26 Samuel.


【 ANTONELLA 】


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Zuerst hatte mir der Anruf die Luft zum Atmen genommen. Aber jetzt wusste ich absolut nicht mehr, was ich denken sollte. Meine kleine Wohnung fühlte sich plötzlich leer an, als ich sie abends betrat. Noch dazu war es unnatürlich aufgeräumt.

Etwas, was ich von mir überhaupt nicht gewohnt war. Normalerweise stürzte ich im Flur noch über die Schuhe vom Vortag. Jetzt stellte ich meine Tasche ab und die unzähligen Kleinigkeiten. Automatisch warf ich die Akten aus dem Büro auf meine Couch und schlüpfte aus meinen Klamotten.

In meinem alten Uni-Shirt und einer Yogahose setzte ich mich im Wohnzimmer auf den Boden. Ich ließ BBC World News laufen und sah auf die zwei Tüten, die ich heute bei der Polizei abgeholt hatte.

Fast zwei Jahre hatte es gedauert und jetzt hatte ich es schwarz auf weiß in einem Bestätigungsschreiben. Die Ermittlungen in Samuels Unfall waren abgeschlossen. Ich hatte geglaubt, dass ich damit umgehen könnte, aber jetzt wusste ich, dass ich niemals die richtige Distanz erreichen würde.

Denn ich brauchte Samuels Namen nur zu lesen und schon war ich wieder am Anfang des Weges. Ich konnte meinen besten Freund nicht loslassen. Sein Verlust riss mir jedes Mal den Boden unter den Füßen weg und ich fing an zu weinen. So wie jetzt auch.

Ohne auf meine Tränen zu achten sah ich nur weiter auf die Tüten. Ich vermisste ihn. Ich vermisste ihn auch jetzt noch so sehr, dass es weh tat. Wie hatte ich so naiv sein können zu glauben, dass ich irgendwann einfach weiter gehen würde, ohne das beklemmende Gefühl zu verspüren, etwas würde fehlen.

Samuel fehlte mir immer.

Ich würde immer seine Ratschläge hören, die er mir einst gegeben hatte, über Spuren stolpern, die er hinterließ und daran denken, wie wir auseinander gegangen waren. Wenn es die Möglichkeit gäbe die Zeit zurück zu drehen und den Tag zu ändern, dann würde ich alles dafür geben.

Langsam griff ich nach der ersten braunen Papiertüte. Ich fühlte mich wieder so, wie an dem Tag, als ich von einem Notar mitgeteilt bekam, dass ich Samuels gesamtes Hab und Gut geerbt hatte. Inklusive all seiner unverkauften Bilder.

Ich kannte sie alle, außer die Mappe, die meine Granny zugesprochen bekommen hatte. Wahrscheinlich hatte Samuel sie kurz vor seinem Tod abgelichtet und nun hütete sie diese wie die Wächterin der Tugend.

Mir war es egal, ich hatte genug andere Fotos. Fotos, mit dessen Verkauf ich in meinem Leben nicht mehr arbeiten musste. Trotzdem hatte ich bislang nichts anderes getan, als die Fotos einlagern zu lassen. Meine Freundinnen Kate und Marley waren der Meinung, ich sollte sie mir ansehen.

Alle.

Aber das konnte ich nicht, denn es würde nur heißen, dass niemals Neue dazu kommen würden. Ein Teil lagerte sicher verpackt in großen Mappen in meiner Abstellkammer, genauso wie etliche andere Dinge, von ihm, die ich in Kisten gepackt hatte.

Seit Samuels Sachen nicht mehr in meiner Wohnung herum lagen war es etwas leichter. Seine Wohnung räumen zu lassen, war eines der schlimmsten Dinge, die ich je getan hatte.

Das einzige, was es irgendwie besser gemacht hatte, war der Moment, als ich die riesige Dachgeschosswohnung an eine alleinerziehende Mutter mit drei lebhaften Kindern vermietet hatte, zu einem Preis, bei den mich jeder ausgelacht hatte.

Doch die Vorstellung, dass nun drei laute Kids durch die offenen Räume von Samuel tobten und ein Atelier, dass als Wintergarten genutzt wurde, gefiel mir.

