setzten würde und sicher alles nur halb so wild war.
Als ich auflegte sollte ich weniger beunruhigt sein, doch das Gegenteil war der Fall. Ich blieb unruhig, ließ den Fernseher laufen und fiel auf der Couch in einem Dämmerschlaf. Um Punkt sieben Uhr war ich so wach als hätte ich pures Koffein in den Adern.
Ich ging laufen, so wie fast jeden Morgen. Ohne Musik, nur in Sportsachen und einem rauschenden Kopf trat ich an die frische Luft. Es war kalt, doch nachdem ich mich gedehnt hatte und meine übliche Runde begann fiel Stück für Stück die Last.
Für jede Tageszeit hatte ich eine Route, jedes Mal führte sie mich wo anders hin. Doch am liebsten mochte ich jene am Morgen. Dann waren die Leute beschäftigt damit zur Arbeit zu gelangen und achteten nicht auf mich. Der Tag roch unverdorben und nach einer neuen Chance, dass er ein guter werden würde.
Diese Illusion zerplatzte jedes Mal, wenn ich wieder zu Hause ankam und den Druck in der Brust spürte. Aber es half, dass ich mich lebendig fühlte. So, wie ich selbst, nicht wie jemand Fremdes.
Über eine Stunde joggte ich, dann kam ich wieder zu Hause an. Der Schweiß rannte mir über den Rücken und ich blieb keinen Augenblick stehen. Mein Weg führte direkt in die Dusche und mit dem kalten Wasser entspannten sich meine Muskeln.
Louis hatte um neun Uhr noch immer keinen Mucks von sich gegeben und ich sah nervös auf den Ordner. Irgendetwas sagte mir, dass diese Miss Baker mir auf die Schnelle mehr verraten konnte als Louis' Mann, der das Ganze überprüfen wollte.
Zuerst rief ich sie an, aber stattdessen fing mich eine Frau am Empfang ab und meinte zu mir, dass Miss Baker für keinen Klienten zu sprechen sei, da sie keine weiteren Aufträge annehmen durfte.
Es nutzte auch nichts, dass ich ihr erklärte wer ich war und dass sie aktuell mit einem Fall beschäftigt war, der mich miteinbezog. Kurzerhand zog ich mich an, schnappte mir die ganzen Unterlagen und wenig später fuhr ich mit dem Auto in die Stadt.
LG & Partners - ich wusste, dass Harry darüber ein paar Aufträge abgewickelt hatte, allen voran Werbespotts. Er trennte seine Anwälte in mehrere Kategorien. Musik, Nebenverdienste und Privatangelegenheiten. LG & Partners war ein großer Schuppen und bereits am Morgen stark beschäftigt.
Ich wartete an der Rezeption bis eine der drei Damen für mich Zeit hatte. Unaufhörlich ging das Telefon und schließlich wandte sich eine ältere Frau mir zu. Sie lächelte freundlich und sprach: „Guten Morgen, wie kann ich Ihnen helfen?"
„Ich möchte zu einer gewissen Miss Baker", erklärte ich knapp und setzte hinzu: „Man sagte mir, dass sie keine weiteren Klienten betreut, aber ich gehöre zu einen von ihren Mandanten."
Die Frau sah in ihrem Computer nach und nickte. „Richtig, aber wenn Sie sagen, dass Sie zu Ihrem Fall gehören, dann ist es sicher in Ordnung, wenn ich Sie durchstelle. Aktuell müsste sie in... Konferenzraum 17 sein. Gehen Sie einfach den Gang entlang und dann die vierte Tür von links."
In diesem Gewühl aus Anzugträgern fiel ich in Jeans und Polohemd ganz schön auf. Zum Glück hatte ich auf die Flat Cap verzichtet, die ich in Massen zu Hause hatte. Überall wurde telefoniert und ich schritt an mehreren Büros vorbei, in denen heftig diskutiert wurde.
Definitiv nicht meine Welt.
