10 Seelenpanik.


【 ANTONELLA 】


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Hätte man mir vor vier Monaten gesagt, dass ich mal nach der Laune eines überbezahlten Popstars tanzen würde, so hätte ich ihn laut ausgelacht. Jetzt musste ich lediglich feststellen, dass sich meine Prioritäten verändert hatten. Statt irgendwelche Politiker, alten Adel oder gut betuchte Geschäftsmänner zu vertreten, dehnte ich ein wenig die Spannweite des Rechts.

Nur zu gerne war Niall Harrys Plan nachgegangen und hatte am Telefon gegenüber den Anwälten des Managements hysterisch ein paar Unwahrheiten fallen gelassen.

Er war ein grandioser Schauspieler, denn mit meiner Hilfe war er vage geblieben und hatte sich an eine rechtliche Grauzone gehalten. Trotzdem hatte das Management keine andere Wahl gehabt, als seinen Verdacht erst einmal nachzugehen und somit sämtliche Konten zu sperren.

Der erste Anruf hatte schließlich nicht lange auf sich warten gelassen. Louis Tomlinson, der Partykönig von London, hatte sich die Ehre gegeben. Ich war diesem Tomlinson immer noch gräm wegen der traumatischen Erfahrung im Nachtleben, die ich hatte machen müssen.

Unter dem Strich konnte er zwar nichts für mein lebensmüdes Abenteuer, aber irgendjemanden musste ich schließlich die Schuld geben.

Die Art und Weise, wie Niall gelassen auf den Stufen der Veranda gesessen hatte, mit einer Tasse Tee in der einen Hand, mit dem Handy in der anderen und diesem Louis in aller Ruhe erklärte, was zu tun sei, zeigte mir, dass er mehr als nur schadenfroh war.

„Was für eine Hysterie, es ist doch nur Geld", war seine Aussage gegenüber von Sophia, als er ihr dabei half, das Frühstück wegzuräumen.

Die Aussage war banal und nein, Geld war nicht nur Geld. Es war ein Status, eine Möglichkeit das Leben vielseitiger zu gestalten. Aber die Tatsache, dass es für Niall Wichtigeres gab, ließ mich stutzen. Doch gleichzeitig hätte mich das nicht überraschen sollen, denn allein sein Haus in London stand für Bodenständigkeit.

Trotzdem fiel mir in diesem Augenblick auf, das Geld wirklich noch nie ein Thema während der Tage gewesen war, in denen ich jetzt schon mit ihm unterwegs war. Es ging immer nur um das eigentliche Ziel.

Die Aufgabe zu erfüllen.

Harry teilte mir mit, dass ich mich nach Koch- und Backbüchern umsehen sollte. Da ich zu Hause in London, in meiner Wohnung eine ganze Kiste davon hatte. (Kochen für Dummies, Kochbuch des Todes, Fun Food: Kreative Ideen aus der Küche, Und mit Essen spielt man doch! Das Männerkochbuch – ich hatte sie alle.)

Denn immer, wenn Samuel bei mir Halt gemacht hatte und sich eigentlich den Bauch vollschlagen wollte, hatte ich ihn mit Tiefkühlpizza, Tütensuppen, Instandnudeln und abgelaufene Jogurts abgespeist. Schlussendlich führte das dazu, das er mir im Besuch darauf ein Koch- oder Backbuch mitbrachte.

(»Und trotzdem hast du nicht einmal deine Nase aus deinen trockenen Unibüchern genommen und reingeschaut, wie man eine Bratensoße macht.«)

Ich hielt mitten in meiner Bewegung inne und ließ die Unterlagen sinken. Gerade erst hatte ich Eleanor angerufen und gebeten, dass sie mir unter die Arme griff. Schließlich hatte mein Vorgesetzter, Mr Lee, durchsickern lassen, dass sie zu meiner Unterstützung kommen durfte.

Für juristische Fragen brauchte ich sie nicht, aber jemanden, der in all dem Chaos, das bald auf uns zukommen würde, den Überblick behielt, wäre nicht verkehrt.

