24 Selbstlos.


【 SOPHIA 】


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Schwerfällig öffnete ich die Augen und blieb regungslos liegen. Stumm lauschte ich den Geräuschen des alten, aber sehr gemütlichen Haupthauses. Zwei Tage waren vergangen seit Harry aufgetaucht war und seitdem hatte sich so einiges geändert.

Die Stimmung zwischen den Jungs war eine andere. Überhaupt war vieles anders. Oft hörte ich nun Gelächter und man sah die Veränderungen des Hauses mehr und mehr. Mittlerweile waren zwei Stockwerke fertig und die Arbeiten im Ersten- und im Erdgeschoss gingen enorm voran.

Sämtliche Böden waren bearbeitet und die frischen Wände gestrichen. Ich hatte die ersten Vorhänge fertig und mich durch unzählige Stoffe gegraben. Sternenmuster, Punkte, Regenbogenfarben, jedes Zimmer würde schlussendlich anders sein und alles strahlte eine kindliche Wärme aus.

Mehrmals hatte ich Zayn dabei beobachtet, wie er in einem Zimmer stand und auf eine Wand starrte, so als würde er sich irgendetwas vorstellen.

Als ich fragte, was er da machte, hatte er nur schmunzelnd die Arme vor der Brust verschränkt und mir erzählt, dass er es großartig finden würde, wenn eine Wand an die Vorhänge angepasst werden würde. Quasi eine andere Form einer Fototapete.

Ich fand die Vorstellung sehr schön. „Sprich doch mal mit den anderen, ich bin sicher niemand hat etwas dagegen."

Er hatte nur bitter gelacht und den Kopf geschüttelt: „Nein, ich habe kein Recht mich hier einzumischen. Das alles hier ist allein ihre Sache. Dazu gehöre ich nicht." Die Aussage machte mich zugleich traurig und wütend.

Einst waren sie alle fünf selbsternannte 'Brüder' gewesen und weil einer einen Fehler machte, den er bereute, ist das Bündnis beendet?

Zugegeben, auch ich hatte damals nicht gerade toll gefunden, was Zayn über Liam an die Öffentlichkeit gelassen hatte. Aber schlussendlich hatte er sich damit selbst mehr geschadet als den Jungs. Unglaublich viele Fans wandten sich daraufhin ab, ebenso Mentoren und Unterstützer. Er schaufelte sich sein eigenes Grab.

Neben mir hörte ich ein niedliches Niesen und nahm den Blick von der Decke. Sebastian kuschelte sich in meine Richtung. Er schlief noch tief und fest, seine Gesichtszüge waren entspannt und ausgeglichen. Dann merkte ich, dass seine rechte Hand den Saum meines Pyjama-Ärmels umfasste.

So als hätte er Angst, dass ich verschwinden könnte.

Der Wecker zeigte kurz vor sieben und es war Zeit aufzustehen. Sanft strich ich ihm über den Kopf und sprach: „Hey kleiner Mann, wie sieht es mit Frühstück aus, hilfst du mir?" Langsam öffnete Sebastian die Augen, dann kräuselte er die Nase, eine Angewohnheit, die auch Liam am Morgen hatte.

„Müssen wir schon?", flüsterte er und ich grinste breit: „Ja, heute wird ein langer Tag, denn Niall hat doch gesagt, dass heute richtige Möbel kommen." Damit konnte ich ihn nicht besonders motivieren, also begann ich ihn durch zu kitzeln und sein Lachen erfüllte den Raum.

Wenig später tapste Sebastian leise ins Bad, wo er auf einen müden Louis traf, der ihm automatisch schon seine Zahnbürste reichte. Ich beobachtete Sebastian gerne, wenn er bei Louis war, denn dann wirkte er heiter und fröhlich. Und nicht wie ein Junge, der sich noch viel zu oft in den Schlaf weinte.

Es war schon fast Routine, wie wir den Tisch deckten, alle zum Frühstück erschienen und dann die Handwerker aus Carlton's Mills anreisten. Schlussendlich hörten wir die Jungs wieder Hämmern und werkeln, solange, bis um elf Uhr der erste Lastwagen mit den Möbeln kam. Erleichtert jubelten wir auf und waren gespannt, was Niall bereits ausgesucht hatte. An sich bewies er keinen schlechten Geschmack, auch wenn ich glaubte, dass Nella etwas nachgeholfen hatte.

