27 Liebe beginnt im Kopf.


ANTONELLA


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Wie ferngesteuert packte ich die Unterlagen in die Kiste, wo ich Samuels letztes Hab und Gut bunkerte und schloss die Tür der Abstellkammer.

Nicholas gegenüber spielte ich die Unbekümmerte, doch sobald ich auch nur einen Moment die Maske fallen lassen konnte, tat ich das. Abends lag ich wach, starrte an die dunkle Decke und immer wieder rauschte die Erkenntnis durch meinen Kopf.

Niall hatte Samuels Herz.

Sie waren am selben Unfall beteiligt.

Er war der andere Fahrer gewesen, jener Fahrer, der unglaubliches Glück gehabt hatte.

Im Zuge der Ermittlungen hatte ich alles darangesetzt so viel zu erfahren wie nur möglich. Zuerst wurde gegen den LKW-Fahrer ermittelt, dann gegen die Transportfirma. Es hatte kaum ein Ende genommen.

Schließlich war Samuels Mutter eines Tages zu LG & Partner gekommen und hatte mir gesagt, dass sie aufgeben würden und niemanden die Schuld mehr dafür gaben. Sie fanden ihren Frieden damit, ließen Samuel gehen und begannen ein neues Leben.

Ich hatte das auch versucht. Wirklich versucht.

Aber einen besten Freund loszulassen war schwerer als alles, was ich bislang getan hatte. Nur Stück für Stück war mir das gelungen, so als würde man eine Erinnerung wegschließen und gleichzeitig doch einen Spalt der Tür auflassen.

Nur für den Fall der Fälle.

Doch jetzt war Samuel wieder so gegenwärtig, wie lange nicht mehr und ich wusste nicht, ob mich das erdrückte, traurig stimmte oder ich sogar froh darüber war.

Zu allem Überfluss machte Nicholas keine Anstalt zu gehen. Deshalb verbrachte ich so viel Zeit, wie nur möglich auf der Arbeit. Ich kümmerte mich darum, dass Sebastians Angelegenheiten in zuverlässige Hände gegeben wurden, informierte Liam darüber, dass er die Familie von Brittany Ward in Kenntnis setzten könnte, wenn er wollte und machte sie schließlich sogar ausfindig.

Paul Rutherford war ein alter Senator und sein Sohn, Brittanys Vater, James Rutherford war der Bürgermeister von New York. Da floss Macht und Reichtum zusammen.

Wieso und vor allem wie Brittany schlussendlich nach England kam, fand ich nicht heraus, aber Liam hatte eine eigene Vermutung. Er würde sowieso erst einmal genug damit zu tun kriegen das Sorgerecht für Sebastian zugesprochen zu bekommen und dann konnte er sich um alles andere kümmern.

Ich wünschte es Sebastian, dass er bei Liam bleiben durfte. Nebenbei skypte ich noch mit Sophia und auch wenn es vielleicht taktlos war, so legte ich es ihr nahe, einen Ehevertrag abzuschließen. Sie ging buchstäblich an die Decke, aber als sie sich beruhigt hatte, erklärte ich ihr, wieso ich das ansprach.

„Ihr wollt nicht von Dauer verheiratet bleiben, aber in drei, vier Jahren kann viel passieren. Du musst dich absichern und auch, dass du Sebastian nicht verlierst und weiter Zugang zu ihm hast. Was, wenn Liam und du euch im Schlechten trennen werdet? Was, wenn einer von euch sich verliebt und alles durcheinanderbringt? Setzte Regeln fest solange du noch kannst", sprach ich und sah am Laptop, dass Sophia sich dagegen sträubte. Jedoch versprach sie, darüber nachzudenken. Wir wandten uns kurz Kenwood Park zu. Ich fragte, wie die Arbeit voran ging und als Sophia zwinkerte und meinte, dass ich doch sicher eh auf den Laufenden war, da versteifte sich mein Körper.

„Ich weiß, dass ihr telefoniert, Nella. Ganz von Gestern bin ich auch nicht", ließ sie mich wissen und als ich schließlich die Unterhaltung beendete, wusste ich immer noch nicht, was ich tun sollte.