Langsam ließ ich mich auf dem wackeligen Stuhl in der Küche zurücksinken. Lange hatte ich Samuels Stimme nicht mehr gehört. Manchmal hasste ich es, manchmal war sie jedoch auch unglaublicher Trost.

Obwohl er seit über einem Jahr tot war, fühlte es sich hin und wieder immer noch an, als würde er jeden Moment völlig überdreht durch die Tür kommen. Aber stattdessen hörte ich nun lautes Kindergetrammpel.

Sebastian sauste durch den Flur, ihm folgte laut bellend Loki und dann hörte ich Sophia rufen: „Aber ihr geht nur so weit weg, wie ihr das Haus sehen könnt, habt ihr verstanden?"

Loki bellte, von Sebastian kam keine Antwort. Dann schlurften drei Klempner ins Haus und ich stand auf, um ihnen zu zeigen, was sie alles kontrollieren sollten. Der Älteste von ihnen, ein grauer, dürrer Mann namens Hank grunzte immer etwas, wenn ich ihm etwas erklärte.

Seine beiden Söhne, groß und ebenso schlank, machten auf mich in ihren Blaumann-Anzügen keinen besonders hellen Eindruck. Aber sie sollten ja schließlich nur Rohre überprüfen und keinen Intelligenzwettbewerb gewinnen.

Wenig später konnte ich jedoch beobachten, wie Sebastian einem der Söhne folgte und dieser dem Jungen genau zeigte, was er tat. Loki, der sich zu Sebastians neuen Bodyguard ernannt hatte, nahm ebenfalls an dieser Lehrstunde teil.

Belustigt sah ich mit an, wie der Junge völlig aus dem Häuschen geriet, als Bob Weston ihn darum bat, ihm einen bestimmten Schraubenschlüssel zu reichen. „Den, mit nem' roten Griff."

Der Hungerhaken mit der großen Nase schien es mit der englischen Grammatik nicht so zu haben, dafür aber ein Händchen für neugierige Kinder.

Sophia behielt die Männer im Auge und ich huschte schließlich auf die Veranda, wo die Handwerker angekommen waren. Der kleine Familienbetrieb von Mortimer 'Morty' Flickman war schließlich beauftragt worden.

Morty, ein kleiner, pummeliger Mann mit einem Walross-Schnauzer war bereits am Vortag da gewesen und hatte sich die erste Baustelle angesehen. Er wies seine Männer an, den Pick-up auszuladen. Heute würden sie schließlich die Bretter der Veranda abschleifen und je nachdem wie weit sie kamen, auch gleich mit dem Geländer weiter machen.

Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte Morty schließlich Niall, der ihnen unbedingt helfen wollte. Ich konnte mir ein Kichern nicht verkneifen, denn ich verstand durchaus, was Mortys Blick zu bedeuteten hatte.

Wahrscheinlich dachte er: „Was soll ich mit nem' Jungen, der noch nie in seinem Leben schwer zugepackt hat? Macht mir bestimmt nur Ärger, als dasser mir nützt."

Der erste Handwerker zeigte Niall schließlich, welche Handschuhe er tragen musste, was sie vor hatten und wo sie anfangen würden. Ich begrüßte Morty, denn als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war in Carlton's Mills das Stadtfest gefeiert worden und meine Granny hatte unbedingt hingewollt. Sie war immerhin ein regelmäßiger Gast von Duke Lankford gewesen.

„Antonella!", rief Morty und umarmte mich herzlich. „Mein Mädchen, das ist aber ne' Überraschung. Was machst du hier?"

Ich erklärte ihm, dass ich Niall unterstützte. Morty musterte denn blonden Mann, dann legte er einen Arm um meine Schulter und räusperte sich, ehe er leise fragte: „Er wird hier doch nich bau'n?"

„Nein, nein. Das ist das Letzte, was er tun würde", meinte ich schmunzeln. „Er ist ganz okay, zeig ihm nur nicht, wie man eine Kettensäge benutzt." Ich zwinkerte und prompt grinste Morty, dann wandte er sich an seine Jungs und brummte: „Woll'n wa ma anfangen, nech?"