Was das zwischen den beiden nun war, dass konnte niemand so genau sagen. Gleiches galt für Eleanor und Louis. Sie waren freundlich zueinander, hielten aber gleichzeitig einen seltsamen Abstand. Irgendetwas hatte ich verpasst.

Während ich damit beschäftigt war, die nächsten Stoffe zurechtzuschneiden, Nella Papierkram durchging und Eleanor mit den Vorbereitungen für das Mittagessen begann, hörte ich Sebastian von oben plappern. Scheinbar bauten Louis und Niall ein Bett auf und er durfte ihnen das passende Werkzeug reichen. Wenn das so weiter ging, dann würden die Jungs beruflich alle noch umsatteln. Mir gefiel die Vorstellung, denn sie wirkten nicht gerade unglücklich.

Ich versank in meiner Arbeit. Irgendwann hörte ich, dass Sebastian ins Erdgeschoss kam und sich mit Loki unter den Küchentisch setzte, wo er ihn mit einer Hundebürste durch das Fell strich. Loki schien das sichtlich zu genießen und ganz zart höre ich schließlich Sebastians Stimme.

„You can't go to bed without a cup of tea, maybe that's the reason that you talk in your sleep and all those conversations are the secrets that i keep, though it makes no sense to me."

Als ich den Kopf hob, um ihn anzusehen, musste ich lächeln. Die kindliche Art, wie er es sang, war unglaublich niedlich. Mein Blick kreuzte den von Eleanor, sie presste die Lippen aufeinander und wandte sich wieder um. Für sie hatte das Lied eine Bedeutung und in diesem Augenblick bekam ihre aufgesetzte Ruhe gefährliche Risse.

„Sophia?"

Ich schreckte fast zusammen und blickte zu Nella, die am Türrahmen stand und mehrere Briefumschläge in der Hand hielt und sie durchging. „Du solltest auf die Veranda gehen."

Verständnislos runzelte ich die Stirn: „Wieso?"

„Ich denke, da könnte dich jemand brauchen."

Augenblicklich dachte ich an Liam und plötzlich ahnte ich, weshalb Nella das sagte. Die Post war gekommen und seit Tagen wartete Liam eigentlich auf nur diesen einen Brief. Nun schien er da zu sein.

Als Nella und Niall weg gewesen waren, da hatten wir miteinander gesprochen. Nicht lange und auch nicht über die Dinge, die wirklich von Bedeutung waren. Liam hatte sich entschuldigt, aufrichtig und direkt heraus. Dafür, dass er mich ausgeschlossen und mich so schlecht behandelt hatte.

Nüchtern betrachtet konnte man nicht von 'schlecht' reden, denn er hatte mich weder geschlagen noch mich betrogen oder unser gesamtes Geld verzockt.

Er war nur irgendwann einfach weg gewesen.

Genau dann, als ich ihn gebraucht hatte.

Etwas, was er immer noch nicht wusste und ich spielte mit dem Gedanken, es ihm niemals zu sagen. Denn spielte es nüchtern betrachtet überhaupt noch eine Rolle?

An jenem Abend, als ich in ein leeres Haus gekommen war, verheult, unglaublich traurig und betrübt, da hatte mir einzig und allein Loki Trost gespendet. Treuherzig hatte Loki mich angesehen und seine Schnauze auf mein Knie gelegt, so als hätte er gewusst, dass ich mich fühlte, wie der letzte Mensch auf Erden.

Ich hatte gewartet, sehr lange gewartet, aber Liam war einfach nicht nach Hause gekommen und der Kummer, den ich in mir selbst trug, hatte sich wie eine kalte Hand um mein Herz geschlossen.

Die Dielen knarrten unter meinen Füßen und ich sah Liam auf den Stufen der Veranda sitzen. Zwischen den Fingern hielt er einen Brief und ohne sich umzudrehen sprach er: „Obwohl ich weiß was drinsteht, will ich ihn nicht öffnen."

Ich blieb neben ihm stehen und setzte mich daneben. „Ist es dann nicht egal, ob du ihn öffnest?"

„Nein", sprach er erschreckend ruhig. „Wenn es schwarz auf weiß steht, dann ist es endgültig und ich weiß dank Nella, dass es immer besser ist, bereits etwas in der Hand zu haben." Ich konnte mir denken warum. Als Person in der Öffentlichkeit wurde immer alles doppelt und dreifach angezweifelt.