„Nun denn", sprach ich zu mir selbst und öffnete die erste Tüte. Geräuschvoll kippte ich sie aus und ein Haufen voller Klamotten breitete sich vor mir aus. Mit tauben Fingern griff ich nach dem grauen Hemd das Samuel am Tag seines Todes getragen hatte.

Es war voller Blut und eingerissen. Trotzdem vergrub ich das Gesicht in den Stoff, schloss die Augen und hoffte, dass es noch nach ihm roch.

Das tat es.

Samuel hatte immer nach Sonne gerochen. Dazu noch nach Meersalz. Als ich es ihm zum ersten Mal gesagt hatte lachte er laut und hell auf. („Hm, ich sollte froh sein, dass du aus mir kein Butterblümchen machst, was?")

Nur zögernd ließ ich das Hemd sinken und sah erneut auf die Blutflecke. Es war brutal, denn alleindaran konnte ich erkennen, wie qualvoll die letzten Minuten seines Lebens gewesen waren.

Woran hatte er gedacht?

Hätte er irgendetwas anders gemacht?

War er unglaublich wütend auf mich gewesen?

Ich hatte ihn schlecht behandelt und als ich das begriff, war es bereits zu spät gewesen. Die Nachricht auf seiner Mailbox bekam er nie zu hören. Und ich wünschte mir immer und immer wieder, dass er es getan hätte.

Gründlich kontrollierte ich die Hosentaschen seiner verwaschenen Jeans, bevor ich sie faltete. Es war eine unnötige Geste, denn die Polizei hatte bereits alle Taschen geleert. Achtsam legte ich die Kleidung aufeinander. Das Hemd, die Hose, die Socken. Kleidungsstück für Kleidungsstück. Oben drauf die Schuhe. Dann atmete ich durch und öffnete die nächste Tüte.

Zuerst sah ich nur die Motorradjacke. Ich kannte sie so gut, wie meinen liebsten mintgrünen Mantel, schließlich hatte ich die Motorradjacke mit Samuel zusammen ausgesucht.

Sie war so mitgenommen, dass man sie nie wieder anziehen konnte. Gerettet hatte sie Samuel auch nicht, aber wenn ich der Tatsache ins Auge sah, dann hätte nichts Samuel gerettet. Während der Ermittlungen hatte man mir mehrfach versichert, dass er absolut keine Chance gehabt hatte. Es grenzte schon an ein Wunder, dass die Feuerwehr ihn nicht in Einzelteile in die Leichenhalle schuf.

Mir wurde übel. Ich sah Samuels bleiches Gesicht vor mir. Seine geschlossenen Augen und die versteinerte tote Miene. Es kostete mich viel Selbstbeherrschung die Tüte schließlich zu leeren. Mehrere Einzeldinge rutschten auf meinen Teppich, eingepackt in Plastikfolie. Samuels Geldbörse, seine Papiere und ein paar alte Kirschbonbons lagen vor mir.

Automatisch musste ich lachen, als ich die Bonbons sah, denn Samuel hatte sie bei jeder Gelegenheit gegessen und sich regelmäßig beschwert, dass er Bauchschmerzen hatte.

Gott, die Dinger flogen immer noch überall herum. Ich packte eines aus dem Papier und steckte es mir in den Mund. Dann sammelte ich den Kleinkram wieder ein. Als ich nach der letzten Plastiktüte griff, hielt ich inne.

Das war nicht Samuels Führerschein.

Mit den Fingern strich ich über die kleine Karte und mir war, als hätte man mir in den Magen getreten. Mehrmals blinzelte ich, doch die Karte in meiner Hand veränderte sich nicht. Noch dazu sah sie absolut echt aus. Hastig suchte ich nach Samuels Führerschein und als ich ihn hatte, hielt ich beide in den Händen.

Es war Fakt.

Der Führerschein in meiner linken Hand gehörte Niall.

Wie zum Teufel kam das Ding zwischen Samuels Sachen?