Vor der offenen Tür zu Konferenzraum 17 blieb ich stehen und sah hinein. Die junge Anwältin saß einsam an dem langen Tisch. Sie trug eine dunkelblaue Bluse, einen seltsamen hellen Rock und ich konnte erkennen, dass sie einen Fuß auf den Stuhl abgelegt hatte. Eine Bandage war um den Knöchel gebunden.
Ich wusste, dass sie vor meiner Haustür gestürzt war und eine Augenbraue huschte in die Höhe, als ich die Schramme über ihrem Auge entdeckte, die sich nicht verbergen ließ. Diese Frau sah nicht danach aus, als würde sie sich körperlich mit jemanden auseinandersetzen und auch nicht als hätte sie die Schusseligkeit mit dem Löffel gefressen.
Ich mochte sie nicht.
Dieses Urteil hatte ich schon gefällt, als sie mich nach dem Weg gefragt hatte. Denn alles an ihr schrie nach Spießigkeit und Nüchternheit. Die konservative Kleidung, die sie älter machte, als sie wahrscheinlich war, dann die Art, wie sie sich bewegte. Viel zu vornehm und einstudiert. Fast schon arrogant. Diese Selbstsicherheit löste pure Abneigung in mir aus.
Während ich sie also von der Tür aus beobachtete, wie sie sich durch mehrere Unterlagen wühlte, wurde mir bewusst, dass es wahrscheinlich an erster Stelle ihre Augen waren, die mich abstießen.
Eisblau.
Wie pure Kälte.
Plötzlich hob sie den Kopf und bemerkte mich in der Tür. Der intensive Blick jagte einen Schauer über meinem Rücken, und zwar keinen wohligen. Selbst ihr freundliches Lächeln konnte ihre Augen nicht wärmen.
„Mr Horan", begrüßte sie mich. „Mit Ihnen hätte ich eigentlich erst in drei Tagen gerechnet."
Machte sie sich gerade über mich lustig? Zumindest wirkte ihr Lächeln nun spöttisch. Ganz so, als würde sie sagen wollen: „Und jetzt sind Sie mir planmäßig in die Falle gegangen."
Ich mochte es nicht. Weder dieses Lächeln noch den Spott, den ich mir ganz sicher nicht einbildete.
„Wo ist Harry?"
„Donnerwetter, kein guten Morgen nichts, und kein tut mir leid wegen dem Fuß, nein, Sie kommen gleich zur Sache. Gefällt mir!"
Eindeutig Spott. Und übler Sarkasmus.
Ich presste die Lippen aufeinander, warf den Ordner samt Unterlagen auf den Tisch und musterte sie genervt. „Wenn Sie wissen, wo sich Harry befindet, dann-"
„Natürlich weiß ich das", unterbrach sie mich immer noch lächelnd und lehnte sich nun tief entspannt zurück. Meine Stirn legte sich in wütende Falten: „Dann können Sie mir auch sagen, was es mit diesen Gerüchten und Bildern auf sich hat?"
Sie sah mich prüfend an, dann sprach sie: „Ja, das könnte ich." Abwartend musterte ich sie und dann setzte sie hinzu: „Werde ich aber nicht."
Was zum-!
Von Sekunde zur Sekunde wurde ich wütender. Ich mochte es nicht, dass sie mit mir spielte und das tat sie eindeutig. Wie Don Vito Corleone schien sie sich wohl am Verhandlungstisch zu fühlen. „Setzten Sie sich doch erst einmal, Mr Horan."
Zerknirscht zog ich einen Stuhl zur Seite und nahm Platz. „Ich warne Sie, sollte irgendetwas mit Harry passiert sein und Sie halten mich hier hin, dann Gnade ihnen Gott. Ich schwöre, dass ich-"
„Ich würde Ihnen ja gerne einen Kaffee bringen, aber dank meinem Fuß bin ich kaum in der Lage am Kopierer zu stehen. Das verstehen Sie sicher."
Diese Frau – konnte sie mich vielleicht einmal ausreden lassen? Verkniffen starrte ich sie an, aber sie schien sich davon nicht einschüchtern zu lassen und blieb die Ruhe selbst. Schließlich sprach sie: „Und, haben Sie darüber nachgedacht was Sie tun wollen?"
