28 Wir fliegen.
【 NIALL 】
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Sie sagte mir nicht, weshalb sie weinte, doch mir behagte das nicht. Nella wechselte so schnell und geschickt das Thema, dass ich keinerlei Chance hatte, sie auszuhorchen. Ich ging darauf ein, lenkte sie ab und fragte sie, ob sie Lust darauf hatte, mich zu einem Handwerker zu begleiten, bei dem ich ein Schild für Kenwood Park in Auftrag gegeben hatte.
„Wo soll es denn stehen?", fragte sie, als sie in mein Auto stieg und ich sofort wieder an den Tag dachte, als wir Kenwood Park entdeckt hatten. Noch einmal sah ich sie besorgt an: „Ist wirklich alles in Ordnung?"
„Ja", antwortete sie ruhig und beherrscht. „Tut mir leid, ich wollte das nicht. Die Woche war einfach etwas viel und ich habe nicht mit dir gerechnet." Sie machte eine kurze Pause, dann fragte sie erneut: „Also, wo soll das Schild hin?"
„An den Eingang, dachte ich", sprach ich schließlich und erklärte, dass es ein bisschen verwunschen aussehen sollte. So, wie Kenwood Park selbst auch war.
Harry hatte das Familienunternehmen, das sich in der Nähe von London befand, gefunden. Der Termin war schon ausgemacht. Eigentlich hatte ich geglaubt einen ruhigen Abstecher zu Nella machen zu können, aber dafür hätte ich die Autobahn nehmen müssen.
Etwas außerhalb von London, in einer großen Scheune erwartete mich Mr McKellen und zeigte mir mehrere Ideen, die er präsentierte. Die Auswahl war gigantisch und mir schwirrte schnell der Kopf. Nella riet mir zu etwas nachhaltigen, da Kenwood Park mit seiner Natur glänzte.
Nach insgesamt drei Stunden bei der es um die Schrift, das Material, den Hintergrund, die Größe und was wusste ich nicht alles ging, verließen wir schließlich den Familienbetrieb von Mr McKellen.
Automatisch griff ich nach Nellas Hand und bemerkte es im ersten Moment noch nicht einmal. Erst als sie auf den unebenen Gehweg strauchelte und ich ihren Sturz abhielt, sah ich auf unsere verschränkten Hände.
„Du bist der unentschlossenste Mensch, dem ich je begegnet bin", sprach sie. „Das hat jetzt wirklich drei Stunden gedauert?"
„Wichtige Entscheidungen brauchen eben ihre Zeit", hielt ich dagegen und hörte sie schnauben: „Wir sollten vielleicht etwas schneller gehen."
Oh ja, denn es fing an zu regnen und bis zum Auto brauchten wir noch knapp fünf Minuten. Noch im Laufschritt war ich langsamer geworden, denn wir wurden so oder so nass. Schließlich blieb ich komplett im Platzregen stehen.
Der Parkplatz war leer, der Himmel dunkel und der regen prasselte kalt auf meine Haut. Trotzdem waren meine Füße ganz von allein langsamer geworden. Nella, die meine Hand losgelassen hatte und ein paar Meter vor mir gelaufen war, drehte sich nun um, doch ich legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben. Es war seltsam, aber diesen komischen Moment genoss ich wirklich sehr.
Ich hörte das Prasseln des Regens, irgendwo donnerte es und das Schauspiel der schweren dunklen Wolken war faszinierend. Es war nicht das erste Mal, dass ich mitten im Regen stehen blieb, denn ich tat es öfters.
Mich beruhigten die fallenden Wassertropfen, sie spülten Stress, Anspannung und Sorgen fort. Anders erklären konnte ich es nicht. Langsam nahm ich den Blick vom Himmel, ich war innerhalb von wenigen Augenblicken völlig durchnässt und es war mir egal.
Nella sah mich verwirrt an, ihr dunkles Haar klebte an ihrem Kopf, der Mantel hing schwer an ihr herunter. Ihre klaren blauen Augen hielten mich fest und ohne nachzudenken ging ich einfach auf sie zu und küsste sie.
Da war kein Zögern, kein Abwarten. Ich tat es einfach und es tat verdammt gut diesem Drang, ohne Wenn und Aber nachzugeben.