Liam schüttelte abwesend den Kopf. „Ich habe immer geglaubt, dass, wenn ich Vater werden würde, du auf mich zugesprungen kommst und mich mit deiner Handtasche schlägst, weil du dicker werden würdest."

Das hatte ich auch einst gedacht.

Obwohl Liam mich sehr verletzt hatte, mit seiner Art mich einfach außen vor zu lassen, zu verschwinden, ohne auch nur ein Wort zu sagen, so legte ich meine Hand auf seinen Arm und sprach: „Mach ihn auf, dann hast du es hinter dir." Er war kein schlechter Mensch. Sein einziger Fehler war es gewesen, Fehler zu machen.

Fehler, die dazu geführt hatten, dass ich nicht einmal mehr wusste, was wir eigentlich waren.

Papier raschelte und schließlich zog er das Schreiben aus dem Umschlag. Seine Augen huschten über die schwarzen Zeilen und schlussendlich kam es mir vor, als würde er immer blasser werden. Liam faltete den Brief wieder zusammen, schließlich stand er auf und atmete tief durch.

Ich fragte nicht, sondern wartete einfach ab. Dabei sah ich, wie mein Exfreund sich über das Gesicht rieb und sein Blick ratlos in die Ferne glitt. Wir schwiegen, dann hörte ich ihn sagen: „Wie soll ich das hinkriegen?" Sein Gesicht spannte sich an. „Wie soll ich auf ein Kind aufpassen, wenn ich überhaupt nicht die Zeit dafür habe?"

Langsam stand ich auf, doch Liam sprach weiter: „Er mag mich nicht einmal."

Das konnte ich leider nicht abstreiten, denn Sebastian hielt sich von Liam noch stärker fern als von Zayn. Es war, als hätte Sebastian eine Vorahnung oder einen inneren Radar, der ihm sagte, dass Liam ihn auf gewisse Weise von Kenwood Park wegholen konnte.

„Er ist ein lieber Junge", sprach ich ruhig, doch das schien er nicht zu hören. Liam spannte den Unterkiefer an, es dauerte bis ich begriff, dass er ein Kind, so und jetzt überhaupt nicht wollte und dass Sebastian seine komplette Lebensplanung durcheinanderbringen würde.

Einst hatten Liam und ich über eigene Kinder gesprochen und dabei war deutlich geworden, dass er zwar eine Familie wollte, aber es, wenn schon, dann richtig machen wollte. Die richtige Frau, heiraten, ein gemeinsames Heim – ein Weg zusammen.

Jetzt hatte er ein Kind von einer Frau, die er nicht liebte, die nicht mehr war und einen Jungen, dessen erste Lebensschritte er bereits um Jahre verpasst hatte.

Wenig später stolperte Louis nach draußen. Die Hose verschmiert von Farbe, die Haare zerzaust und zuerst verstand er Liams betretenes Gesicht nicht.

„Das wird schon, Liam. Sebastian ist ein toller, kleiner Kerl, da brauchst du wenig Angst zu haben und wir sind ja auch alle noch da", waren seine Worte. Was das eigentliche Problem war, zeigte sich uns erst zwanzig Minuten später.

Louis und ich sollten mit Sebastian über die neuen Erkenntnisse reden, aber wie erklärte man einem kleinen Jungen, dass man seinen Vater gefunden hatte und der sich zu einer hohen Wahrscheinlichkeit ab nun um ihn kümmern würde?

Zuerst nahmen wir ihn mit in in einen leeren Raum. Die Wände waren in einem hellen blau verputzt und gemeinsam hockten wir uns auf leere Farbeimer, Kisten und knarrenden Stühlen. Louis fand die richtigen Worte. Neben mir regte sich Liam keinen Zentimeter.

Es begann gut. Sebastian strahlte kindlich naiv, als Louis ihm mitteilte, dass man seinen Dad gefunden hatte. Doch das Lächeln des Jungen stürzte in sich zusammen, als Louis ihm erklärte, dass es Liam war. Wie ein kaputter Spiegel zogen die Risse über Sebastians Miene.

„Nein!" Heftig schüttelte er den Kopf und wiederholte sich: „Nein, das ist falsch!"

Louis musterte ihn: „Der Test hat gezeigt, dass es richtig ist, es steht sogar da drin", er zeigte auf den Brief, den ich mittlerweile in den Händen hielt.