Denn seit drei Tagen hatte ich nicht mehr mit Niall gesprochen. Ich drückte mich davor, weil ich nicht wusste, wie ich mit dem neuen Wissen umgehen sollte. Die Woche arbeitete ich lange und war eine der Letzten, die LG & Partner verließ. Mich lenkte jede Kleinigkeit ab und ich hatte eine Ausrede, warum ich Nicholas, als auch Niall aus dem Weg gehen konnte.

Ich fiel in ein Muster, das ich kannte und dessen Strömungen ich beherrschte. Nach Samuels Tod hatte ich mich ständig in Arbeit gestürzt und es war das Beste, was ich in solch einer Situation tun konnte. Innerlich fühlte ich mich furchtbar ausgebrannt und versuchte nicht daran zu denken, was abseits der Büroräume auf mich wartete.

Am Ende der Woche kopierte ich sämtliche neuen Unterlagen, so, wie es bei LG & Partner Regel war. Um neun Uhr abends kroch die Erschöpfung in meine Glieder und ich sortierte die Akten ein.

„Du wirst Dad mit jedem weiteren Tag ähnlicher."

Die Stimme erschreckte mich dermaßen, dass ich fluchend herumfuhr. Nicholas lehnte gegen den Türrahmen. „Fängst du jetzt auch an bei Problemen Überstunden zu schieben, sodass man dich nicht mehr bezahlen kann?"

„Von Überstunden hast du ja auch so viel Ahnung", sprach ich sarkastisch. Mein Bruder löste sich von der Tür und seufzte: „Nelly, ich weiß, dass du deine vier Wände wieder für dich allein haben willst, aber ich denke nicht, dass du aktuell im alleine sein besonders gut bist."

Ich verschränkte die Arme vor der Brust: „Willst du mir jetzt allen Ernstes sagen, was ich gut kann?"

„Nein, wehrte Nicholas ab, „aber ich bin nicht so stumpfsinnig, dass ich nicht sehe, dass irgendetwas nicht stimmt."

Nun griff ich nach meiner Tasche und packte sie, dann marschierte ich an Nicholas vorbei zur Garderobe. Als ich mir den Mantel überzog, schnappte sich Nicholas meine Tasche und schulterte sie: „Morgen fliege ich zurück, komm, lasst uns einen letzten Abend miteinander verbringen."

„Besser nicht", wehrte ich direkt ab. „Morgen wartet viel Arbeit auf mich."

„Morgen ist Wochenende und laut deiner heißen Freundin weiß ich zufällig, dass du morgen frei hast", setzte er mich Schachmatt. Er legte einen Arm um meine Schulter und zog mich zum Fahrstuhl. „Komm schon, Nelly, ein einziger Abend. Dann bist du mich eh wieder los."

Da kam ich wohl nicht drum herum. Im Auto kam er auf die kindische Idee und verband mir mit seinem Schal die Augen. „Wirklich?", sprach ich abgeneigt, doch Nicholas ließ nicht mit sich diskutieren: „Lass dich Überraschen."

Solange es nicht illegal war, konnte es mir egal sein. Hauptsache ich kam irgendwann wieder nach Hause. Als Nicholas das Auto anhielt, zog er mich kurz darauf raus und hob mich hoch. Wie ein Kartoffelsack warf er mich über seine Schultern.

„Ich hatte recht, du bist schwerer geworden", gab er laut kund und ich schlug ihn mit den Fäusten: „Kannst du aufhören darauf herum zu reiten?"

Meine Stimme hallte, also waren wir in einem Treppenhaus. Nicholas fing an zu keuchen, dann knarrte eine Tür auf. Mir war, als würde ich diese Geräusche kennen. Schnaufend setzte er mich ab und dann hörte ich eine Stimme, die dafür sorgte, dass ich mir den Schal von den Augen riss.

„Meine Fresse, habt ihr lange gebraucht."

Vor mir stand William, mein jüngster Bruder. Doch im ersten Moment konnte ich ihn nur anstarren.

„Was zum Teufel hast du da an?", presste ich hervor und konnte nicht glauben, was ich da sah. William war ein hübscher Junge, aber gerade wirkte er wie jemand aus der Punk Rock Szene. „Das T-Shirt hat Löcher und.... Will, diese Hose... hast du Geldprobleme? Hat Mum dich schon so gesehen?"