Regungslos blieb ich sitzen und ganz langsam schlich sich ein furchtbarer Gedanke in mein Bewusstsein. Niall hatte einen Unfall gehabt und ich war mir sicher, dass dieser Unfall am selben Tag gewesen war, als Samuel starb. Nachdem ich hastig gegoogelt hatte, ratterte es in meinem Kopf.

Samuel und Niall waren in denselben Unfall verwickelt gewesen. Es war nur eine Vermutung, aber zig kleine Dinge wiesen darauf hin. Nachdenklich sah ich auf Samuels Klamotten. Ich wollte es jetzt wissen, aber Niall würde ich nicht fragen können. Irgendetwas sagte mir, dass er mit mir nicht darüber sprechen würde. Ich dachte an seine Panikattacken und wie geschickt er darin war die Menschen in seinem Umfeld auf Abstand zu halten.

Er hatte nicht einmal mit seinen besten Freunden darüber gesprochen, was ihm passiert war. Wieso sollte er es dann mit mir tun? Außerdem bestand noch immer die Möglichkeit, dass ich mich irrte. Ich musste erst sicher sein. Innerhalb von Minuten bastelte sich ein Plan in meinem Kopf zurecht. Wieso ich die Sache nicht auf sich beruhen ließ, konnte ich nicht sagen, denn Samuel blieb tot.

Ich griff trotzdem zu meinem Handy und wählte die Nummer von Mr Burke, einem alten, aber sehr effektiven Privatdetektiven. Er hatte eine Nase, wie ein Lawinenspürhund und verrichtete seine Arbeit äußerst diskret. Mr Lee, mein Vorgesetzter, engagierte ihn gerne und oft, obwohl er schon im gesetzten Alter war.

Vier Klingelzeichen später, vernahm ich die verlebte Stimme und sprach: „Guten Abend, Mr Burke, es tut mir leid Sie so spät noch zu stören. Hier ist Antonella Baker von LG & Partner."

„Miss Baker, die Dame vom Westwick-Fall, ich erinnere mich", antwortete er und ich hörte, dass er den Fernseher leiser stellte. Der Westwick-Fall war ein unschöner Steuerbetrug gewesen und Mr Burke hatte mir Unterlagen in die Hände gespielt, die dazu geführt hatten, einen skrupellosen Geschäftsmann anzuklagen und einen unschuldigen Mandanten zu entlasten.

„Was kann ich für Sie tun?"

„Ich-... nehmen Sie auch private Aufträge an?"

Eine halbe Stunde später hatte ich ein Budget ausgehandelt, einen Auftrag rausgegeben und ein merkwürdiges Gefühl bei der ganzen Sache. Mr Burke würde jeden Stein umdrehen, seine Arbeit sehr gründlich machen und mir am Ende vielleicht etwas präsentieren, was ich nicht wissen wollte.

Ich räumte Samuels Sachen zusammen und öffnete die Tür meiner Abstellkammer. Behutsam packte ich die Unfallsachen in eine der Kisten und steckte den Kleinkram dazu. Jetzt brauchte ich ein großes Glas Wein, um mich irgendwie abzuregen. Zwei dumme Tüten hatten mich komplett durcheinandergebracht.

Ich war gerade in der Küche und füllte mir ein Glas, als es klingelte. „Hoffentlich ist das nicht El", murmelte ich. So sehr ich sie auch mochte, heute war mir auf keinem Fall danach noch, um die Häuser zu ziehen. Der Tag war lang und anstrengend genug gewesen.

Müde durchquerte ich den Flur und erneut klingelte es Sturm. „Meine Güte, ich komme ja schon, fliegen kann ich no-", ich öffnete die Tür und Sekunden später verlor ich den Boden unter den Füßen. Schwungvoll wurde ich herumgewirbelt, roch Nikotin und den herben Geruch eines Aftershaves.

Als ich wieder auf meine eigenen Füße gestellt wurde, taumelte ich leicht.

„Nelly, mein heißes, kleines Honigbienchen!", dröhnte eine männliche Stimme und ich musste mich an der Wand festhalten. Ohne zu zögern wuchtete er sein Gepäck in meine Wohnung und schlug die Tür mit der Hacke zu.