„Dann schreib einen anderen Namen da rein!", verlangte Sebastian energisch. „Mach das anders!"

„Das kann man nicht einfach ändern", sprach Liam schließlich ruhig. Doch Sebastian schien ihn nicht zu hören, verzweifelt sah er Louis an: „Mach deinen Namen da rein! Bitte, Louis! Ich bin auch lieb, ich putze mir selbst die Zähne, ich- ändere das!"

„Sebastian, ich kann das nicht ändern", zerstörte Louis die kindlichen Wunschträume. Die letzte Hoffnung. Panik machte sich auf Sebastians Gesicht breit. „Wir werfen den Brief weg!" So, als würden wir somit vergessen, was eigentlich Tatsache war. „Wir werfen ihn weg und fertig!"

Louis schüttelte den Kopf: „So etwas dürfen wir nicht wegwerfen und eigentlich ist es doch etwas Tolles. Sieh nur, Niall und ich können dich ganz viel besuchen kommen und Sophia auch. Du kannst weiter mit Loki spielen und-"

In diesem Moment lief Sebastians Gesicht vor Wut rot an und er brüllte: „Ich will das nicht! Nein! Nein! Nein!"

Noch nie hatte ich ihn so laut schreien gehört. Normalerweise war er ein ruhiges, schüchternes und ausgeglichenes Kind. Sebastian wollte aus dem Raum laufen, dabei wurde er von Louis so gerade festgehalten, zeitgleich trat er mit seinen kurzen Beinen nach Liam und während er schrie, zerriss es mir das Herz.

Es war, als könnte ich die Verzweiflung spüren, die von ihm ausging. Jeder Faser seines kleinen Körpers schien dagegen anzukämpfen.

Ohne darüber nachzudenken, stand ich auf und zog ihn in die Arme. Meine Umarmung war fest und gleichzeitig versuchte ich ihm nicht weh zu tun.

„Nein! Du willst mich nur loswerden! Du willst mich nicht haben, lass mich los ich-", der Junge in meinen Armen fing an zu zittern und schließlich hörte ich ihn heulen. „- ihr kommt mich nicht besuchen! Ihr... ihr werdet mich vergessen! Alle haben mich vergessen! So ist es immer."

Ich musste weinen, obwohl ich das überhaupt nicht wollte. Einfach so rollte mir eine Träne über die Wange, kleine Kinderhände hielten sich krampfhaft an meinem Pulli fest und ich versuchte Sebastian beruhigend über den Rücken zu streichen.

Louis und Liam waren überfordert. Aber gerade hatte ich genug damit zu tun, Sebastian festzuhalten. Schlussendlich hob ich ihn hoch und trug ihn aus dem Zimmer.

In dem Zimmer, dass Sebastian und ich uns teilten, sprach ich: „Du musst dich jetzt ganz doll festhalten." Dann ließ ich mich rückwärts auf die Matratze fallen. Für einen Moment hörte er auf zu weinen. Mein Pulli war mittlerweile schon nass. Stumm blieben wir liegen. Ich sah an die Decke und von ganz alleine strichen meine Finger immer wieder über seinen Rücken. Sebastians Haare kitzelten mich unter dem Kinn und schließlich atmete er ruhiger.

„Ich will nich' weg", hörte ich ihn schließlich flüstern. Leicht hob ich den Kopf und er ebenfalls: „Du bist auch weg von dem da gegangen."

Das er mit 'dem da' Liam meinte, war mir sofort klar.

„Ich will nich' zu dem! Er ist nich' gut, sonst wärst du nich' weg von ihm."

Sebastians Gedankengängen zu folgen, war nicht allzu leicht, aber als bei mir der Groschen fiel, atmete ich tief durch. Dann erklärte ich: „Ich bin doch nicht von Liam weg, weil er ein schlechter Mensch ist."

„Warum dann?", er klang furchtbar schnupft, doch keiner von uns machte Anstalten aufzustehen, stattdessen wischte sich Sebastian die Nase mit dem Ärmel ab.

„Er war nicht mehr da für mich und ich dachte, dass ich gehen sollte", gab ich zu. Im selben Moment konnte ich es hinter Sebastians Stirn arbeiten hören und dann sprach er aus, was ich befürchtet hatte: „Wenn... er für mich nicht da ist, darf ich dann zu dir kommen?"

Innerlich tat mir diese Frage weh, ich zwang mich zu lächeln: „Du darfst immer zu mir kommen, hörst du?"

