13 Der Fall Elounor.


【 ELEANOR 】


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Nellas Blick so ungeschoren auf mir zu spüren, war nichts, was ich unglaublich prickelnd fand. Allen voran, weil sie die schreckliche Gabe hatte, einen Menschen gut am Verhalten lesen zu können. Wenn ich nicht gerade ihr Opfer war, hatte ich diese Fähigkeit immer mit Neid betrachtet. Überhaupt war ich zu Beginn öfter neidisch auf Nella gewesen. Sie war hübsch, fleißig und freundlich.

Bis ich sie zum ersten Mal im Gericht erlebt hatte.

Danach war Neid der Angst gewichen. Sie war ein menschlicher Alptraum, der seine Gegenspielerin der Luft zerfleischte und das auch noch mit Genuss. Von Freundlichkeit war keine Spur mehr zu finden.

„Lass deine Psychospielchen!", pampte ich sie an, denn ich hatte nicht wirklich Lust darauf, dass sie nun anfing mein Verhalten zu lesen. „Gieß das Glas voller und konzentriere dich auf Wichtigeres!"

Ich schwenkte das Rotweinglas in ihre Richtung, doch statt meinen Worten nachzukommen, musterte Nella mich nur umso gründlicher: „Weißt du, El, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich annehmen, dass du mich gerade angelogen hast."

Ich wollte mich schwungvoll aus dem Schaukelstuhl ziehen, als Nella es mir gleichtat. Ihre Augen funkelten: „Komm schon El, die ganze Wahrheit. Was ist schon dabei?"

Unsicher wich ich ihren Blick aus, dann trank ich das Glas aus und streckte den Rücken durch. Wie kam sie darauf, dass ich ihr nicht alles erzählte? Ich hatte das Thema Louis nie in ihrer Gegenwart angesprochen. Kurz holte ich tief Luft, dann sprach ich: „Da gibt es nichts, was ich ausgelassen habe. Ich habe Louis durch Harry kennengelernt und ehe ich mich versah waren wir plötzlich zusammen."

Dann war alles ganz schnell gegangen und schlussendlich auf das hinausgelaufen, was Nella schon wusste. „Glaub mir, wegen gewissen Vorzügen mit einem Kerl zusammen zu sein, ist manchmal nicht unbedingt schwer, oder schlecht."

Sie öffnete den Mund und ich zwang mich zu einem Lächeln. „Komm, sag mir nicht, dass du noch nie daran gedacht hast, eine Beziehung mit einem Klienten einzugehen, der finanziell bessergestellt war als du!"

Ich war eine schlechte Menschenleserin, deshalb vermochte ich Nellas Blick auch nicht zu deuten. „Wie auch immer, ich verschwinde ins Bett. Bis morgen früh."

Mehr schlecht als recht war ich ihrem Verhör entkommen und schlich die Treppen hoch bis in den zweiten Stock. Leise hörte ich die Hörspielkassette, die Sophia für Sebastian aufgetrieben hatte und versuchte lautlos bis zum Rekorder zu kommen. Wie es aussah schlief Sophia jetzt auch schon zu Benjamin Blümchen Geschichten ein. Der Rekorder verstummte und ich schlich genauso leise wieder aus dem Raum raus.

Ich kannte Sophia jetzt schon eine gefühlte Ewigkeit und die Art und Weise, wie Liam mit ihr umsprang behagte mir überhaupt nicht. Allerdings hatte ich auch den Anschluss bei ihnen verloren. Der Kontakt zu Sophia war zwar nach der Trennung von Louis aufrecht erhalten geblieben, aber wir hatten es vermieden über Beziehungen zusprechen.

Ich schlief schlecht auf der nackten Matratze und war viel zu früh wach. Langsam fragte ich mich, wie lange ich noch hierbleiben musste und ab wann die Versuchung zu groß wurde in Carlton's Mills ein Zimmer zu mieten. Ich wollte ein richtiges Bett, mit allem Drum und Dran. Meine Glieder waren steif und in meinem kurzen, weißen Nachthemd mit Rüschen, auf dem in roten, verwaschenen Buchstaben stand 'kill the bride', huschte ich leise die knarrenden Treppen herunter.

Noch war es still im Haupthaus und ein Blick auf die Uhr im großen Speisezimmer sagte mir, dass die ersten Handwerker erst in zwei Stunden kamen. Es roch nach Kaffee und als ich die Küche betrat, sah ich, dass jemand die alte Maschine bereits angeschmissen hatte.