Der Ort, an dem wir uns befanden, war denkbar unromantisch, aber es spielte für mich keine Rolle. Ich spürte die Wärme, die von Nella ausging und im Kontrast zum kalten Regen stand. Meine Hände schlangen sich um sie, ich hielt sie fest. Ich hatte keine Ahnung was wir waren, aber um das zu klären, blieb noch Zeit.
Irgendwann.
Ich drängte sie zum Auto schob sie herein und in einem heillosen durcheinander an Arme und Beinen stießen wir uns mehrmals. Fahrig fuhr ich den Fahrersitz zurück, sodass ich mehr Beinfreiheit hatte und Nella mehr Bewegungsfreiraum auf meinem Schoss.
Ich wollte sie tief und nah bei mir haben. Der Regen prasselte heftig auf das Dach des Autos. Unsere Kleidung klebte aneinander und ihr warmer Atem streifte mein Gesicht.
„Niall... ich..."
Weiter ließ ich sie nicht sprechen, sondern griff in ihr Haar und zog sie wieder zu mir. Meine Lippen presste ich auf ihre und schmeckte einen Hauch von Kirschbonbons. Leicht bewegte sie sich auf meinem Schoss und mir entwich ein lautes Stöhnen.
Ohne zu zögern schoben meine Hände ihren Rock hoch, strichen über die Oberschenkel und machten Halt bei ihrem Slip. So sehr ich sie in diesem Moment auch wollte, so sehr sehnte ich mich auch danach Vorzüge auszukosten. Ihre Finger strichen durch mein Haar und als sie sich leicht zurücklehnte, sahen wir einander an.
Mein Atem ging nur noch stoßweise und schließlich kletterte Nella etwas umständlich von meinem Schoss. Wir sprachen nicht ein Wort miteinander, als wir unsere Kleidung halbwegs ordneten, sie die Heizung anstellte und ich den Wagen schließlich wieder zurück nach London lenkte.
Unser Schweigen war nicht unangenehm, es war eher so, als müsste niemand von uns etwas sagen, weil es überflüssig war. Nella machte Dinge mit mir, bei denen ich selbst nicht sicher war, ob ich sie von selbst heraustat, oder wir einfach wie Magnete funktionierten. Magnete, die im völligen Einklang einfach ihre Bewegungen, Reaktionen und Positionen einander anpassten.
Uns begleitete nur das Geräusch des Regens und immer wieder glitt mein Blick zu ihr. Sie sah blasser aus als sonst, aber auch schöner, als ich sie je gesehen hatte.
Mein Denken verließ die Rationalität und als ich schließlich hinter ihr die Treppen hoch hetzte, Nella ihre Wohnungstür aufschloss und rückwärts vor mir her ging, mich dabei unentwegt ansah, da wagte ich es einfach.
Ich verließ mich vollkommen auf das was ich fühlte.
Seit dem Unfall hatte ich es nicht mehr getan, hatte mich dagegen gesträubt überhaupt etwas zu fühlen und wenn alle Dinge nüchtern zu betrachten. Jetzt war es mir egal, denn es fühlte sich so fantastisch an, einfach nachzugeben. So leicht und warm. Wie in einem Rausch rissen wir uns die klammen Klamotten vom Körper und küssten uns. Dann verloren wir einander, nur um ins dann wieder zu finden.
Nellas Haut klebte an meiner, oder meine an ihrer. Ich wusste es nicht. Hart drängte ich sie gegen die Wand, ließ meine Hände über ihren Körper wandern, genoss jedes zarte Geräusch, dass sie von sich gab und fiel mit ihr auf das Bett in ihrem Schlafzimmer.
Wir hätten auch in Wolken, oder in die Hölle stürzen können. Den Unterschied hätte ich nicht bemerkt. Mit Nella zu schlafen war das einzig Richtige. Sie ließ mich vergessen, wo ich war und vor allem wer.
Irgendwann, weit nach Mitternacht, als wir regungslos nebeneinander gelegen hatten, kletterte Nella aus dem Bett, holte uns etwas zu essen. Danach begannen wir von vorne. Diese einzigartige Nacht sorgte dafür, dass die Welt außerhalb aufhörte zu existieren.
Ich lag auf dem Rücken und sah an die Decke, nur die kleine Nachttischlampe erhellte den Raum. Leicht neigte ich den Kopf und bemerkte, dass Nella auf der Seite lag und mich ansah. Meine Finger spielten mit ihren und obwohl ihr Haar völlig zerzaust aussah, sie blass war, wirkte sie so wach, wie noch nie zuvor. Sie führte meine Hand zu ihren Lippen und küsste meine Fingerspitzen. Ihr Gesichtsausdruck wurde nachdenklich.