Die freie Zeit nutzen Sophia und ich schließlich, damit wir auf dem Dachboden sortieren konnten. Wir hatten dort viele Möbel gefunden und es wurde Zeit, dass diese erschreckend kargen Räume ein bisschen gefüllt wurden.

Alte Bilderrahmen mit kitschigen Motiven fanden den Weg in den Flur. „Aber wir tauschen die Bilder auf jeden Fall aus!", merkte Sophia direkt an. „Den weinenden Jungen hier, den kann man sich ja nicht ansehen."

Vorsichtig schafften wir schließlich mehrere Schaukelstühle von Dachboden, bauten eine Kommode auseinander und fanden unter den weißen Tüchern abgedeckt, altmodische, aber bequeme und gut erhaltende Ohrensessel.

Mittlerweile hatten Sophia und ich sämtliche Dachfenster geöffnet und Schweiß lief uns über den Rücken. Viele Möbel waren klassisch zeitlos und würden sich wirklich gut in den Zimmern machen, wenn man sie strich und ein bisschen überholte.

„So gerne ich die Sessel im Raum neben der Küche haben will, ich glaube nicht, dass wir sie die Treppe runter bekommen", merkte Sophia an. Lose Haarsträhnen umrahmten ihr Gesicht und sie wischte sich mit dem Arm über die Stirn. Ich zog ein weiteres weißes Laken weg und stellte fest: „Von der Couch ganz zu schweigen."

Unzählige Kisten standen an der Wand und neugierig fingen Sophia und ich an, sie zu öffnen. Zum Vorschein kamen Unmengen an Bücher, Vasen und schließlich Barren voller Stoffen.

„Es sieht so aus, als hätte dieser Duke vorgehabt Kenwood Park neu zu gestalten", stellte Sophia fest und ich blinzelte, als ich den alten Plattenspieler entdeckte. Meine Granny hatte auch noch so einen. Ich robbte zur nächsten Kiste, aber falls ich geglaubt hatte, ich würde die passenden Platten dort finden, so hatte ich mich geirrt.

Wir kämpften uns vor.

In den letzten Stunden hatten die Handwerker ordentlich etwas geschafft, denn die Veranda sah großartig aus. Sie musste nur noch mit Lack gestrichen werden und dann war sie bereit für den ersten Ansturm.

Hank & Sons hatten sämtliche Rohre überprüft und diejenigen, die es gebraucht hatten repariert. Wenn es so weit war, dann wollte Niall sie wieder verpflichten, damit sie sich über die Cottages her machten.

Während der Zubereitung des Abendessens wollte ich mir von Sophia zeigen lassen, wie sie den Flammkuchen machte. Aber bereits nach fünfzehn Minuten schmiss sie mich aus der Küche. „Nella, du bist schlimmer als Louis und das soll schon etwas heißen!"

„Du übertreibst!", versuchte ich mich rauszureden, doch sie hob empört den Schneebesen in die Höhe: „Ich übertreibe? Kennst du den Unterschied zwischen weißen und braunen Zucker?"

Ich blinzelte sie an: „Es gibt braunen Zucker?" Davon hatte ich noch nie gehört. Jedoch war meine naive Aussage Grund genug, dass Sophia mich schlussendlich aus der Küche warf.

Wie unhöflich.

Ich ging meine neuen Nachrichten auf dem Handy durch und stellte fest, dass meine drei Brüder heute eine Skype-Runde machen wollten. Jeder lebte in einem anderen Land und wir sahen uns nicht allzu oft. Ich kam damit zurecht, denn das nicht hieß, dass sie sich nicht trotzdem übermäßig in mein Leben einmischten.

Es war ein schönes Gefühl später mit einer Gruppe zu essen. Zuerst war es mir nicht aufgefallen, aber mittlerweile genoss ich es mit anderen zusammen zu speisen. Sebastian, wie er neugierig Fragen stellte, Niall, der immer wieder Nachschlag nahm und Sophia, die Ideen für das Haupthaus zum Besten gab.

Danach wechselte sich das Thema, das dringend ein Fernsehanschluss hermusste, dann wurde über die Fortschritte orakelt und schließlich beschwerte sich Niall, dass er auf Zuckerentzug war.