Filterkaffee konnte nicht mit Starbucks mithalten, aber er belebte zumindest die Geister. Ich suchte nach einer bunten und leicht angeschlagenen Tasse, dann goss ich mir etwas von dem schwarzen Gold ein und kippte Milch hinzu. Leise gähnte ich und tappte auf die Veranda. Ich rechnete fest damit, dass Niall mal wieder als erstes wach war, so wie üblich. Früher war er kaum aus dem Bett zu prügeln gewesen, jetzt schien er den Tag schon begrüßten zu wollen, bevor er überhaupt angefangen hatte. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht mit ihm.

Die Schatten unter seinen Augen und die Anspannung, die seinen Körper beherrschten, passten absolut nicht zu ihm. Zwar hatte auch ich vor fast zwei Jahren von dem Unfall mitbekommen, aber ich hätte nie gedacht, dass er Niall so lange im Griff haben würde. Es war, als hätte der Unfall irgendwo bei ihm einen Schalter umgelegt. Einen Schalter, der ihn zu einem ganz anderen Menschen machte.

Noch bevor ich die kühle Morgenluft an meinen Beinen spürte, blieb ich mitten im Türrahmen stehen. Mit beiden Händen hielt ich die warme Tasse fest und sah auf einen Rücken, dessen Muskelspiel ich wohl blind nachzeichnen konnte.

Louis drehte sich nicht einmal um, als ich an ihm vorbei ging und mich auf einem der Schaukelstühle niederließ. Stattdessen zog er an seiner Zigarette und atmete genüsslich das Nikotin ein. Dann nippte er an seinem schwarzen Kaffee. Er trank ihn nie anders. Nach fast vier Jahren Beziehung wusste ich solche Kleinigkeiten einfach.

Stumm sah ich auf den Morgentau und den klaren See. Kenwood Park war wirklich wunderschön, so ruhig und friedlich. Zwar erschreckend einsam, aber der Ort kam mir vor, wie ein verstecktes Fleckchen Erde. Leicht schaukelte ich auf und ab und gerade, als ich mich mit der Ruhe abgefunden hatte, vernahm ich Louis' sarkastische Stimme.

„Kill the bride. Bist du nicht zu alt, für solche Witze?"

„Zumindest habe ich meinen charmanten Humor, im Gegensatz zu dir, noch nicht verloren", antwortete ich prompt und vermied es ihn anzusehen. Er schnaubte, dann erhob er sich langsam: „Charme ist auch das einzige, was du hast."

Das glaubte er wohl selbst nicht. Ich neigte leicht den Kopf. „Komisch, ich kann mich an Momente erinnern, da waren mein Arsch und meine Brüste auch nicht gerade übel."

„Ich hatte einen lausigen Geschmack", meinte Louis nur und ich lachte höhnisch: „Als wenn der sich mit all deinen Bunnys gebessert hätte. Sag, hast du ihnen die kosmetischen Eingriffe bezahlt, oder mussten sie selbst dafür blechen?"

Bevor Louis jedoch antwortete, ertönte eine dritte Stimme. „Müsst ihr euch schon wieder anzicken?"

Niall hatte sich ebenfalls mit einer Tasse Kaffee zu uns gesellt und stand gähnend im Türrahmen. „Eigentlich dürfte man euch nicht einmal ohne Wache schlafen lassen, weil man ständig Angst haben muss, dass ihr euch im Schlaf die Kehle aufschlitzt."

„Es ist ein Kind im Haus, mein Blutdurst hält sich also in Grenzen", murrte Louis, als er an Niall vorbei ging. Der Ire strich sich durch das blonde Haar und seufzte. Er sah furchtbar aus und ich fragte mich, ob man ihm nicht irgendwie helfen konnte. Tabletten schluckte er genug, das hatte ich schon beobachten dürfen.

Niall setzte sich in den anderen Schaukelstuhl. Sein grünes Shirt wirkte etwas zu groß, aber ich war mir sicher, dass es ihm einst wirklich gut gepasst hatte. „Könnt ihr keinen Waffenstillstand schließen, El? Zumindest so lange, wie ihr hier verweilt."

„Ich finde, ich schlage mich gut dafür, dass er mir ständig irgendwelche Giftspritzen entgegenwirft", empörte ich mich. „Was erwartest du? Dass ich mich ihm vor die Füße werfe und um Verzeihung flehe? Selbst dann bezweifle ich, dass Louis damit aufhören wird."