„Dann will ich gleich bei dir bleiben!", verkündete er. Es war zwecklos. Für Sebastian existierte die logische Erklärung von Recht und Vormundschaft nicht. Wir blieben eine Weile liegen und nach einigen Minuten kroch Loki zu uns auf die Matratze.

„Dein Kumpel muss raus", sprach ich. „Vielleicht solltest du ihn erlösen." Widerwillig ließ Sebastian mich schließlich los und kroch aus dem Bett, allen voran, weil Loki ihn mittlerweile am Hosenbein zog.

„Aber du bist noch hier, wenn ich wiederkomme?", hakte er nach und ich setzte mich aufrecht hin.

„Großes Indianer Ehrenwort!", versprach ich und hob die Hand zum Schwur. Zögernd polterte er schließlich durch den Flur.

Die Stimmung blieb den Tag angespannt.

Ich konnte mich nicht richtig auf die Schnittmuster konzentrieren und Sebastian sah im Laufe des Tages immer wieder, wo ich mich aufhielt. Mit Louis sprach er nicht mehr, wahrscheinlich fühlte er sich verraten und von Liam hielt er nach wie vor Abstand.

Es gelang Niall schließlich Sebastian am Abend dazu zu animieren mit ihm mehrere Runden Mensch ärger dich nicht zu spielen. Auch Harry zeigte seine große Spaßseite und ich konnte förmlich sehen, wie er mehr und mehr dabei war, Sebastians Herz zu erobern. Alleine, wenn er übertrieben enttäuscht das Gesicht verzog, weil seine Spielfigur rausgeschmissen wurde, brachte er Sebastian zum Kichern.

In dieser Zeit machte ich meinen Küchendienst und hörte Nella und Liam miteinander reden. Vor Nella lagen unzählige Papiere und als ich Sebastians Namen vernahm, fragte ich: „Soll ich besser rausgehen?"

Unsicher sah Nella von mir zu Liam und letzter sprach schließlich: „Nein, ich... es wäre mir sogar lieber, wenn du dabei wärst." Ich ließ das dreckige Geschirr schließlich stehen und setzte mich zu ihnen an den Tisch.

Was folgte war eine Belehrung darüber, wie verzwickt das Rechtssystem für Kinder war und wie fahrlässig die Tante vom Jugendamt gehandelt hatte.

„Man müsste sie dringend anzeigen! Sie hat ihren Job absolut unprofessionell ausgeübt und Sebastian hätte sonst etwas passieren können, wenn er an jemanden geraten wäre, der nicht so gute Absichten gehabt hätte, wie Sophia", empörte sich Nella, nachdem ich ihr erzählt hatte, wie ich an den Jungen geraten war.

Sie schlug uns vor, dass wir jemanden aus der Kanzlei LG & Partner engagierten, der dem nachging, falls wir die Fahrlässigkeit anklagen wollten.

Dann erklärte Nella uns, was passieren würde, wenn Liam das Sorgerecht abgeben wollte. Ich war so empört, dass mir die Luft wegblieb. Aber da Liam nicht einen Ton sagte, sondern ihr in aller Ruhe zuhörte, verkniff ich mir meine harschen Worte.

Sebastian würde zurück ins System kommen.

„Normalerweise werden junge Kinder sehr schnell adoptiert oder werden in geprüften Pflegefamilien untergebracht, die selbst keine Kinder bekommen können, aber sich mit Hingabe drum kümmern", sprach Nella.

Ich sah an der Art, wie sie den Kugelschreiber zwischen den Fingern drehte, dass ihr diese Vorstellung trotzdem nicht behagte und kurz darauf wusste ich auch, warum. „Aber ich glaube, dass Sebastian zu alt ist, obwohl er erst fünf ist. Die meisten möchten Babys oder Kinder, die gerade ihren ersten Geburtstag hinter sich haben."

„Das heißt also", hakte ich nach „dass er ins Heim kommt?"