Ich fragte nicht, warum, stattdessen wollte ich wissen: „Nella, was sind wir?"
„Ich weiß es nicht", antwortete sie ehrlich. „Aber ich wünschte, wir wären etwas."
Ja, das wünschte ich mir auch. „Dann sind wir etwas", sprach ich und drehte mich ebenfalls auf die Seite. Die Decke raschelte, meine Stirn lehnte an Nellas.
Plötzlich kicherte sie. Ich hatte sie noch nie kichern gehört, doch es klang schön und überhaupt nicht albern.
„In knapp drei Stunden muss ich zur Arbeit", verriet sie mir. „Und zum ersten Mal ist es mir egal, ob ich ausgeschlafen bin, oder nicht."
„Steht etwas Wichtiges an?"
Nella schien nachzudenken: „Nicht wirklich, es ist auch egal. Ich würde viel lieber einfach den ganzen Tag mit dir liegen bleiben. Und den Tag danach und danach."
Nun musste ich lachen. „Irgendwann würden wir anfangen zu stinken und hätten kein Essen mehr."
„Das würde mich nicht stören", behauptete sie. Ich zog die Decke über uns höher. Sie war schmal und nur für eine Person gedacht, doch so rieben unsere Füße aneinander und wärmten sich. „Ich dachte immer, dass du das Leben nüchtern und rational betrachtest."
Sie unterdrückte ein Gähnen und kuschelte sich näher zu mir: „Der Mist hat gerade Pause." Nun musste ich lachen und ich murmelte: „Gefällt mir."
Wir blieben dicht beieinander. Mir fielen irgendwann die Augen zu. Ich hörte Nellas ruhigen Atem und schlief so leicht ein, wie es nur in ihrer Nähe der Fall war. Wenn ich bei ihr war, dann fand ich Ruhe, Wärme und Zufriedenheit. Ich fühlte mich wohl und nicht wie jemand Fremdes in der eigenen Haut. Dank meinen Freunden war es zumindest in deren Nähe besser geworden, aber nirgends war es so, wie bei Nella.
Als ich leise etwas Rascheln hörte, brauchte ich mehrere Anläufe, um die Augen richtig zu öffnen. Dann sah ich in der Dämmerung, wie Nella vor ihrem Schrank stand und sich anzog. Scheinbar hatte sie geduscht, denn ihr Haar war in ein Handtuch gewickelt.
Nur in Unterwäsche zog sie schließlich ein elegantes Kostüm aus ihrem Schrank und begann sich eine dunkelblaue Bluse zu zuknöpfen. Schließlich schlüpfte sie in eine schwarze Hose und drehte sich um, als sie die Bluse in den Hosenbund stopfte und einen Gürtel durchzog.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken", sprach sie und schloss den Gürtel, dann nahm sie das Handtuch von ihrem Kopf und ich setzte mich aufrecht hin: „Arbeit?"
„Ja, aber ich hole die Akten hier hin, dann bin ich den Tag wieder zu Hause und habe einen Ansporn, warum ich schneller fertig werden will, als üblich", sie grinste und ich zog sie zu mir ins Bett.
Sie roch nach frischen Blumen und am liebsten hätte ich sie einfach so lange festgehalten, bis sie ihrem inneren Schweinehund nachgegeben hätte, um bei mir zu bleiben. Aber ich war mir nicht sicher, ob Nella überhaupt so etwas wie einen inneren Schweinehund hatte.
„Beeile dich einfach", sprach ich, als ich sie geküsst hatte und sie immer wieder nervös auf die Uhr schielte. Schwungvoll stemmte sie sich aus dem Bett und huschte ins Bad, von dort aus hörte ich sie rufen: „Übrigens in meiner rechten Schrankseite, im letzten Fach, da sind ein paar Klamotten von meinem Bruder. Er hat sie in meiner Wäsche gelassen und auch wenn sie dir bestimmt zu groß sind, sind sie immerhin trocken und gewaschen."
Wie nett.
Der Föhn ging an und ich ließ mich zurück in die Kissen sinken. Stumm lauschte ich dem Lärm, den Nella machte und als sie schließlich perfekt geschminkt mit einem eleganten seitlichen Knoten wieder in der Tür auftauchte, hatte ich erneut die Anwältin vor mir, die ich kennengelernt hatte.