„Angesichts der Tatsache, dass du all die Giftspritzen verdient hast", warf Niall ein, „solltest du wirklich froh sein, dass Louis diesen Krieg verbal mit dir austrägt. Ich wüsste nicht, ob ich dich nicht an seiner Stelle schon gegen die Wand geklatscht hätte."

Die Worte klangen kalt, aber dafür ehrlich. Ich wusste, dass Niall die Details kannte. Zumindest Louis' Details. Er war nicht Nella und teilweise war ich darum wirklich froh. Mir war es lieber, er glaubte all das, was Louis ihm erzählt hatte. Diese Wahrheit klang selbst in meinen Ohren besser als das, was ich mir selbst verkaufte.

„Aber das muss wirklich aufhören", verkündete Niall trocken.

Ich sah ihn an und bemerkte, dass er auf den See blickte. „Wieso sollte das aufhören, Niall? Louis hat allen Grund am Hass festzuhalten." Ich würde es an seiner Stelle schließlich genauso tun. „Glaubst du wirklich, er würde irgendwann aufhören mir die Abneigung entgegen zu schleudern?"

Niall drehte leicht den Kopf. Auf seinen Lippen lag ein gezwungenes Lächeln: „Es spielt überhaupt keine Rolle, was ich glaube. Ich weiß allerdings eines, nämlich dass irgendwann der Zeitpunkt kommt, an dem man es gut sein lässt."

Seine Worte hätten mir zu denken geben sollen, aber das taten sie nicht. Stattdessen tat ich sie mit einen Schulterzucken ab. So lange, bis ich nach dem Frühstück angezogen in die Küche kam. Sophia von Sebastian verlangte draußen zu spielen und ich alle vollständig am Tisch versammelt sah. Vor Nella lag eine große Karte und ich bemerkte auf den ersten Blick, dass es Kenwood Parks Gelände zeigte.

„Das mache ich nicht!", sprach Louis pissig. „Das könnt ihr alle vergessen. Wenn ich bis zu diesem Cottage wandern soll, dann nehme ich jeden mit, aber niemals sie!" Es stand außer Frage, wer damit gemeint war.

Ich.

Niall verschränkte genauso wie Louis, die Arme vor der Brust. Ich hatte sein Gesicht noch nie so ernst und unnachgiebig gesehen. „Nella kann dich nicht begleiten, ihr Knöchel war erst verstaucht und hält einer solchen Belastung noch nicht stand."

An dieser Stelle verschwieg ich besser, dass Niall selbst daran schuld war. Immerhin hatte er ihr das Leben und vor allem die Arbeit in London ziemlich schwer gemacht.

„Sophia kann nicht, weil sie der Vormund von Sebastian ist. Wenn ihm etwas passiert, dann weißt man ihr die Verletzung der Aufsichtspflicht nach."

Das hatte er hundert pro von Nella und langsam machte sich das Gefühl bei mir breit, dass Niall einen Plan verfolgte, den er bombensicher mit zwei Komplizen abgesprochen hatte. Er setzte nämlich einen drauf: „Ich würde mit dir ja losziehen, aber eigentlich wollte ich nicht unbedingt in den Wäldern testen, wie fit ich wirklich bin."

War er nicht der Wahnsinnige, der abends laufen ging, oder hatte ich mir das nur eingebildet? Zugegeben, Nialls Gesundheit konnte ich wirklich nicht einschätzen.

„Außerdem kann Eleanor Karten lesen", schob Sophia nach. Sofort warf ich ihr einen wütenden Blick zu, dass sie mich so in die Pfanne haute. Nella war nicht viel besser: „Irgendeiner muss anfangen, die Cottages abzulaufen. Es sind doch nur zwei und wenn ihr euch ranhaltet, dann seid ihr übermorgen wieder da."

Zwei bis drei Tage Fußmarsch? Danke auch. „Ich finde, dass sollte jemand mit mehr Erfahrung machen", sprach ich und mischte mich zum ersten Mal ein. „Ein Förster, oder jemand aus Carlton's Mills, der sich in Wäldern auskennt."

Nella schnaubte: „Es ist ja nicht so als müsstet ihr Felswände hochklettern. Der Weg ist vorhanden, vielleicht schlecht, aber ihr seht, wo ihr langlaufen müsst. Jetzt stellt euch nicht so an. Ihr müsst ja nur schweigend hintereinander herlaufen. Schauen, in welcher Verfassung die beiden Cottages auf der Ostseite sind und ein paar Fotos machen. Dann kommt ihr wieder zurück. Wenn ihr ein strammes Tempo anschlagt, dann seid ihr schneller wieder hier, als ihr glaubt."