„N-Nicholas", stammelte ich, als ich meinen Bruder dabei zu sah, wie er sich aus seiner protzigen Jacke pellte. „Was machst du hier, warst du nicht in Italien?"

„In Spanien, Honigbienchen", korrigierte er mich und warf seine Jacke über den Stuhl im Flur. „Ah, du hast den Wein schon geöffnet. Ich hoffe, es ist der Gute." Ohne Hemmungen nahm er mein Glas und trank einen großen Schluck.

„Ich... wieso bist du hier?", dackelte ich ihm hinterher.

„Wieso nicht?", stellte er die Gegenfrage und öffnete meinen Kühlschrank, als würde er hier wohnen. „Der ist ja leer! Also echt, Honigbienchen, isst du immer noch im Laufschritt, wenn du zur Arbeit gehst und nach Hause kommst? Tzz...", er schüttelte den Kopf und ich bemerkte, dass sein dunkles Haar lang geworden war und sich im Nacken lockte.

Er redete einfach weiter: „Was denkst du, Pizza oder – nein, Pizza, darüber diskutieren wir nicht."

Kurz darauf bestellte er Essen und schob mich ins Wohnzimmer. Ich wurde nicht gefragt, was ich haben wollte und plötzlich fühlte ich mich in meinem eigenen Heim wie ein Gast.

Er drückte mich in meinen Sessel, reichte mir ein neues Glas Wein und warf sich selbst auf meine Couch. Dabei zog er sich einen Ordner unter dem Hintern weg. „Kann es sein, dass du zugenommen hast? Du bist schwerer geworden."

„Man sagt einer Frau nicht, dass sie fett geworden ist, auch nicht durch die Blume, du uncharmanter Kerl!", wehrte ich mich. Nicholas streckte sich auf meiner Couch aus und ich musterte ihn, dann neigte ich den Kopf: „Müssen wir das echt tun?"

„Was meinst du?", spielte er den Ahnungslosen, aber ich kannte meinen Bruder gut genug, um ihn zu durchschauen: „Nicholas, ernsthaft, du führst unglaublich schlecht Smalltalk, sag mir einfach, was passiert ist. Du würdest nie freiwillig ein sonniges Land gegen das regnerische England eintauschen."

Mein Bruder sah mich einen Moment schweigend an. Seit er die Universität geschmissen hatte und von einem gut investierten Erbe lebte, tauchte er nur noch am Weihnachten und bei wichtigen Geburtstagen zuverlässig auf und manchmal jedoch auch nicht. Es kam auf das Geburtstagskind an.

„Ich bräuchte da mal deinen Rat", begann er und ich brach in schallendes Gelächter aus: „Okay, dass muss ich jetzt rot im Kalender anstreichen, der große Nicholas Baker braucht Rat. Bei mir. Morgen fliegen wahrscheinlich die ersten Schweine."

Die Beine zum Körper gezogen schüttelte ich den Kopf: „Wie schlimm kann es sein?"

„Ich glaube, ich habe in Spanien geheiratet", sprach Nicholas und daraufhin starrte ich ihn schweigend an. Nur langsam verarbeitete ich, was er mir da gesagt hatte.

„Mum bringt dich um", war das erste, was mir einfiel. Unsere Mutter malte sich seit unserer Kindheit aus, wie sie unsere Hochzeiten ausrichten und uns alle terrorisierte.

Beinahe hätte Adam sie in den Himmel geschickt, bis er dann doch kalte Füße bekam und seine Verlobung wieder löste. Danach war er für sechs Monate verstoßen worden und wir in einer Tulpen-Landschaft ertrunken.

„Meinst du, das weiß ich nicht?", sprach Nicholas plötzlich ernst. Es gab niemanden vor dem er mehr Angst hatte als Mum und irgendwie war das witzige, da ich eher vor Dad kleine Brötchen backte. „Hilf mir, Nelly."

Tief seufzte ich und betrachtete meinen Bruder. Er war ein hübscher Kerl, dazu noch ziemlich reich und keine schlechte Partie. „Was ist passiert?"