Will rollte mit den Augen und erklärte: „Wenn ich nach Hause fahre, dann werfe ich mich in meine Spießerklamotten, keine Sorge. Willst du mich nicht fragen, ob ich Drogen nehme?"

„Nimmst du welche?", schoss es prompt aus mir heraus. Will lachte laut und wandte sich ab und in diesem Moment begriff ich, wo wir waren.

Samuels Atelier.

Durch das gläserne Dach konnte man den dunklen Himmel sehen. Obwohl ich den Raum unglaublich gut kannte, hatte er jetzt nichts mehr mit dem Atelier gemeinsam, dass einst Samuel gehört hatte.

Die Fotowände waren verschwunden, die selbst angelegte Shooting-Ecke, riesige Leinwände und ganze, gestapelte Mappen fehlten. Die Mappen waren bei mir und Teils gelagert. Jetzt befand ich mich in einem gemütlichen Wintergarten.

Altmodische Lampen erhellten den Raum und Will ließ sich in einer Sitzecke auf ein zerschlissenes Sofa fallen. „Ich habe der Familie, an die du diese riesige Bude vermietest, für dieses Wochenende das Haus in Cornwall gegeben." Das Ferienhäuschen, es würde irgendwann tatsächlich Will gehören.

Nicholas zog eine Flasche Weißwein und vier Becher aus einer Tasche und wies an: „Setzt dich, Nelly."

„Hier?" Ich verstand nicht, was sie mir hiermit sagen wollten.

„Natürlich hier. Wo sonst wirst du dich wohl fühlen?"

Die dritte Stimme ertönte und nun fuhr ich herum. Wollten sie mich verarschen? Adam trat ein und hielt zwei Tüten in der Hand. Mein ältester Bruder weilte normalerweise in Chicago und baute seinen Ruf als Chirurg aus.

„Setzt dich, Honigbienchen", wies Adam mich an. „Und hör auf zu starren, dass ist unhöflich." Trotzdem konnte ich nicht anders, als ihn wahrhaftig anzustarren. Er präsentierte die Ausgeburt der Konservativen, selbst in seiner Freizeit trug er einen Anzug und schob sich so elegant mit dem Zeigefinger die übergroße Brille zurück auf die Nase, dass man ihn für ein Blaublut halten könnte.

Es war seltsam meine Brüder an einem Ort zu sehen, doch in genau solchen Augenblicken fiel mir auf, wie ähnlich wir uns einander waren. Wir hatten alle blauen Augen und dunkles Haar, eine auffällige Blässe die niemals ganz verschwand. Außer vielleicht bei Nicholas, wenn er sich mehr als sechs Monate in einem sonnigen Land aufhielt.

Ich setzte mich und verzog das Gesicht, als ich sah, dass Adam Sushi-Platten auspackte. („Du solltest besser auf deine Ernährung achten, Honigbienchen.")

Mit Grauen sah ich meinen Brüdern dabei zu, wie sie Sushi in allen möglichen Varianten in sich hineinstopften, dabei ein Glas Wein genossen und darüber diskutieren, welche Sushi-Form am besten war.

„Ura-Maki, Sesam macht es am schmackhaftesten", erklärte Nicholas selbstbewusst, doch Will zeigte mit den Stäbchen auf ihn: „Du täuschst dich, Futo-Maki, da ist das Meiste drin."

„Ihr habt alle beide keinen Geschmack", mischte sich Adam ein und schüttelte sichtlich entrüstet den Kopf: „Hoso-Maki, ganz klassisch, egal mit welcher Füllung. Klassiker sind immer die Besten."

„So oder so habt ihr alle einen an der Waffel", setzte ich das Urteil und knabberte auf einen Edamame herum, denn für mich gab es nichts ekelhafteres als roher Fisch, Seetang und klammen Reis. Das riss selbst der gute Weißwein nicht heraus.

Ich saß in einem alten Sessel und hatte die Beine übereinandergeschlagen. Langsam fühlte ich mich wie bei einer Versammlung aller kriminellen Mafia-Oberhäupter Italiens.

„Was bedrückt dich?", begann Adam wie immer und ich wurde das Gefühl nicht los, dass sich meine Brüder allesamt abgesprochen hatten.