Louis' Begeisterung hielt sich in Grenzen und dann packte Nella das ultimative Druckmittel aus: „Ich würde mich anbieten, mit Harry zu reden, sodass sämtliche Konten wieder freigeschaltet sind, wenn ihr zurückkommt."

Stille breitete sich in der Küche aus. Dann löste Louis seine verschränkten Arme, sah alle der Reihe nach wütend an und stampfte an mir vorbei. „Bewege deinen Arsch, in einer Stunde brechen wir auf."

„Wieso sollte ich?", entfuhr es mir. Immerhin hatte Harry nicht mein Konto gesperrt. Doch falls ich geglaubt hatte, dass man mir nicht die Pistole auf die Brust setzte, so hatte ich mich geirrt.

Nella lächelte freundlich und ich kannte diese Art des Lächelns. Es verhieß nichts Gutes. Dasselbe hatte sie auf, wenn sie im Gericht dabei war, den angeblich so wichtigen Zeugen zu verhören und in Stücke zu hacken.

„Warte, ich will es lieber nicht wissen", ich hob die Hand und beschloss, dass es besser war, sich nicht in die Enge treiben zu lassen. „Gibt es etwas, was ich unbedingt mitnehmen sollte?"

Meine entgegenkommende Art sorgte zumindest dafür, dass Sophia und Nella mir beim Packen halfen. Warme Kleidung, vor allem alles was praktisch war, feste Wanderschuhe und nur das Nötigste fanden den Weg in einem Trecking-Rucksack. Immerhin musste ich das Ding tragen. Ein Schlafsack kam dazu und offen gesagt war ich recht froh, das Louis Essen und Wasserflaschen zugesteckt bekam und ich dafür Streichhölzer und Notfalltelefon, mit dem ich angeblich überall Empfang haben würde.

Auf der Karte hatte Nella eingezeichnet, wo wir Trinkwasser auffüllen konnten, aber sie wies darauf hin, dass wir es erst prüfen mussten. Ich ließ mir erklären wie und am Ende war mein Rucksack trotzdem noch schwer. Aber ich konnte keine weitere Last zurücklassen. Den einzigen Trost, den ich hatte, war, dass Louis' Rucksack schwerer war.

Frogmore Cottage war unser erster Halt, dann kam Primrose Cottage, beide Namen fand ich etwas fragwürdig. Ohne mich groß zu verabschieden, stampfte ich schlussendlich hinter Louis her. Die Haare hatte ich zu einem Zopf gebunden und eine Mütze saß auf meinem Kopf, da es angeblich kälter werden würde, je höher wir stiegen. Ohne Rücksicht zu nehmen, schlug er wirklich ein ziemlich hohes Schritttempo an und ich weigerte mich, mich zu beschweren.

Diese Genugtuung wollte ich ihm nicht geben. Unter meinen Füßen knirschte der Kieselsteinweg und konzentriert versuchte ich einem Schritt vor dem nächsten zu machen. Zuerst ging es nur um den See herum, dann mussten wir nach einer Stunde abbiegen.

Der Wald war dicht und dunkel, doch ich ignorierte das, genauso, das Louis mir eindeutig zu schnell ging. Stumm sah ich auf seinen Rücken und mir wurde schmerzlich bewusst, wie sehr ich es vermisste unbekümmert mit ihm umzugehen. Mit ihm zu über dieselben dämlichen Witze zu lachen und einfach nur seine Anwesenheit zu genießen. Aber ich war selbst schuld, dass ich all das zerstört hatte, indem ich selbstsüchtig gewesen war.

Wir schwiegen eisern. Nach einiger Zeit hörte ich nur noch mein eigenes Schnaufen und spürte Schweiß an meiner Schläfe laufen. Hin und wieder stolperte ich über eine Wurzel und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass es mich störte, wenn Louis einfach so irgendwelche Äste, die er für sich aus dem Weg schob, zurückpeitschen ließ.

Mehrmals erschrak ich mich und einmal taumelte ich sogar zurück, weil der Ast nur knapp mein Gesicht verfehlte. Nach fast einer halben Ewigkeit hielt Louis das erste Mal bei einem umgeknickten Baum an und setzte den schweren Rucksack ab. Ich hatte fast jedes Zeitgefühl verloren, dafür aber begriffen, dass er nur so ein Tempo anschlug, um möglichst schnell wieder zurück zum Haupthaus zu wandern.