Es überraschte mich nicht einmal, dass alles bei einer guten Flasche Wein begann und bei einer jungen Frau endete, die einen Ring am Finger hatte und behauptete, er hätte sie am Vortag geheiratet. Der Filmriss hatte Nicholas schließlich in die Hölle katapultiert, genauso wie die spanischen Papiere.

„Meine Güte, ich dachte du warst in Valencia und nicht in Vegas", meinte ich schließlich, als er von diesem lückenhaften Abend erzählte. Nicholas steckte fest in der Mieser und obwohl ich keine Ahnung von den Rechten in Spanien hatte, versprach ich ihm, mich drum zu kümmern. Irgendeiner bei LG & Partner wird da vielleicht drüber schauen können. Das nötige Kleingeld hatte er schließlich.

Doch falls ich geglaubt hatte, dass ich Nicholas so schnell aus meiner Wohnung vertrieb, so hatte ich mich geirrt. Mein Bruder blieb. Es wirkte als würde er sich verstecken.

Zuerst begrüßte er Eleanor am Morgen nur in Boxershorts an der Tür. Dabei versprühte er seinen Charme und wirkte, als würde er in einem Armani-Anzug vor ihr stehen, statt fast nackt.

„Guten Morgen, ich bin sicher, wir kennen uns noch nicht", sprach er und ich stürzte mit zerzausten Haaren aus meinem Bad: „Und dabei soll es auch bleiben!"

Eleanor wirkte so adrett, wie eh und je. Trotzdem war es auf den ersten Blick ungewohnt, sie nicht in Jeans zu sehen, sondern in einem blauen Kostüm. Sie lächelte meinen Bruder liebreizend an, dann wandte sie sich mir zu und ihre Miene wurde ernst: „Nella, wir müssen sofort los. Mr Lee hat mir heute Morgen dreizehn Nachrichten geschickt und es ist nicht einmal neun Uhr!"

„Dreizehn?", wiederholte ich, während ich versuchte mir einen Haarknoten im Nacken zu befestigen. Eleanor setzte sich auf den geschlossenen Klodeckel: „Es geht um die Spenden für Kenwood Park, um die erste Werbung, blablabla und anschließend sollen wir noch zu einem Musiker, der angeblich sein neues Album von irgendwo kopiert hat."

„Von wem reden wir?", ich griff nach meinem roten Lippenstift und sie erklärte: „Ed Sheeran."

Verwirrt sah ich Eleanor an und sie schien meine Gedanken zu lesen: „Ja, es ist absurd, er hat es absolut nicht nötig irgendjemanden zu bestehlen, denn er ist die Ausgeburt der eigenen Songs. Aber wir sollen die Fronten checken und die übliche Arbeit machen. Die Tonspur kontrollieren lassen, bei ihm Händchen halten. Du weißt schon."

Klang nach einem entspannten Tag.

Ich war nur unterwegs, klärte den Auftrag meines Bruders und hetzte von einem Büro ins nächste. Eleanor sah ich kaum noch und als ich mich abends völlig erschöpft die Treppen hochzog, da wünschte ich mir, ich wäre wieder in Carlton's Mills. Das schnelle Tempo in London erschöpfte mich. Etwas, was ich niemals für möglich gehalten hatte.

Mein Bruder fühlte sich dagegen scheinbar in London richtig wohl. Er füllte meinen Kühlschrank, bekochte mich und schnüffelte in meiner Privatsphäre herum. Kaum hatte ich meine Wohnung betreten und roch indisches Curry, als er von der Küche herausrief: „Ich habe deine Wäsche aus der Reinigung geholt und den Telefondienst gespielt. Dein Handy lag den ganzen Tag hier."

„Ja, tut mir leid. Ich werde es nie wieder vergessen", sprach ich müde und schlüpfte aus meinen Pumps. Mir taten die Füße weh und ich ließ mich auf der Küchenbank fallen. Dann massierte ich mir den linken Fuß.

„Es riecht gut", stellte ich lahm fest. Nicholas drehte sich zu mir um und hielt einen Holzkochlöffel in der Hand: „Danke, jedenfalls, es haben ein Haufen Leute angerufen. Ich habe die Namen aufgeschrieben und gesagt, du rufst zurück. Die meisten waren richtig angetan von der Vorstellung, dass du einen männlichen Sekretär hast."