„Oh Gott, erspare uns Ausflüchte", schnitt mir Nicholas das Wort ab, bevor ich überhaupt die Gelegenheit hatte, es zu probieren. „Wir wissen, dass etwas passiert ist. Als ich bei dir angekommen bin, war alles in Ordnung, du warst sogar irgendwie verknallt."

„Was für ein Un-", begann ich, doch Nicholas riss die Aufmerksamkeit an sich: „Sie hat sich im Bad eingeschlossen, um mit dem Kerl zu telefonieren."

„Niall Horan, richtig?", warf Will ein und nahm sie weiteres Sushi. „Bist du nicht zu alt für eine Schwärmerei für einen Star?"

Ich schwieg. Denn wie es aussah, hatten sie sich ihr Urteil schon gebildet. Lediglich Adam bewies mal wieder ein geschicktes Gespür, ein Verhör nicht im Sande verlaufen zu lassen: „Nella, wenn du in dieser ausschweifenden Form arbeitest, dann bedeutet es immer, dass etwas passiert ist und ich rede nicht von einer 0815-Sache."

Während Will die Beine ausgestreckt hatte, Nicholas paschamäßig gammelte, beugte sich Adam vor und sprach: „Das letzte Mal, als du dich dermaßen in Arbeit vergraben wolltest, da ist Samuel gestorben. Dieses Mal möchte niemand von uns abwarten, bis es noch einmal in dieser Form ausartet."

Die ruhige und nüchterne Art, wie Adam Samuels Tod aussprach, war mir lieber als die Wehleidigkeit, die mir sonst begegnet war. Obwohl ich mir die meisten Sorgen um Will machte, Nicholas irgendwie mein Lieblingsbruder war, so hatte ich oft das Gefühl, dass Adam mich von ihnen vielleicht am besten verstand.

„Du würdest wahrscheinlich eher mit ihm alles besprechen, was dich bedrückt, als mit uns. So wie du es immer getan hast", sprach Adam. „Uns ist klar, dass wir kein guter Ersatz für ihn sind, aber wir können dir trotzdem zuhören."

„Aber hör um Himmelswillen auf, dich wie Dad in Arbeit zu flüchten, denn das wird deine Probleme auf die Dauer nicht lösen", bat Nicholas mich.

Ich sah sie an, dann blickte ich durch das gemütliche Atelier, dass nun ein Wintergarten war. Die Worte waren nichts neues. Adam war nach Samuels Tot zweimal bei mir gewesen. Nicholas fast drei Wochen und Will hatte meine besten Freundinnen angeschleppt. Sie waren eine Hilfe gewesen, irgendwie weiter zu funktionieren.

Ich sagte ihnen nicht, was los war. Das konnte ich nicht. Jedenfalls nicht allen zusammen. Stattdessen sprach ich: „Es geht euch nichts an, auch wenn eure Sorge wirklich rührend ist. Akzeptiert das, oder lasst es bleiben."

Mehr bekamen sie nicht aus mir heraus. Ich wechselte das Thema auf Wills neuen Kleidung. Doch die unsichtbare Hand, die meine Kehle zudrückte, blieb weiter existierend.

Meine Brüder versuchten es noch zwei weitere Male, aber ich blieb stur. Dieses Thema würde ich nicht im Rudel besprechen. Schlussendlich hob Will die Hände zum Himmel und ließ zu, dass der Abend in eine andere Richtung ging.

Nicholas reiste ab und nahm Will mit dem Auto zum Flughafen mit. Adam dagegen blieb noch ein paar Tage in England, um Granny und unsere Eltern mit seiner Anwesenheit zu beehren. Bevor er sich jedoch auf machte, besuchte er mich und bat mich, ein paar Schritte mit ihm zu gehen. Für ihn bedeutete das ein Spaziergang. Schon als Kind war er stundenlang umhergeirrt, hatte sich irgendwelche Baumkronen angesehen und dabei eine wichtige Miene aufgesetzt.

Ich wusste, wohin Adam wollte, denn ganz in der Nähe meiner Wohnung war ein Park. Wir schlenderten nebeneinander her und ich sprach: „Bist du diese Anzüge eigentlich nie leid?"