„Wie bitte?", ich verstand gerade den Zusammenhang nicht und sie führte weiter aus: „Der gute Zweck. Ist Ihnen etwas dazu eingefallen?"
„Zum Teufel mit diesem Bullshit!", fluchte ich sie an und knallte die Hand auf den dicken Ordner. „Ich bin nicht hier, um mit Ihnen über irgendwelche Organisatoren zu quatschen!"
„Das sollten Sie aber tun", meinte sie ruhig und lehnte sich vor. „Ich werde nämlich nicht einen Ton von mir geben und verraten, wo sich ihr Freund aufhält noch, wie es um ihn steht, wenn Sie nicht nach seinen Spielregeln agieren. Daran führt kein Weg vorbei."
„Das ist Erpressung", stellte ich nüchtern fest und sie schüttelte leicht den Kopf: „Nein, das ist Tatsache. Gewöhnen Sie sich daran."
Wir sahen uns schweigend an. Es war ein angespanntes Blickduell. Niemand schien klein beigeben zu wollen, bis mein Handy die Stille durchbrach. Ich musterte sie ein letztes Mal feindselig, bis ich aufstand und dran ging.
„Was gibt es Lou? Sag mir, dass dein Mann etwas gefunden hat." Aber Louis' Mann hatte keine Neuigkeiten.
»Es ist, als wäre Harry in ein Flugzeug gestiegen und verschwunden. Er kriegt nicht mal raus, in welches verdammte Flugzeug er gewesen ist!«
Jetzt machte ich mir Sorgen. Richtige Sorgen und mein Wutpegel darüber, dass ich jemanden im Raum hatte, der mir all die Fragen beantworten konnte, es aber nicht wollte, stieg.
»Ich werde noch jemanden in den Staaten drauf ansetzten«, versprach Louis mir. »So einfach verschwindet doch niemand und ich bin mir sicher, dass Harry in LA ist. Es gibt keine Stadt, die er mehr liebt.«
„Mach das und halte mich auf dem Laufenden", sprach ich knapp, aber ich glaubte nicht, dass es etwas bringen würde. Dann legte ich auf und wandte mich an die junge Anwältin. Sie wirkte kaum älter als ich.
Noch ein Punkt auf der ewig langen Liste, den ich nicht mochte. Todsicher hatte sie zuvor mit Harry geschlafen, anders konnte ich mir nicht vorstellen, wie sie zu diesem Auftrag gekommen war.
„Niemand wird Harry finden, nicht wahr?", fragte ich und sie sprach mit einem ekelhaften Pokerface: „Nein. Nicht einmal James Bond."
Stumm sahen wir uns an. Eine gefühlte Ewigkeit kroch dahin, doch ihre eisigen blauen Augen erwärmten sich nicht. Weder für mich noch sonst auf irgendeine andere Art und Weise. Langsam ließ ich mich wieder auf dem Stuhl sinken, dann sprach ich angespannt: „Na gut. Spielen wir nach den Regeln. Was muss ich tun?"
Plötzlich erkannte ich eine erstaunliche Wandlung in ihrem Gesicht. Das Lächeln auf ihren Lippen wirkte zum ersten Mal an diesem Tag nicht geheuchelt, sondern echt.
„Zuerst lesen Sie am besten den Ordner, teilen auf, was Sie interessant finden, oder Ihrer Meinung nach wirklich etwas von Ihren Freunden widerspiegelt. Es soll ja laut Harry etwas Persönliches sein. Haben Sie den zweiten Brief schon aufgemacht?"
Ich zog den blauen offenen Brief hervor und presste die Zähne aufeinander. Als ich merkte, dass mich die junge Anwältin abwartend ansah, sprach ich: „Ich soll mir bei Ihnen Hilfe holen, wenn ich damit überfordert bin. Aber angesichts der Tatsache, dass ich nicht mal richtig reingeschaut habe werde ich das wohl wuppen."