Es war sicher sinnlos zu erwähnen, dass ich nicht glaubte, dass wir beide Häuser in 24 Stunden abwanderten. Denn als ich das letzte Mal auf die Karte geschaut hatte, war mir klar geworden, dass wir mehr, als nur zwei Tage unterwegs sein würden.

Mittlerweile zitterten meine Beine und ich wollte den Trekking-Rucksack am Baumstamm absetzten, doch stattdessen gaben meine Beine nach und ich landete auf dem Waldboden. Es war mir egal, ebenso, dass mein Gesicht vor Anstrengung glänzte und ich keuchte.

Ganz langsam lockerten sich meine Waden und ich schaffte es, mich von meinem Rucksack zu befreien. Bewegen konnte ich mich trotzdem kaum. Ich hatte eine erbärmliche Kondition. Seit ich für die Kanzlei arbeitete, bestand mein Sport nur noch aus Akten sortieren, Telefondienst machen, Kalender in Schuss halten und am Wochenende feiern gehen. Joggen und Krafttraining wurde überbewertet. Ohne auch nur das Wort an mich zu richten, stellte Louis neben mir die Wasserflasche ab und ich nahm sie dankbar an.

Gott, tat das gut.

Konnten wir nicht einfach hierbleiben und uns gar nicht mehr bewegen? Ich wusste nicht, wie lange wir einfach nur da saßen, sich meine Muskeln entspannten und ich wieder dazu kam, ruhig zu atmen. Viel zu früh erhob sich Louis jedoch wieder und wollte den Weg fortsetzen.

Ich brauchte zwei Anläufe, bis ich es schließlich wahrhaftig schaffte, mir den Rucksack wieder aufzusetzen. Es war zu erwarten, dass Louis mir nicht half, noch sein Tempo drosselte. Stattdessen schnaufte ich wie eine Lok. Nachdem es jedoch bergauf ging, konnte ich nach eineinhalb Stunden nicht anders und keuchte: „Können wir etwas langsamer gehen?"

„Nein, wir müssen ankommen, bevor es dunkel wird", war Louis' knappe Antwort. Ich fiel demnach zurück. Erst war es nur ein Meter, dann zwei und eh ich mich versah, konnte ich ihn vor mir nicht mehr ausmachen. Der Weg war steil, hin und wieder rutschte ich aus und bald hörte ich nichts anderes mehr als meinen viel zu lauten Atem und das Knirschen unter meinen Füßen.

Ich war allein.

Weit und breit war niemand zu sehen und schlussendlich, als meine Lungen schmerzten, blieb ich einfach stehen. Mittlerweile befand ich mich nicht mehr im Wald. Es waren nur noch Büsche, Stückweise Wiese zusehen.

Auf einem Stück Fels ließ ich mich nieder und sah über die wunderschöne Aussicht. Ich konnte den See überblicken, allerdings nirgends das Haupthaus finden. Die Bergspitzen wirkten nun unglaublich nahe und ich fragte mich, wo genau ich mich befand und ob der See einen Namen hatte.

Erschöpft rieb ich mir über die Stirn und fragte mich, wie zum Teufel ich hier landen konnte. Nie hätte ich zu träumen gewagt Louis oder einen der Jungen je wieder zu sehen. Jetzt saß ich fest und es wurde von Minute zu Minute schlimmer. Am liebsten würde ich zurück nach London fahren und meinem normalen Alltag nachgehen.

Stattdessen stemmte ich mich mit aller Kraft wieder auf und versuchte meine erschöpften Beine unter Kontrolle zu halten. Mittlerweile schnitten mir die Träger in die Schulter. Zumindest tat mir der Trekking-Rucksack weh und ich sehnte mich danach, endlich zu diesem blöden Frogmore Cottage zu kommen.

Zu meinem Glück ging der schwache Pfad ein wenig Bergab und dann, nach einer weiteren Stunde Fußmarsch sah ich es endlich. Das verfluchte Cottage. Schon von weitem sah ich, dass es so groß war, wie eine Streichholzschachtel.

Ein Wunder, dass es noch nicht ineinander gefallen war. Regungslos blieb ich auf der Lichtung stehen und sah Louis dabei zu, wie er seinen Rucksack absetze und die Tür und Fensterläden öffnete.

Mir war zum Heulen zumute. Teils wegen der Erschöpfung und teils wegen der gesamten Situation. Wie sollte ich die nächsten zwei Tage auf so engen Raum mit ihm aushalten, ohne nicht die Nerven zu verlieren?