Adam schmunzelte: „Man gewöhnt sich an alles." Ich bemerkte, dass er trotz seiner Spießigkeit den einen oder anderen Blick auf sich zog. Verstanden hatte ich das nie, da ich ihn immer als verstaubten Clark Kent sah.

„Ich möchte wetten, dass Granny den Gesundheitssessel entsorgt hat, den ich ihr bei meinem letzten Besuch mitbrachte", begann Adam das Gespräch und ich grinste: „Hat sie, ich durfte ihren alten Sessel aus dem Keller räumen. Wirklich Adam, du solltest aufhören ihre Inneneinrichtung unter eine Gesundheitsflagge zu gestalten. Sie mag alt sein, aber reif für das Hospiz ist sie noch nicht."

„Wenn sie so weiter raucht, dann ganz dauert es sicher nicht mehr lange", ließ er den Arzt raus kehren und ich schmunzelte. Adam musterte mich, wir spazierten an mehrere Parkbänke vorbei und schließlich setzten wir uns unter einer Kastanie. Zu meiner Überraschung zog mein eigener vorbildlicher Bruder dann eine Schachtel Zigaretten aus seiner Anzugtasche.

„Ich sehe ja wohl nicht richtig!", empörte ich mich und er lächelte sanft: „Solange es nur du weißt und niemand sonst."

Schnaubend sprach ich: „Granny würde dir in den Hintern treten!"

„Und sich dabei die Hüfte brechen, durchaus", erwiderte er nüchtern. Ich grinste und schweigend beobachteten wir die Leute, die an uns vorbei gingen. Das war das Seltsame an Adam. Mit ihm konnte man schweigen und er empfand das nie als unangenehm. Nicholas redete dagegen lieber in einer Tour.

„Adam, ich habe etwas getan, was ich vielleicht lieber gelassen hätte", begann ich nach einer halben Ewigkeit der Stille. Statt mich anzusehen, drehte er die dritte Zigarette zwischen seinen Fingern und ich fuhr fort: „Ich habe etwas überprüfen lassen, was ich besser nicht getan hätte."

„So etwas, wie?", forderte er mich weiter auf und ich verknotete die Hände miteinander und atmete tief durch: „Niall hat Samuels Herz."

Automatisch hielt ich daraufhin die Luft an und musterte meinen Bruder, doch dieser nahm nur gelassen einen Zug von seiner Zigarette.

Schließlich meinte er: „Ich hoffe für dich, dass der Kerl, der sich illegal durch die medizinischen Unterlagen geschnüffelt hat, diskret ist und dich nicht anzeigen wird. Wäre schlecht für deinen Ruf."

Eigentlich hätte ich es wissen müssen. Adam sah alles erst von der pragmatischen Seite aus. Dann überraschte er mich, indem er das eigentliche Problem ansprach, dass mich nicht losließ.

„Was ändert diese Tatsache, Nella?"

Ich sah ihn an und Adam neigte den Kopf, dann sprach er: „Im Endeffekt ändert sich doch gar nichts, ich meine, Niall hat durch Samuel die Chance auf ein längeres Leben bekommen. Wir wissen, dass Samuel es kaum lebendig vom Unfallort geschafft hat. Aber dadurch, dass seine Organe gespendet worden sind, hat er trotz seinem Tod noch vielen Menschen dafür ihr Leben gerettet. Das sind die Fakten."

Mein Atem ging flach und ich spürte einen merkwürdigen Geschmack im Mund. „Ich denke nur... dass also...-"

„-Das es ein makabrer Zufall ist?", half Adam aus und schüttelte den Kopf. „Ich als Arzt würde sagen, dass es für Nialls das größte Glück und für Samuel das größte Unglück war. Die Tatsache, dass beide ein ein ähnliches Alter haben, Samuel so gesund war, macht alles, was passiert ist nur logisch. Wäre ich an diesem Tag der behandelnde Arzt gewesen, dann wäre alles genau so passiert."

Er warf die Zigarette zu Boden. „Du kannst es so sehen, Samuel hat Niall gerettet und ohne ihn hättest du ihn nie getroffen, egal, ob du romantische Gefühle für ihn hegst oder nicht."

Wenn er das so sagte, dann klang alles so viel leichter und ganz anders. Trotzdem blieb ein merkwürdiger Beigeschmack.