„Wir haben nicht einmal Nachtisch."

„Iss einen Apfel", konterte Sophia trocken und Sebastian fragte treuherzig: „Darf man auch einen Jogurt essen?" Er zischte ab und nachdem wir den Tisch abgeräumt hatten und jeder endlich seinen Interessen nach ging, zog ich mich auf die frisch gestrichene Veranda zurück.

Dort wuchtete ich einen Schaukelstuhl und einen kleinen Beistelltisch nach draußen und huschte die Treppen zu meinem Schlafraum hoch. Eine nackte Matratze lag auf dem Boden, sowie mein offener Koffer und meine Laptoptasche. Ich hatte mir lediglich einen Stuhl vom Dachboden abgezweigt, um dort ein paar Dinge ablegen zu können. Wie einen Wecker und eine kleine Lampe. Daneben stand eine blaue Taschenlampe. Ich fand nachts, wenn ich zur Toilette musste, nicht immer direkt den Lichtschalter.

„Rück's raus!"

Vor Schreck ließ ich fast mein Laptop fallen und dann fuhr ich herum. Eine Hand auf mein Herz gepresst fauchte ich: „Herr Gott Niall! Schleiche dich lauter an!"

Verdattert sah ich, wie er meine Zimmertür schloss und vorher noch einmal überprüfte, dass Sophia und Sebastian nicht wussten, wo er war. Seine Miene wirkte verschlossen: „Komm, ich weiß, dass du Süßkram hier hast."

„Nein habe ich nicht", wehrte ich ab, doch als Niall die Arme vor der Brust verschränkte, rollte ich die Augen: „Überzeug dich selbst."

Mit sichtlicher Empörung sah ich, wie er wahrhaftig an meinen Koffer gehen wollte. Ich griff mir das Nächstbeste, was ich in die Finger bekam, demnach meine Bluse vom Vortag. Sie segelte ihm ins Gesicht.

„Bitte, ich brauche etwas Süßes. Irgendetwas! Ich kriege schon Pickel!"

„Die kriegt man, wenn man zu viele Süßigkeiten isst", belehrte ich ihn, wie ein Klugscheißer. Aber als er sich die Haare raufte, bekam ich Mitleid. Kurzerhand suchte ich in meiner Handtasche und fand eine angebrochene Tüte Kirschbonbons. Ich hatte sie bei einem Zwischenstopp an einer Tankstelle gekauft. „Hier, das ist alles was ich habe und jetzt – husch, raus."

Ich schob ihn voran und auf dem Flur rief er, als er den Weg in sein Zimmer einschlug: „Danke dir, irgendwann revanchiere ich mich."

„Sieh zu, dass Sophia mein Küchenverbot aufhebt!", verlangte ich und machte es mir endlich gemütlich draußen auf der Veranda. Eingekuschelt in einer Jacke und einem Tuch legte ich die Beine auf einem Hocker und öffnete meinen Laptop.

Es würde lange dauern, bis meine Brüder online kamen, aber ich vertrieb mir die Zeit damit, Emails zu beantworten. Darunter eine von Samuels ehemaligen Agenten, der sich um Ausstellungen und Versteigerungen gekümmert hatte. Da eine beachtliche Anzahl von Samuels Arbeiten an mich nach seinem Tod gefallen waren, war die Nachfrage nach eventuellen Möglichkeiten von Verkäufen und Ausstellungsstücken enorm.

Ich wollte die Bilder nicht verkaufen, denn Samuel würde einen Grund gehabt haben, weshalb er sie nie an die Öffentlichkeit gebracht hatte. Von seiner Arbeit hatte ich noch nie viel verstanden. Das einzige, was ich je dazugesagt hatte, war 'hübsch' und dann war das Thema immer abgehakt gewesen. Es sei denn Samuel wollte mir etwas über seine Bilder erzählen. Nicht immer hatte ich seine Aussagen verstanden.