„Danke", sagte ich und blickte auf die lange Liste, die an meinem Kühlschrank klebte. Doch ich schenkte den Namen keinen richtigen Blick. Mir war viel mehr nach einem entspannten Bad, oder mein Bett.

Nicholas musterte mich, aber das entging mir völlig. „Da war übrigens ein Anruf von einem Niall Horan."

Sofort blickte ich meinen Bruder an und bemerkte die musternde Miene. Er hatte diesen Blick genauso drauf, wie Dad.

„Und?" Ich schwieg eisern.

„Wer ist er?", hakte er nach und mir war sofort klar, dass ich verloren hatte, denn Nicholas setzte hinzu: „Wenn du jetzt sagst, ein Klient, dann lass es lieber bleiben. Wir wissen beide, was private Anrufe in Verbindung mit dem Wort 'Klient' bedeutet."

Sichtlich verunsichert lachte ich: „Wie bitte?"

Nicholas nahm sich gelassen eine Cola aus meinem Kühlschrank und ließ das Curry weiter köcheln. „Er hat nur angerufen, Interpretiere da nicht zu viel rein", versuchte ich die Sache abzuschwächen. Damit wollte ich mich aus der Schusslinie ziehen, aber stattdessen sah mich Nicholas immer noch musternd an. Dann setzte er sich mir gegenüber.

„Nelly, das war kein geschäftlicher Anruf, dafür klang er zu überrascht, dass ich an dein Handy gegangen bin", meinte er. „So, als hätte er fest damit gerechnet, dass du dran gehst. Bei den anderen Leuten war das nicht der Fall."

„Mach dich nicht lächerlich", ich nahm ihm die Cola ab und in diesem Moment schlug Nicholas mit der flachen Handfläche auf den Küchentisch. Ich zuckte zusammen wie eine ertappte Jungfrau.

„Ich wusste es!", donnerte er. „Du hast Sex mit ihm! Was ist das für ein Kerl! Wo hast du ihn getroffen! Seid ihr exklusiv, oder trittst du in meine Fußstapfen?"

„Oh Gott", entwich es mir und ich humpelte aus der Küche, doch Nicholas war dreist genug, mir einfach zu folgen. Sogar ins Schlafzimmer.

„Dreh dich um!", verlangte ich. Zumindest war er so nett und tat es. Auch, wenn er im Türrahmen stehen blieb. Ich fing an mir das Etui-Kleid auszuziehen und nach meiner Gammelkleidung zu suchen.

„Ich bin überrascht, dass noch niemand weiß, dass du einen... was ist er eigentlich?", fragte mein Bruder und als ich mich umdrehte, sah ich, dass er sein Handy in der Hand hielt. „Alter Schwede, dieser Niall Horan ist ein Popstar? Mum wird sich bei ihrem Salto das Genick brechen, wenn sie erfährt, wie schwer er ist. Zwanzig Millionen Pfund hat der sicher auf seinen Konten. Wenn nicht sogar mehr."

Da war er wieder, der Snobismus meiner Familie.

„Granny kennt ihn schon", entwich es mir und Nicholas rief: „Granny kennt ihn? Bist du des Wahnsinns!"

Ich rollte mit den Augen, denn meiner Meinung nach war Mum schlimmer. Granny hatte ja bis jetzt dichtgehalten. Außerdem stand ich vor einem großen Problem, denn ich wusste nicht, was Niall und ich waren, noch was sein Führerschein bei den Sachen von Samuel machte.

Mein Bruder blieb den Abend über nervig und ich schaffte es erst sehr spät, mich in meinem Bad einzuschließen und Niall wahrhaftig zurückzurufen. Es war schön seine Stimme zu hören, zu erfahren, was in Kenwood Park passierte und prompt kam es mir vor, als wäre ich schon ewig von Carlton's Mills fort.

Mit klopfenden Herzen saß ich auf dem Badewannenrand und versuchte den Impuls zu unterdrücken, ihn zu fragen, wie sein Führerschein zu den Klamotten meines ehemaligen besten Freundes gelangen konnte. Doch ich ließ es bleiben und genoss es einfach, den Klang von Nialls Stimme zu hören.