Nella nickte leicht: „Es heißt mittlerweile Kinderhäuser, oder Wohnheime, aber im Endeffekt ist und bleibt es ein Kinderheim." Sie neigte leicht den Kopf. „Ich will nichts Falsches sagen, denn es ist nicht mein Spezialgebiet. Aber ich kann euch versichern, dass ein Heimleben nicht einfach ist. Für manche Kinder ist es das Beste, was ihnen passieren konnte, für manche jedoch auch das Schlimmste. Ich meine, er war vorher schon in Pflege und-"

Weiter ließ ich Nella nicht sprechen, sondern fuhr prompt aus der Haut. „Wenn er dahin zurück muss, dann setze ich alle Hebel in Bewegung, um das zu verhindern! Hast du die blauen Flecken vergessen, die er hatte, als ich hier mit ihm ankam?" Nur über meine Leiche ging er dahin zurück.

Ich dachte an den mitgenommenen Jungen, den ich in die Wanne gesteckt hatte, an seine großen Augen, als er tatsächlich Jogurt essen durfte und wie genießend er seinen Tee getrunken hatte.

„Seine gesamte Wäsche war verkuddelt und er roch, als hätten sie ihn zwei Wochen nicht gewaschen! Richtig gegessen hat er auch nicht und-"

„Sophia", sprach Liam ruhig, doch ich hörte ihn nicht. Stattdessen schimpfte ich weiter: „Wer weiß, wie oft er 'die Treppe heruntergefallen ist' und was sie noch alles mit ihm gemacht haben! Bevor ich diesen Jungen sage, dass er dahin zurück muss, setzte ich mich lieber illegal und kriminell mit ihm ins Ausland ab! Da ist mir egal, ob ich dafür-"

Liam griff nach meiner Hand und in diesem Moment verstummte ich, denn seine braunen Augen bohrten sich in meine: „Er wird ganz sicher nicht zurück müssen, denn ich habe nie gesagt, dass ich die Vormundschaft an den Staat abgeben möchte."

Sein Gesichtsausdruck war ernst. „Ich wollte nur wissen, was passieren würde, falls ich es täte." Stumm sahen wir uns an und schließlich setzte ich mich wieder. Liam nahm seine Hand von meiner und die Stelle, wo er mich berührt hatte, hinterließ Wärme und kühlte aus.

Ein dummes Gefühl in mir wünschte sich automatisch, er hätte mich nicht losgelassen. Innerlich hasste ich mich dafür, dass ich diesen Wunsch hegte. Liam wandte sich wieder Nella zu und fragte: „Was passiert, wenn ich offiziell zusage, das Sorgerecht anzufordern?"

„Dann werden jede Menge Gutachter vorbeikommen. Man wird die Wohnung überprüfen, ob sie kindgerecht ist, ob es fahrlässig ist, ein Kind der betreffenden Person zu überlassen – was wir eigentlich schon als abgehakt betrachten könnten, nachdem, was die Tussi vom Jugendamt sich geleistet hat und natürlich ob das Umfeld stimmt, ob die Finanzen für ein Kind ausreichen. Dann kommt eine Überprüfung auf Vorstrafen und noch so ein paar Dinge." Nella holte Luft. „Es ist wirklich unglaublich aufwendig und es wäre nicht verkehrt, wenn du einen juristischen Beistand hast, nur für den Fall, dass irgendein Sachbearbeiter dir mit seiner Einschätzung Schwierigkeiten macht."

„Das sollte doch alles nur noch eine Sache von pro Forma sein, oder?", hakte ich nach. Denn Nella dürfte mittlerweile wissen, dass Liam finanziell ausgesorgt hatte. Zu meiner Überraschung schüttelte Nella den Kopf: „Nein, ich glaube nicht."

Automatisch beugten Liam und ich uns weiter vor und mein Magen krampfte sich zusammen. Nella drehte erneut den Kuli zwischen ihren Fingern. „Wie schon erwähnt, ich bin kein Profi auf diesem Gebiet, aber was ich definitiv weiß, ist das Liam zwei entschiedene Vorteile hat." Sie hob mit der freien Hand den ersten Finger: „Er ist nicht vorbestraft und er muss sich um Geld keine Sorgen mehr machen."

„Und was spricht dagegen?", fragte er.

Nella sah ihn an: „Ich war schon bei dir zu Hause, Liam und ich musst nicht einmal bis ins Innere gegangen sein, um zu wissen, dass eine kindgerechte Umgebung anders aussieht."

Liam runzelte die Stirn, doch Nella sprach genau das aus, an was ich prompt dachte: „Du hast doch sicher einen Pool. Ist er im Winter gesichert, wenn er leer ist? Wenn du einen offenen Kamin hast, wie geschützt ist das Feuer? Es sind lauter so Kleinigkeiten. Die Sachbearbeiter gehen nach einer Liste vor und glaube mir, diese Liste ist verdammt lang. Dazu kommt, ob bei dir in der Nähe ein guter Kindergarten ist, eine Schule, ein Spielplatz. Möglichkeiten, damit Sebastian sozialen Kontakt hat."