Bevor Sebastian ins Bett verschwand, wünschte er eine gute Nacht und Sophia teilte eine halbe Kanne grünen Tee mit mir. Zusammen überlegten wir, was wir am nächsten Tag planen sollten und sie schrieb eine Liste. Als die Kanne leer und die Liste voll war, erhob sie sich von ihrem Stuhl.

„Mal ernsthaft Sophia, wieso bist du hier?", fragte ich sie und musterte sie interessiert. „Ich meine, als wir uns das erste Mal getroffen haben, war nicht zu übersehen, dass du... nun ja..."

Sie hielt inne und umklammerte die Teekanne fester. „Ich wollte Sebastian nicht wieder der Jugendfürsorge überlassen."

Ich stütze das Kinn auf der Handfläche ab und musterte sie, dann seufzte Sophia tief: „Sie haben nicht gut auf ihn Acht gegeben und... irgendwie konnte ich das nicht. Nicht nachdem ich seine Wäsche gewaschen hatte und ich die blauen Flecken gesehen habe."

Blaue Flecken? „Misshandlung?", fragte ich und sie sah auf den dunklen See, den man vom Haupthaus aus sehen konnte: „Er sagt, er sei gefallen."

Gefallen.

Eine Ausrede, so alt, dass sie schon wieder gut war. Während meines Studiums hatte ich eine Menge über häuslicher Gewalt gelernt und wie schwierig es war, Kinder und Frauen zu verteidigen, denen so etwas passierte. Noch schwerer war es nur, wenn der Mann das Opfer war.

Sophia hatte mir beim ersten Rundgang durch das große Haus gestanden, dass das Jugendamt der Meinung war, dass Sebastian der Sohn ihres Exfreundes war. Sie verdiente einen Orden, dass sie ihr Verantwortungsgefühl über ihr eigenes Empfinden stellte.

Denn es war ganz sicher nicht leicht Sebastian diese Freundlichkeit und Wärme entgegen zu bringen, mit dem Wissen im Hinterkopf, dass er eventuell das Kind eines verschwiegenen One-Night-Stands war.

„Wie lange wirst du hierbleiben?", fragte ich sie und Sophia zuckte mit den Schultern: „Ich dachte, dass Niall mir helfen könnte und mir sagt, wo Liam ist, aber er ist genauso ratlos. Trotzdem glaube ich, dass er früher oder später hier aufkreuzen wird und dann werde ich wieder fahren, weil Sebastian dann seine Verantwortung ist."

Ich fragte mich, ob sie das auch wirklich tun würde. Irgendwie konnte ich mir kaum vorstellen, dass Sophia einfach ihre Sachen packen würde und ging. Nicht, wenn man sich ansah, wie behutsam sie mit Sebastian umging. Wie sie ihm über den Kopf strich, ihm zuhörte, wenn er etwas erzählte und darauf achtete, dass er sich abends richtig wusch, bevor er ins Bett verschwand.

Sie war eine spitzen Ersatz-Mum und wusste es nicht einmal.

„Also Nella, mach nicht mehr so lange, der Wecker klingelt früh", meinte sie schließlich und zwinkerte. Sophia verschwand ins Innere und ich meldete mich bei Skype an. Ich setzte mir die Kopfhörer auf, fing an Musik zu hören und nach Ewigkeiten schaute ich mir meine alten Instagram-Bilder an. Seit über einem Jahr hatte ich nicht ein einziges Bild mehr hochgeladen, oder bei Facebook geschaut, was meine Freunde und Bekannte trieben. Als ich mich einloggte, erschlug mich eine Welle an Nachrichten.

Es war fast elf Uhr, als ich die meisten davon gelesen hatte. Nur noch eine halbe Stunde und meine Brüder würden endlich online kommen.

Aus den Augenwinkeln sah ich, dass die Fliegenglittertür auf glitt und hob den Kopf.

Verwirrt beobachtete ich, wie Niall einfach an mir vorbei trat und sich auf die Stufen setzte, die von der Veranda runter führten. Er hatte Jogginschuhe in der Hand und sportliche Kleidung an.

„Du willst jetzt noch joggen?", fragte ich ihn und zog mir die Kopfhörer runter. Irgendetwas war seltsam an ihm, aber ich konnte nicht sofort sagen was.