„Hey, Nella, es ist okay verwirrt darüber zu sein", meinte Adam und sein sanftes Lächeln beruhigte mich. Mir war klar, dass er hier vollkommen auf seine Ich-bin-Arzt-vertraue-mir-Masche setzte. „Aber ungeachtet dessen, was du weißt, würde sich wirklich etwas ändern? Ich meine, dieser Niall bleibt Niall, oder?"

Darauf antwortete ich nicht und als sich mein Bruder nach einer halben Stunde verabschiedete, beugte er sich runter und drückte mir einen Kuss auf die Stirn, so wie er es immer schon getan hatte.

Adam hielt Abstand, auf seine Art und in Momenten wie diesen war es für mich völlig in Ordnung. Egal, ob Nicholas und Will sich des Öfteren darüber lustig machten.

„Ruf an, wann du willst", bot Adam an. „Jetzt lass mich noch Kuchen für Granny kaufen. Ich muss sie besänftigen, bevor ich mich wieder in ihre Vorhölle wagen will."

Ich sah ihm nach.

Überraschend drehte sich Adam noch einmal um und erklärte: „Übrigens Nella, es ist ein völkischer Irrtum." Die Hände in den Hosentaschen des Anzuges vergraben und mit diesem leichten Lächeln auf den Händen, wirkte Adam nicht mehr staubig und trocken, sondern einfach nur wie jemand, der sich in seiner eleganten Haut wohl fühlte.

Es war, als hätte er sich ein paar Millimeter verändert.

„Was ist ein Irrtum?", hakte ich nach und er sprach: „Dass das Herz für Liebe zuständig ist. Denn eigentlich beginnt Liebe im Kopf." Er tippte sich gegen die Schläfe und setzte dann seinen Weg fort.

Ich glaubte in diesem Augenblick, dass jemand eine tonnenschwere Last von meinen Schultern nahm.

Stumm sah ich auf die Leute, die an mir vorbei gingen. Adam hatte recht, denn Niall blieb Niall und Samuel blieb Samuel. Ich hatte für Niall Gefühle, die ich für meinen besten Freund nie hatte. Es gab gewisse Ähnlichkeiten zwischen ihnen, aber hatten wir nicht alle irgendwelche Ähnlichkeiten miteinander?

Wenn ich Niall sah, wie er lachte, dann tat ich es ihm gleich. Es war anders und der Tag prompt um so viel besser. Alles war mit Niall besser. In seiner Gegenwart fühlte ich mich geborgen, angekommen und so zufrieden und glücklich, wie bei keinem Mann zuvor.

Ich mochte seine Fürsorge, die er nicht jedem mitteilte, aber die eine unglaubliche Großzügigkeit darstellte. Die Art, wie er sich trotz Wut und Unverständnis um seine Freunde sorgte, wie er manchmal glaubte allein zu sein und eigentlich unzählige Leute hinter sich stehen hatte, die nur darauf warteten ihn aufzufangen, zeigte, dass er nicht einmal ahnte, was für ein wundervoller Mensch er war.

Ich dachte an die Momente, in denen wir nur zusammengesessen hatten, oder seine Hand in meiner lag. Gerade diese kleinen Augenblicke waren es, in denen ich mein Herz so heftig schlagen gespürt hatte, wie noch nie zuvor. In Niall verliebt zu sein war so einfach und leicht, dass es mir nie in den Sinn gekommen war, das als beängstigend zu empfinden.

Niall blieb Niall.

Ich sah sein Lachen vor meinen Augen und sofort hoben sich meine Mundwinkel. Es wurde Zeit ihn zurück zu rufen. Als ich aufstand, kramte ich nach meinem Handy und suchte nach seiner Nummer. Angesichts der Tageszeit wunderte es mich nicht, dass ich auf seiner Mailbox landete. Also hinterließ ich ihm eine Nachricht.

„Hallo Niall, tut mir leid, dass ich in den letzten Tagen so ausweichend war. Ich habe bis zum Hals in Arbeit gesteckt und würde mich freuen, wenn ich... also ich vermisse es deine Stimme zu hören."