Auch in den folgenden fünf Tagen telefonierte ich mit ihm. Doch wir klärten nie, was das zwischen uns war. Ich konnte nicht leugnen, dass ich mich in Niall verliebt hatte, denn allein an ihn zu denken machte mich glücklich.

Ein wenig war es auch erschreckend, da ich mich noch nie so gefühlt hatte. So merkwürdig beschwingt und ein bisschen, als würde ich auf Wolken gehen. Die WhatsApp-Nachrichten, die ich von Niall bekam, machten mir vor, dass das englische Wetter so erträglich war, wie ein angenehmer Hochsommer.

Nicholas hatte nur ein „Pff, wie ein verknallter Teenager", für mich übrig. Aber ihm schien ein Stein vom Herzen zu fallen, als mein Kollege schließlich aufdeckte, dass er bezüglich der Hochzeit nur hereingelegt worden war und sie nicht gültig war, weil ein entschiedener Stempel in den Heiratsunterlagen fehlte.

Er hatte also kein betrunkenes „Ja ich will", gelallt. Knapp gerettet.

Wir feierten dieses unverschämte Glück mit chinesischen Essen und Bier. Gerade, als wir im Wohnzimmer hockten und einen alten Star Wars Film schauten, klingelte es. Ich hatte langsam genug von überraschten Besuchen und hoffte inständig, dass es nicht Eleanor war, mit einem neuen Auftrag, oder einer meiner anderen zwei Brüder. Adam konnte ich verkraften, aber wenn William jetzt auch anfing zu rebellieren, oder juristischen Beistand brauchte, dann würde ich definitiv umziehen.

Zu meiner Überraschung war es der alte Mr. Burke. Der kleine Mann ging gebeugt und lächelte freundlich. Meine Einladung einzutreten, schlug er aus, stattdessen reichte er mir einen Großbriefumschlag. „Ich bin mit meinen Nachforschungen fertig, Miss Baker. Ganz einfach war es nicht und ich würde darum bitten, dass Sie die Unterlagen verschwinden lassen, wenn sie ihre erhofften Informationen bekommen haben."

Den Hinweis verstand ich sofort. Demnach waren in dem Umschlag Informationen drin, die auf nicht ganz legaler Art und Weise beschaffen worden waren. Ich würde mein Gewissen nicht belasten, wenn ich die Dinge nicht vor Gericht verwendete.

„Die Rechnung schicke ich die Tage", erklärte mir Mr Burke noch, dann tippte er sich gegen seine Mütze. „Guten Abend, Miss Baker."

„Danke, Mr Burke", nickte ich und sah ihm nach, wie er im Hausflur verschwand. Ich schloss die Tür und öffnete den Umschlag. Mit dem Rücken lehnte ich gegen die Tür und zog Unterlagen hervor.

Meine Augen huschten über die schwarz gedruckten Zeilen. Polizeiberichte, wie der Unfall passiert sein könnte, waren nichts Neues für mich. Doch das Interessante waren zwei Berichte aus dem Krankenhaus. Dann sah ich auf eine Kopie eines Ausweises.

Die Puzzelteile setzten sich zusammen und plötzlich wünschte ich mir, ich hätte nicht nachforschen lassen. Ich wünschte, ich hätte es einfach gut sein gelassen. Doch nun änderte sich alles, denn ich hatte die wirkliche Verbindung zwischen Niall und Samuel gefunden. Es war ein unglücklicher Zufall, dass Nialls Führerschein in meine Hände gelangt war. Ein Zufall, der mir nun zeigte, was im Dunkeln vor meinen Augen gelegen hatte.

In meiner linken Hand hielt ich eine Kopie von Samuels Organspenderausweis und in der rechten Hand den Arztbericht. Ich las es nun schwarz auf weiß. Beide hatten denselben Unfall gehabt. Doch was mich wirklich schockierte, war etwas anderes.

Niall hatte Samuels Herz.



⸙ ● ⸙ ● ⸙

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