Nur das Lächeln auf ihren Lippen war komplett anders und es tat mir gut zu wissen, dass ich es war, der dafür zuständig war.
„Tu was immer du willst, Niall, fühle dich zu Hause. Nichts ist abgeschlossen, nur den Liebhaber im Schrank lass bitte leben, er kann nichts dafür, dass ich ihn dort reingedrängt habe."
„Sehr witzig", entwich es mir und ich schwang die Beine aus dem Bett. Dabei sah ich Nella, wie sie im Flur hin und her hetzte, ihre Pumps suchte, dann wieder irgendetwas vergessen zu haben schien und in einen anderen Raum eilte und mit einer Akte zurückkam.
Zwischen den Lippen hatte sie eine Scheibe Brot mit Käse und ich roch Kaffee. Es war schön Nella so zu sehen. So normal und alltäglich. Ich wusste nicht, weshalb, aber in diesem Augenblick wünschte ich mir, dass es mein Alltag wäre. Neben ihr aufzuwachen, in den Tag zu hetzten und ihre Stimme zu hören.
Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass ich mich nicht dagegen sträubte diesen Wunsch zu haben und allen voran für Nella so zu fühlen. Es kam mir überhaupt nicht in den Sinn mich dagegen zu wehren. Denn es war mir gleichgültig, zu schön waren die Gefühle, die sie in mir weckte.
In ihrem Halstuch verhedderte sich Nella fast und nur in Boxershorts trat ich in den Flur, wo sie mir schwungvoll einen Kuss auf die Lippen drückte und sich dann ihre Tasche schnappte: „Gib mir eine Stunde, maximal zwei und ich bin wieder hier."
„Brich dir nur nicht den Hals", bat ich, als sie zur Tür stürzte und denkbar spät dran war. „Ich verschwinde nicht ohne vorher zumindest Bescheid zu sagen, also Eile mit Weile."
„Bis später!", rief sie noch durch das Treppenhaus und ich schloss schmunzelnd die Tür. Plötzlich war es ruhig in der Dachwohnung und ich beschloss zuerst einmal zu duschen und die frischen Klamotten zu holen. Danach lüftete ich die Zimmer durch, schaffte etwas Ordnung und packte unsere Kleider vom Vortag in die Waschmaschine. Wie Nella gesagt hatte, waren mir der Pullover und die Jogginhose etwas groß, aber damit konnte ich leben.
Es war nicht das erste Mal, dass ich in ihrer Wohnung war, aber so ganz alleine war es doch etwas anderes. Im Kühlschrank suchte ich mal wieder vergeblich nach normaler Milch. Wusste der Geier, woher der Tick mit der Acidophilusmilch bei Nella kam.
Doch bevor ich mir den Kaffee eingegossen hatte stieß ich die Tasse mit den Ellenbogen von der Arbeitsfläche und sie zerbrach in mehrere Teile. Fluchend machte ich mich unter ihren Küchenschränken auf die Suche nach einem Handbesen. Aber außer Töpfe und Putzmittel fand ich nichts. Hatte Nella nicht einen Abstellraum?
Als ich das erste Mal hier gewesen war, hatte sie dort ihren Koffer herausgenommen. Sie hatte außerdem selbst gesagt, ich sollte mich wie zu Hause fühlen, also ging ich ohne Hemmungen einfach in den Abstellraum und knipste das Licht an.
„Hier sieht's ja aus, wie bei Hempels unterm Sofa!", murmelte ich und wusste überhaupt nicht, wo ich anfangen sollte zu suchen. Mir fielen mehrere große Alben auf. Für Familienalben waren sie zu unpraktisch.
Neugierig nahm ich eins in die Hand. Oben drauf stand immer ein Datum und als ich es umständlich aufschlug, da hielt ich den Atem an.
Fotografien.
Und nicht irgendwelche, nein, sie waren wunderschön. Die Handschrift auf dem Album ähnelte nicht Nellas und als ich zurück ins Wohnzimmer trat, da wurde mir bewusst, dass es sich um die Fotos von Samuel Charles Giffard handelte.
Ich sah über Meerbilder, am Tag, bei Nacht, früh am Morgen. Manchmal sah man dreimal dasselbe Bild nur mit anderen Lichtverhältnissen, aber jedes Mal war es unglaublich. Jedes Foto nahm eine ganze Seite ein und war mit Folie abgedeckt, sodass man sie vorsichtig herausnehmen konnte.