Langsam, fast im Schneckentempo schleppte ich mich zum Gottage. Mir schmerzte jeder Knöchel und ich sehnte mich nach einer heißen Wanne. Fertig mit mir selbst, ließ ich mich auf der Steinbank vor dem Gottage nieder und machte erst einmal gar nichts mehr.

Von drinnen hörte ich Louis rumpeln. „Wir brauchen Holz."

Was hieß: Du bist dafür zuständig. Ohne nachzudenken, stand ich wieder auf. Ich hatte keine Lust, mich mit Louis zu streiten und ihm zusagen, dass er das genauso gut machen konnte. „Alles klar", war das einzige, was ich dazu sagte, aber ich bezweifelte, dass er mich hörte.

Um nicht an meine schmerzenden Muskeln zu achten, summte ich während des Sammelns vor mich hin. Der Wind wurde stärker und ich beobachtete mit Sorge, dass der Himmel immer dunkler wurde, so als würde ein Unwetter aufziehen.

Ich versuchte etwas schneller zu arbeiten und nachdem ich dreimal Holz in die Hütte gebracht hatte, konnte ich endlich eine richtige Pause machen. Die Hütte war klein. Es gab nicht viel außer einen Tisch und zwei wackelige Stühle, dazu eine Matte und einen alten Steinkamin. An der Wand in einem Regal hatte ich Blechdosen und Krüge gesehen. Hinter der Hütte befand sich eine Art Wanne mit Regenwasser-Reste.

Dort zog ich mir die Mütze vom Kopf und öffnete die Wanderjacke. Es tat gut sich halbwegs waschen zu können, auch wenn das Wasser eiskalt war. Ich ließ mir Zeit und humpelte schließlich in die Hütte, der Wind blähte mich quasi hinein.

„Mach die Tür zu", schallte es mir trocken entgegen und ich bemerkte, dass Louis die Fensterläden wieder geschlossen hatte.

Louis hatte den Rucksack schon halbwegs ausgepackt und dann fiel mir etwas ein: „Meinst du, es ist gefährlich, wenn wir hier oben bei einem echten Unwetter sind?" Hinter mir drückte ich die Tür zu und dann hörte ich es donnern und den Wind an den Fensterläden rütteln.

„Kann jetzt egal sein, wir kommen hier eh nicht mehr weg", meinte Louis nur. Ich ließ mich auf den Boden vor dem Kamin fallen, schälte mich aus dem dicken Pullover und kämpfte mich schließlich aus den festen Wanderschuhen.

„Außer du tust uns den Gefallen und trittst den Rückweg an. Wenn du dich beeilst, bist du morgen früh am Haupthaus."

Ich ließ die Schuhe geräuschvoll zu Boden fallen und seufzte tief: „Kannst du damit aufhören?"

„Nein."

„Fein, dann mach weiter, mit diesem kindischen Scheiß", ich setzte mich aufrecht hin und besah den Proviant, den man uns mitgegeben hatte. Stockbrot und ein paar Dinge, die man in einer alten Pfanne heiß machen konnte. Im Kamin wurde das Feuer langsam größer. „Louis, es tut mir leid, okay? Aber es ist ja nicht so, als wäre ich allein schuld daran, dass es so scheiße zwischen uns ausgegangen ist!"

„Also willst du mir jetzt ernsthaft erzählen, dass ich Schuld daran habe?", er sah mich so spöttisch und überheblich an, dass es mir das Herz zerriss. Ich hörte auf damit meine müden Füße zu massieren, stattdessen sah ich ihn einfach nur an. Der harte Zug um seinen Mund behagte mir nicht. Ich wollte die Hand heben und die kleine Falte zu berühren, so als könnte ich sie wegstreichen.

Stattdessen regte ich mich nicht und presste bitter die Lippen aufeinander. Louis stand auf und rollte seinen Schlafsack aus. Ich atmete tief durch, dann sprach ich erstaunlich fest: „Ja, ich behaupte einfach mal, du hast ebenso Schuld dran."

Er musterte mich und ich setzte hinzu: „Meinst du, ich weiß nicht, was du getan hast?"

Obwohl Louis mir nicht antwortete, sah ich in seinem Gesicht, dass ich vollkommen ins Schwarze getroffen hatte. In diesem Moment wusste ich nicht, was mir mehr weh tat. Die Tatsache, dass ich ihn erwischt hatte oder er es wirklich getan hatte.

Donner war zu hören und der Wind schien in einer leisen Vorahnung anzukündigen, dass die Nacht nicht so ruhig verlaufen würde, wie ich es mir wünschte.




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