Den Park zu verlassen, war leicht und dann bog ich auf die Straßen ab. „Wenn du mich nicht leid bist oder sauer, dann...", ich hielt inne und atmete tief durch. „Es tut mir leid, wirklich. Jedenfalls, dass mit der Stimme war nicht ganz gelogen, eigentlich vermisse ich alles."

Mehr sagte ich nicht und legte auf.

Von Niall hörte ich nichts und ich begann mir Sorgen zu machen. Zuerst rief ich Sophia an, aber sie meinte nur, dass sie sich heraushalten würde. Hatte ich Niall verletzt, oder vor den Kopf gestoßen, weil ich ein paar Tage abweisend war?

Ich fühlte mich unheimlich schlecht und konnte mich kaum auf meine Arbeit konzentrieren. Mir unterliefen Flüchtigkeitsfehler und irgendwann merkte Eleanor an, dass ich so absolut keine Hilfe war und meine Überstunden nutzen sollte. Sie schob mich aus der Kanzlei und ich raufte mir die Haare.

Schließlich kaufte ich mir mein Abendessen und trat den Heimweg an. Dann suchte ich in meiner Handtasche nach meinem Haustürschlüssel. Gerade, als ich ihn zwischen den Fingern hatte blickte ich auf und sah jemanden vor der Haustür stehen.

Ich stolperte. Etwas, was vollkommen untypisch für mich war. Nur knapp zwei Wochen hatte ich ihn nicht gesehen und trotzdem kam es mir vor wie eine halbe Ewigkeit.

Niall hatte die Stirn gerunzelt und trug die typischen Arbeiterklamotten, die er in Kenwood Park angehabt hatte. Er hielt sein Handy in der Hand: „El, ich habe dich schon verstanden, du hast sie nach Hause geschickt, aber hier ist sie nicht."

„Wieso rufst du sie nicht einfach direkt selbst an?", sprach ich und er schreckte zurück. Zuerst sah er ertappt aus, dann zog ein Lächeln über sein Gesicht und in diesem Augenblick fasste ich einen Entschluss.

Ich würde Niall niemals etwas davon sagen, was ich getan hatte.

Es mochte Samuels Herz sein, dass in seiner Brust schlug, aber es sollte keinen Einfluss auf meine Gefühle für ihn haben. Ich sah Niall, nicht Samuel. Das hieß nicht, dass ich meinen besten Freund herabsetzten würde, denn ganz, wie Adam gesagt hatte – ohne Samuel würde Niall nicht mehr leben und ich wäre ihm nie begegnet.

Es war, als habe mir Samuel auf verkorkste Art und Weise etwas zurückgelassen.

Nialls Gesicht veränderte sich, besorgt musterte er mich: „Nella, was ist los?"

Ich fing an zu weinen, ohne dass ich es kontrollieren konnte. Stumm rollte mir eine Träne nach der nächsten über die Wange, doch dabei blieb das Lächeln auf meinen Lippen haften. Er überbrückte die wenigen Meter zwischen uns, dann strich er mir über die nassen Wangen. „Was ist denn passiert?"

Wald, Harz und Moos ging von Niall aus, es erinnerte mich an dieses kleine Stückchen Eden. Seine besorgten blauen Augen bohrten sich in meine.

„Es ist nichts, entschuldige", sprach ich beherrscht und schloss kurz die Augen. Ich genoss seine Hände auf meinem Wangen und dann nahm ich sie von mir, nur um sie mit meinen Händen zu verhaken.

Ich liebte Niall, dass tat ich wirklich. Es war erschreckend und schön zu gleich. Doch statt die Verbindung zwischen Samuel und ihm abschreckend zu finden, wollte ich, dass sie mir egal wurde. Denn es war Niall, der mich ansah. Nicht Samuel.

Meinen besten Freund würde ich niemals zurückbekommen. Der Unfall hatte mir quasi meinen vierten Bruder genommen. Einen besten Freund, mit dem ich alle Gedanken geteilt hatte und der mich besser kannte als ich mich selbst.

Doch Niall gab mir etwas, was ich noch nie in einem solchen Ausmaß verspürt hatte. Liebe war mächtig und überwältigend und ganz, wie Adam gesagt hatte, begann sie im Kopf.

Ich vertraute darauf, dass es stimmte.



⸙ ● ⸙ ● ⸙



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