Ohne nachzudenken sah ich nicht nur ein Album durch, sondern auch die anderen vier. Scheinbar war Nellas bester Freund auch viel gereist, denn ein Album zeigte Orte aus Asien, Deutschland, Mexiko und Bulgarien. Die Alben waren unheimlich dick und ordentlich angelegt.
Ich verlor mich in dieser Reise. Denn Samuel hatte keinen einzigen Menschen in den Alben aufgenommen. Es waren Landschaftsbilder und auch nie berühmte Sehenswürdigkeiten, sondern diese ganz kleinen und furchtbar schnell vergänglichen Momente.
Vergessen war die kaputte Tasse.
Nach den zahlreichen Alben nahm ich die großen Mappen zur Hand. Über zwanzig an der Zahl und öffnete sie auf dem Wohnzimmerboden. Hier waren also Porträts verstaut. Zuerst riss ich die Augen auf, denn Sir Elton John sah ich an seinem Klavier sitzen. Jedoch ohne Glitzer und Tamtam. Sondern nur ihn, wie er vielleicht zu Hause herumlief.
Es war ein unglaublich privates Bild und vor allem sehr groß. Man hätte es in eine Eingangshalle hängen können.
Mick Jagger und Hugh Grant waren ebenfalls vertreten. Dann entdeckte ich nur noch unbekannte Menschen. Ed hatte gemeint, dass Giffard etwas eigen darin war, nur für das Showbizz zu arbeiten und bei einem Bier verriet er, dass er es immer schade gefunden hatte, dass Giffard jeden Auftrag nur einmal annahm.
Nachdem ich das eingeschweißte Bild von Jared Leto zur Seite legte, es hatte mich schockiert, da es ein Wrack zeigte, blickte ich auf eine junge Frau, die nur von hinten abgelichtet war. Sie trug ein zu großes Hemd und stand mit nackten Füßen vor einer Fensterfront. Die Farben waren hell und warm.
Ich erkannte Nella sofort.
Doch irgendetwas an diesem Bild machte mich skeptisch. Es war die Art, wie er sie fotografiert hatte. Da war nichts Erotisches, sondern eher... romantisch.
Die Liebe zum Detail, den Lichtverhältnissen und die Tatsache, dass es absolut spontan entstanden zu sein schien. All das ließ mich vermuten, dass Giffard sie nicht so gesehen hatte, wie ein bester Freund.
Sondern eher wie jemand, der in sie verliebt war.
Wusste sie das? Sie hatte es zumindest in den wenigen Momenten, als wir über ihn gesprochen hatten, nicht gesagt.
Es fiel mir schwer Nellas Bild zur Seite zur legen und weiter zu schauen. Eins war jedoch gewiss; Giffard hatte ein großes Talent besessen. Kein Wunder das Liam alles dafür gegeben hatte, dieses eine Foto von ihm zu bekommen. Selbst seine Galerien zu besuchen war ein Glücksfall, denn für jede Ausstellung gab es nur eine begrenzte Anzahl von Karten und Louis war es als einziger gelungen noch eine für Liam zu ergattern.
Harry und ich waren nicht enttäuscht darüber gewesen, denn zu der damaligen Zeit waren uns Fotografien unglaublich langweilig vorgekommen.
Ich fing an die Bilder wieder wegzupacken und die Mappen als auch die Alben einzuräumen. Immerhin gab es noch mehr davon und ich war nun wirklich geflasht. Von diesen wunderbaren Fotos konnte ich nicht genug bekommen und wer wusste ob sie überhaupt schon viele Leute gesehen hatten.
Mir rutschte jedoch ein Album aus den Fingern und es fiel in eine Kiste unter dem Regal. Vorsichtig legte ich die übrigen Alben wieder aufeinander, dann beugte ich mich über die Kiste und zog das dicke Album heraus. Dabei fiel mein Blick auf einen Großbriefumschlag und einer Motorradlederjacke. Ich hätte Nella nicht zugetraut, dass sie so etwas besaß.
Ohne nachzudenken zog ich die Jacke raus und runzelte die Stirn, denn sie war stark mitgenommen, so wie nach einem heftigen Unfall. Hatte sie den gehabt, einen Unfall? Ich hatte an ihrem gesamten Körper nichts bemerkt, was daraufhin schließen ließ.