Sie schien überrascht von meiner Ehrlichkeit und ich bat sie um ein Tablet oder ein Laptop mit Internetzugang. Kaum eine halbe Stunde später hatte ich alles, was ich brauchte, sogar eine heiße Tasse Kaffee. Erneut ging ich durch was ich wusste.
Ohne diesem Spielchen hier keine Informationen, ob es Harry gut ging. Ich mochte in den letzten Monaten nachlässig mit meinen Freunden gewesen sein, aber er war mir wichtig und wenn ich durch diese Regeln dafür sorgte, dass es ihm gut ging, dann tat ich das.
Über zwei Stunden grub ich mich durch die Organisationen. Der Stapel mit den Abgelehnten wuchs und wuchs. Auf der anderen Seite befand sich nur eine einzige Organisation, bei der ich sicher war, dass man nicht ohne Verbindung ins Blaue hinein investierte. Aber richtig fühlte es sich trotzdem nicht an.
Es dauerte fast bis in den späten Nachmittag, bis ich am Ende angelangte. Ständig hatte ich Googlen müssen, es prasselten so viele Informationen auf mich ein, dass ich bald nicht mehr wusste, wo oben und unten ist.
Dann sah ich auf die letzten fünf Seiten, die anders formatiert waren als die üblichen. Es sah weniger nach Werbung aus und als ich mich über die Tabellen beugte, auf die Kreuze sah, die er daneben mit Kugelschreiber gemacht hatte, bemerkte ich am Ende der Liste einen Spruch, den er dazu gekritzelt hatte.
‚Wenn du es dir vorstellen kannst, kannst du es auch machen.'
Dahinter hatte er eine unbeholfene Maus gemalt und ich begriff, dass das Zitat von Walt Disney war. Während meiner Krankenhauszeit hatte Harry mich oft verbotenerweise nachts besucht und dabei hatten wir uns einen Disneyfilm nach dem nächsten reingezogen.
Vor allem als ich noch nicht das Bett hatte verlassen dürfen. Harrys Besuche waren am Anfang seltsam gewesen, bis sie zu einem Ritual geworden waren.
Unruhig tippte ich mit dem Kugelschreiber auf den Tisch herum und dachte nach. Hatten wir damals über eines dieser Projekte gesprochen? Ich versuchte mich zu erinnern. Aber da war nichts. Wir hatten viel über früher geredet als wir noch nicht auf Welttour gegangen waren, sondern alles eher kleiner und überschaubar war.
Starr sah ich auf die Liste.
Harry wollte mir damit etwas sagen, ich spürte es. Allerdings war ich nicht die hellste Kerze im Kronleuchter. Da brauchte ich mir nicht einmal selbst etwas vormachen. Ich wünschte, ich könnte Harry anrufen. Das konnte ich quasi schon, aber er würde nicht antworten, da ständig nur seine Mailbox lief.
Erst einmal versuchte ich einen Zusammengang zwischen den einzelnen Adressen, die Harry mir hinterlassen hatte, herzustellen und nachdem Google mein bester neuer Freund war, fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Ein Schmunzeln umspielte meine Lippen und dann öffnete ich den dritten blauen Umschlag, den Harry mir zukommen gelassen hatte. Die nächste Nachricht bestätigte meine Idee.
„Nimm dir den Anwalt als Hilfe mit, dann kannst du gleich Nägel mit Köpfen machen. Du achtest nämlich nicht auf das Kleingedruckte", dahinter hatte er einen Smiley gemalt und es war erschreckend, wie gut er mich kannte, denn ich achtete wirklich nicht auf so etwas. Zu meinem Glück hatte man mich bislang noch nie über den Tisch gezogen, aber was sagte man so schön? Das Glück ist mit den Dummen.
Kurzerhand drehte ich mich auf den Stuhl um und sah durch die offene Tür. Im Gang konnte ich die junge Anwältin erkennen, die sich mit einem älteren Herrn austauschte.
Fein.
Spielten wir nach Harrys Regeln.
Gut, dass er ein bisschen Spielraum hinterlassen hatte.
⸙ ● ⸙ ● ⸙
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