„Das ist nichts, was ich nicht ändern kann", erklärte Liam direkt. „Die Liste kann ich abarbeiten, durchgehen, wenn ich sie habe. Notfalls würde ich auch umziehen. Daran soll es wirklich nicht scheitern."

Nella lächelte: „Genau, das lässt sich regeln. Aber zwei andere Dinge bereiten mir etwas Sorgen, denn die lassen sich so schnell nicht ändern."

Sie verzog das Gesicht: „Beides hängt mit deinem Job zusammen. Dein Umfeld ist nicht das Beste. Harry und Zayn sind beide wegen Drogen aufgefallen und egal wie viel Wahres nun dran ist, sie haben ein Stigma an sich haften. Dann Louis, der durch die Clubs zieht und angeblich Steuern hinterzogen hat, was zwar widerlegt wurde, aber das sind definitiv Dinge, die schlussendlich vom Jugendamt gegen dich verwendet werden könnten. Lediglich Niall hat durch und durch die saubere Weste. Nach den Jungs werden sie weiter graben. Personenschützer, Produzenten, wer mit dir in der Klatschzeitung war. Es wird viel auf dich zukommen."

Langsam begriff ich erst, was Nella damit meinte, dass es nicht einfach werden würde. Ich sah schon die Sun vor mir, wie sie Sebastian in die Presse brachten, wie er irritiert über die Fotografen sein würde und dass ihn all dieses Chaos eher ängstigte. Es gab einen Kinderschutz vor der Presse, aber auch darum musste man sich kümmern.

„Das andere ist die Tatsache, dass du nicht viel zu Hause bist", machte Nella weiter. „Du hast einen sehr aktiven Beruf und sobald Sebastian in die Schule kommt, was sehr bald ist, wirst du ihn nicht mehr immer einfach so mitnehmen können."

Liam presste die Lippen aufeinander: „Dagegen kann ich nichts tun. Das ist nun mal mein Job. Aktuell sind wir sowieso nicht auf Tour-"

„Aber irgendwann werdet ihr es wieder sein", unterbrach Nella ihn. „Ganz sicher. Ich habe Harry reden hören. Im Moment haben andere Dinge Prioritäten, aber in ein, zwei Jahren wärst du dann wie oft zu Hause?"

„Bis dahin kann sich einiges ändern", hielt er dagegen und Nella nickte langsam: „Kann, kann aber auch nicht. Tut mir leid, Liam, ich will dich nicht verärgern-", was sie gerade durchaus tat, denn er wirkte wütend. „-aber wenn ich diesen Einwurf schon habe und ich stecke nicht mal mitten drin im Sorgerechtsstreit, dann wird das Jugendamt ebenfalls diese Argumentation ausrollen. Vor allem, wenn Sebastians Fall wahrhaftig vor Gericht geht und ein Richter verlässt sich ungerne auf Vermutungen."

Verärgert sprach Liam: „Und was soll ich deiner Meinung nachtun? Das ist etwas, daran lässt sich nichts rütteln. Die Jungs haben die Skandale an sich haften und ich reise viel. Das haben Musiker nun einmal so an sich!"

Eine unangenehme Stille breitete sich aus. Nella sah auf ihre Finger, schließlich räusperte sie sich. Sie wirkte unangenehm berührt und ein unsicherer Blick galt mir, ehe sie Liam schließlich fest ansah: „Nun ja, da gäbe es allerdings tatsächlich etwas... nur... also..."

„Was?", wollte Liam ungeduldig wissen.

Nella schluckte: „Wenn du verheiratet wärst, dann lägen die Dinge anders."

Wir starrten sie an.

Zögernd sprach Nella: „Wärst du verheiratet, dann wäre gewährleistet, dass Sebastian ein stabiles zu Hause hat. Er könnte der Schulpflicht nachkommen, hätte eine zweite Bezugsperson und Liam... du musst selbst zugeben, Sebastian ist nicht dein größter Fan."

Plötzlich brannten meine Wangen, meine Hände waren schweißnass. Was wollte sie damit wirklich sagen?