Da er mir nicht antwortete, stand ich auf. „Hey Niall, hörst du mir zu? Es ist viel zu spät jetzt zu laufen. Alles ist dunkel und die Wege, die in Frage kämen, nur schlecht beleuchtet." Außerdem kannte er sich auf dem Gelände immer noch nicht richtig aus. „Was ist, wenn du dich verirrst?"

Ich runzelte die Stirn, da er sich immer noch die Schuhe schnürte und dann hielt ich kurz inne. Er wirkte komplett durchgeschwitzt. Das Haar in seinem Nacken war feucht und als ich hinter ihn trat, da bemerkte ich, dass seine Hände leicht zitterten, weshalb er immer wieder von vorne anfing, die Schuhe zu schnüren.

Vorsichtig ging ich um ihn herum und stellte fest, dass er mich überhaupt nicht zu bemerken schien, oder gar hörte. Sein Blick wirkte glasig und sein Atem ging unregelmäßig. So als müsste er um jedes bisschen Luft kämpfen.

Ich beugte mich zu ihm runter. „Hey Niall, schau mich an, komm schon. Sieh mich an." Er reagierte nicht und dann wurde mir bewusst, dass er eine Panikattacke hatte.

Hilflos versuchte ich sein Gesicht zu drehen, den Kopf zu heben, aber ich bekam keine Reaktion, auch nicht, als ich mit dem Finger vor seiner Nase herum schnipste. Dafür wurde sein Atem noch unruhiger, so als würde er jeden Moment ersticken.

Langsam stieg auch in mir Panik auf, was, wenn er das Bewusstsein verlor. Was, wenn er nicht von selbst wieder ruhig atmete und sich in den Griff bekam? Was wenn-

Ich schaltete meinen Verstand aus und handelte einfach.

Ohne auch nur richtig nachgedacht zu haben, presste ich meine Lippen auf Nialls und hoffte auf irgendeine Reaktion. Seine Lippen waren kühl, weich und ich schmeckte Reste von Kirschbonbons. Meine Hände lagen auf seiner Schulter, mein Herz raste aus einem nicht erklärbaren Grund und etwas regte sich in mir.

Etwas, was ich längst vergessen hatte.

Nialls Atem wurde ruhiger, ich spürte, dass er sich wieder fing. Ganz langsam. So als würde er sich vom Grund eines Sees an die Oberfläche kämpfen.

Schließlich löste ich mich von ihm. Innerlich bebte ich, biss mir auf die Unterlippe und wagte es kaum ihn anzusehen. Belegt schluckte ich. Sein Atem streifte mein Gesicht und seine blauen Augen lagen auf mir.

Ich konnte seinen Blick nicht deuten, das einzige, was ich in ihnen sah, war unendliche Tiefe. Niall sagte nichts und mit jedem weiteren Herzschlag wurde sie Situation unangenehmer.

Gott, ich hätte das nicht tun sollen. Ich hätte besser nicht einfach meinen Kopf ausgestellt, sondern-

Jeder weitere Gedanke verpuffte in der Luft, denn innerhalb von Sekunden überrumpelte Niall mich. Er griff in mein Haar und zog mich wieder zu sich runter.

Ungeschickt verlor ich das Gleichgewicht und landete auf seinem Schoss. Sein Kuss nahm mich auf der Stelle ein und dieses Mal knipste ich meinen Verstand endgültig aus. Seine Arme schlangen sich um meine Hüfte und als ich die Augen schloss, hatte ich das merkwürdige, feste Gefühl, dass alles genau so sein müsste.

Es fühlte sich richtig an.

Hitze floss durch meine Adern und ich vergaß zu atmen. Niall küsste mit Genuss, als hätte er alle Zeit der Welt, aber gleichzeitig so fordernd, dass es keine Fluchtmöglichkeit aus dem Dilemma gab.

Ganz am Rande meines Bewusstseins war mir das vollkommen egal. Mein Herz explodierte. Und das war nichts, was ich wollte.

Es war ein unglaubliches Gefühl von ihm geküsst zu werden!




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