Statt es gut sein zu lassen, schnüffelte ich weiter. Etwas, was eigentlich nicht meine Art war, aber vielleicht erfuhr ich so etwas über Nella, was sie mir so schnell nicht erzählen würde. Außerdem fand ich es interessant andere Seiten zu entdecken.
Kurz darauf fiel mir ein graues Hemd aus den Händen. Es war eindeutig für einen Mann und wies mehrere Blutflecken auf.
Wieso hatte sie so etwas zu Hause?
Statt es aufzuheben, kramte ich weiter. Ertastete Schuhe, eine Jeans und dann eine Plastiktüte. Waren das Führerscheine? Wieso hatte sie zwei davon in ihrer Rumpelkammer?
Ich hielt sie hoch, damit ich sie besser sehen konnte. In diesem Augenblick versteifte sich mein gesamter Körper, denn es war mein Führerschein, den ich da in der Hand hielt. Dahinter war ein anderer und ich erkannte sofort das Gesicht jenes Fahrers, der mit mir den Unfall gehabt hatte.
Mein Hals fühlte sich an, als würde jemand meine Kehle zudrücken, denn meine Augen huschten zu seinem Namen.
Samuel Charles Giffard.
In meinen Ohren rauschte es und mir wurde schwindelig. Alles drehte sich, denn die Gewissheit, dass Samuel, Nellas bester Freund, denselben Unfall gehabt hatte, wie ich, riss mir den Boden unter den Füßen weg.
Und dann war es plötzlich unheimlich still.
Mein Atem ging heftig.
Schließlich roch ich Staub, Abgase und mein Köpf fühlte sich an, als würde eine Glocke dort drin hin und her schwenken.
Vor meinen Augen lief der Unfall noch einmal ab. Der schlimmste Tag in meinem Leben. Die Erinnerungen überrollten mich brutal.
Ganz langsam begriff ich, dass nicht weit von mir, sich ein monströser Reifen drehte. Ich begriff wo ich war. Irgendwo unter dem LKW. Irgendwo dort, wo ich auf keinem Fall sein sollte.
Ich ließ die Führerscheine fallen und kippte die Kiste im Wohnzimmer aus. Es kam so viel mehr zum Vorschein. Unterlagen, Gerichtsprotokolle, Mitschriften. Sie alle drehten sich um jenen Unfall, dessen Teil ich gewesen war.
Mit zitternden Knien setzte ich mich hin, sortierte alles und dann fiel mir der große Briefumschlag von eben auf. Er war unbeschriftet und durch und durch unauffällig.
Ich sollte das nicht tun, aber hier ging es auch um mich. Ich war an dem Tag dabei, ich hatte ein Recht darauf zu wissen, was sich hier angesammelt hatte.
Blaue Augen sahen in meine, der Glanz darin war matt, so als würde er jeden Moment vollkommen verschwinden.
Zwei Papiere zog ich heraus. Das eine war die Kopie eines Organspendeausweises und die andere war ein Arztbericht. Meine Augen huschten über die schwarzen Zeilen.
Einmal, dann noch einmal.
Das Herz in meiner Brust raste.
Ich hörte nicht, dass die Wohnungstür aufging und Nella nach mir rief. Ich nahm nicht wahr, was sie sagte, dass sie aus ihren Schuhen schlüpfte, Akten ablud und in der Tür zum Wohnzimmer stehen blieb.
Stattdessen ließ ich den Arztbericht sinken. Ich konnte Nella nicht ansehen, denn ich musste mich mit aller Kraft daran erinnern ruhig und gleichmäßig zu atmen. Aber stattdessen war mir, als würde jemand meine Brust aufreißen. Bei vollem Bewusstsein.
Ich hatte Blut an den Händen und nun wusste ich zum ersten Mal wem es gehörte und wie grausam dieser einzige Tag wirklich in mein Leben eingegriffen hatte.
Es war, als würde sich irgendjemand Mächtiges einen furchtbaren Scherz mit mir erlauben. Doch dieser Scherz hatte einen Namen, ein Gesicht und vor allem ein eigens Leben gehabt, dass ich nun gekreuzt hatte.
Und wie aus weiter Ferne hörte ich es. Die Stimme, die mich nie ganz losgelassen hatte und immer wieder in Alpträumen heimgesucht hatte.
„W.. ir... fliegen..."
⸙ ● ⸙ ● ⸙
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