„Vielleicht... also... vielleicht...", druckste sie herum und sah von Liam zu mir und wieder zurück.

„Schlägst du mir hier gerade ernsthaft vor, ich soll Sophia darum bitten mich zu heiraten, weil es mir juristische Vorteile sichern würde?", entwich es ihm so trocken, dass ich eine Gänsehaut bekam.

„Ich schlage dir hier gar nichts vor!", redete Nella sich hastig raus und stand auf. „Das einzige, was ich tue, ist dir zu sagen, wie die juristische Lage aussieht und Fakt ist, eine Heirat würde dir nicht schaden."

In meinen Ohren rauschte es. Liam rieb sich über das Kinn und Nella teilte uns mit, dass sie uns jetzt besser erst einmal alleine ließ. Wir hörten, wie sie die Tür hinter sich schloss und obwohl Nella nicht allzu viel dazu gesagt hatte, wusste ich automatisch, wie sie die Dinge sah.

Sebastian und ich kamen wunderbar zurecht. Trotz seines kleinen Ausrasters am Mittag war es doch so, dass er mir vertraute. Gleichzeitig konnte ich, anders als Liam, im Notfall immer zu Hause arbeiten.

Niemand von uns sagte etwas. In meinem Kopf ratterte immer wieder dieser unglaublich dreiste Vorschlag hin und her.

Liam vergrub den Kopf in den Handflächen. „Das kann ich nicht machen!"

„Wieso nicht?", fragte ich überraschend ruhig und mit rasendem Herzklopfen. Ohne mich anzusehen, sprach er: „Ich wüsste nicht einmal, wen ich heiraten sollte. Die einzige Frau, die ich je ernsthaft gefragt hätte, bist du. Und dich kann ich jetzt nicht umso etwas bitten. Nicht, nachdem ich mich so verhalten habe, du ausgezogen bist und ich nicht einmal weiß, wieso du mich nicht zum Teufel jagst."

Leicht wandte ich mich ihm zu und befeuchtete meine trockenen Lippen mit der Zunge, dann, ohne richtig darüber nachzudenken, fragte ich ihn: „Aber prinzipiell würdest du, wenn wir... die letzten zwei Monate zwischen uns ignorieren würden?"

„Ich– was?"

Er sah mich vor den Kopf gestoßen an und ich schlug das Unglaubliche vor: „Wir könnten heiraten, ich meine zum Zweck. Sebastian würde somit offiziell bei dir bleiben und während du auf Tour bist, kümmere ich mich um ihn. Laut der Presse sind wir schon über drei Jahre zusammen. Nach außen wäre das perfekt und das Jugendamt findet keine Angriffsfläche."

Je weiter ich sprach, umso logischer erschien mir das Ganze. „Wir könnten sagen, wir bleiben erst einmal ganz offiziell drei, oder vier Jahre verheiratet. Bis dahin wäre Sebastians Umfeld stabil und sie können ihn dir nicht mehr wegnehmen. Dann, wenn wir das sicher wissen, können wir uns immer noch scheiden lassen, denn Scheidungen sind mittlerweile normal. Es geht ja zuerst einmal nur um die Anfangszeit."

Dass wir das Jugendamt eigentlich an der Nase herumführten, sprach ich besser nicht laut aus.

„Niemand wird auf die Idee kommen diese Ehe in Frage zu stellen, oder sie überprüfen zu lassen", sprach ich. Im Endeffekt eine Ehe, die auf eine Täuschung beruhte. „Wir würden uns nicht einschränken, könnten uns nach einiger Zeit mit anderen Leuten treffen, dass als gute Freunde verkaufen und ich kriege die Möglichkeit weiter Zeit mit Sebastian zu verbringen. Demnach würde auch für mich etwas dabei herausspringen."

Als ich meine lauten Überlegungen beendete, sahen Liam und ich einander an. Er sagte nichts dazu, aber in diesem Augenblick wusste ich, dass wir das tun würden. Es war ein todsicherer Plan, der kaum nach hinten losgehen konnte. An sich war er perfekt. Wir mussten nur eines tun.

Nämlich heiraten.



⸙ ● ⸙ ● ⸙




Ihr seid so großartig, danke, danke, danke für all eure Kommis! Ich habe sie alle gelesen, aber im Moment komme ich nicht zum antworten >_< das wird noch geschehen, aber ihr sollt wissen, dass ihr mir die stressigen Tage damit sehr versüßt.

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