6) Zeit
„Gewöhnliche Menschen überlegen nur, wie sie ihre Zeit verbringen. Ein intelligenter Mensch versucht, sie auszunutzen."
Arthur Schopenhauer (deutscher Philosoph, 1788 - 1860)
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Rastlosigkeit und Sorgen hatten auch einen Bewohner von Waldhafen früh aus dem Haus getrieben. Er hielt es nicht aus, länger untätig in seinem schmalen Bett zu liegen und nachzudenken, ohne etwas tun zu können. An erholsamen Schlaf war in dieser Nacht ohnehin nicht zu denken gewesen.
Also hatte sich Silvan beim ersten Licht des frühen Tages angezogen und sich auf die schmalen Gässchen von Waldhafen begeben, die das Viertel der Händler und Handwerker wie Spinnennetze durchzogen. Im Städtchen herrschte bereits reges Treiben. Händler schoben und zogen ihre Wägen durch die Gassen auf dem Weg zu ihren Marktständen. Fischer eilten in Richtung Hafen, um in aller Frühe mit ihren Boote abzulegen. Jäger, Holzfäller und Fallensteller verließen die Stadt in die entgegengesetzte Richtung. Die Schmiede und Handwerker befeuerten ihre Essen, und bereiteten sich für einen weiteren langen und geschäftigen Tag in ihren Werkstätten vor.
Wen auch immer er kannte, wenn auch nur flüchtig, grüßte der Herr mit ein paar freundlichen Worten. Und es dauerte nicht lange, da kam das Gespräch auf die veränderte Lage in Waldhafen zu sprechen.
„Zumindest eines kann man Adelmuth nicht vorwerfen. Er war nie ungerecht", pflichtete der Gerber bei, bei dem Silvan für ein paar Worte stehen geblieben war.
Dieser nickte bestätigend, ehe er antwortete. „Er war nie überheblich, sondern hatte immer ein Ohr für die Anliegen seiner Bittsteller."
„Das stimmt wohl. Er wusste kluge Entscheidungen zu fällen. Aber viele haben immer behauptet, er sei zu gutmütig und müsse strenger regieren. Sieh doch nur, wohin ihn diese Milde geführt hat", warf der alte Handwerker ein.
„Ob man ihn mag oder nicht, dies kann man dem neuen Herren von Waldhafen sicherlich nicht vorwerfen. Er ist alles andere als zimperlich", gab Silvan zu bedenken.
„Da hast du wohl Recht", pflichtete ihm der Gerber bei, „und er ist ein geschickter Stratege. Wenn man nur überlegt, wie gerissen er die Macht an sich genommen hat. Ich hoffe nur, er versteht es, genauso geschickt zu regieren."
„Wir werden sehen." Silvan zuckte mit den Schultern. „Allzu laut sollte man sich dieser Tage nicht über Politik äußern. Er ist wirklich nicht zögerlich damit, seine Feinde aus dem Weg zu räumen." Er war sich bewusst, dass er jedes seiner Worte vorsichtig wählen musste. Die Verliese wimmelten von Leuten, die sich allzu offen zu Adelmuth bekannt und ihren Unmut unbedacht geäußert hatten. Silvan hoffte, dass Eckhard klug genug war, sie bald wieder laufen zu lassen. Mit jedem Gefangenen stieg die Wahrscheinlichkeit, dass es ein Aufbegehren gegen seine Machtübernahme gab. Jeder Häftling hatte Familienangehörige und Freunde, die erbost waren über diese harsche Vorgehensweise. Andererseits musste Eckhard seine gerade erst neu gewonnene Macht stärken und sichern. Egal was er tat, er saß in einer Zwickmühle. Eine, die er sich selbst eingebrockt hatte und Silvan war gespannt zu erfahren, wie er sich aus dieser herauszuwinden gedachte.
Eckhard hatte es schon immer nach Macht und Bewunderung gedürstet und schon lange hatte Silvan ihm misstraut und vermutet, dass er heimlich und unbemerkt gegen Adelmuth vorging. Aber er hatte nie Beweise finden können und Adelmuth hatte seinen wiederholten Warnungen keinen Glauben geschenkt. Es überraschte ihn nicht, dass es nun so gekommen war.
Silvan verabschiedete sich und ließ den Gerber mit seiner Arbeit fortfahren. Er führte an diesem Morgen noch so manches Gespräch und erfuhr so einiges Neues. Es hatte viele weitere Verhaftungen gegeben. Die Verliese mussten inzwischen überfüllt sein. Lange würde Eckhard so nicht mehr weitermachen können.
Silvan war gespannt, welche Strafe sich der neue Herrscher ausdenken würde. Er musste handeln und zwar bald, soviel war sicher.
Die Meinung der Bevölkerung war geteilt. Manche wünschten sich Veränderungen und hofften auf neue Entwicklungen. Andere standen dem Wechsel kritisch und vorsichtig gegenüber . Es würde sich zeigen, man musste abwarten und auf der Hut sein, darin waren sich alle einig.
Silvan setzte wenig Hoffnung in Eckhard. Er war zu stolz und jähzornig um ein guter Herrscher zu sein. Seine Loyalität lag nach wie vor bei seinem langjährigen Vertrauten Adelmuth von Waldhafen. Er musste einen Weg finden, diesen wieder an die Macht zu bringen. Aber dazu war es wichtig, herauszufinden, wer auf dessen Seite stand und ein wichtiger Verbündeter werden konnte.
Seine Eitelkeit und sein Jähzorn, so hoffte er, waren die Eigenschaften, die Eckhard, den Edlen, schnell wieder zu Fall bringen würden. Dann würde Silvan bereit sein, aber nicht um ihn aufzufangen.
Auch das Verschwinden der Tochter sahen die Leute aus zweierlei Blickwinkel. Die einen hofften und bangten, ihr möge nichts passiert sein und sie würde bald wieder auftauchen, die anderen kannten ihre widerspenstige und wenig damenhafte Art und trauerten ihr nicht weiter nach. Vielleicht war es besser so, wenn sie Waldhafen nie regieren würde. Silvan hatte sich stark zusammenreißen müssen, um seinen mit den Jahren liebgewonnenen Schützling nicht lautstark zu verteidigen. Das Mädchen, auch wenn er es nicht zugeben wollte, hatte sich in sein Herz geschlichen.
Noch immer war keine Spur von ihr gefunden worden. Silvan fiel es immer schwerer, den Schein aufrecht zu erhalten und sich nicht zu verraten. Er wusste, wohin Kendrik sie brachte und sein Neffe war der beste Führer, den man im Wald bekommen konnte. Unzählige Male hatte der Junge den Wald bereits durchquert, wenn er Botschaften seiner Mutter zu seinem Onkel brachte.
Schließlich war eine Wache in der dunkelroten Gewandung der Herren von Waldhafen auf Silvan zugekommen. „Eckhard lässt nach euch schicken. Komm mit."
Gehorsam folgte er dem Mann. Es überraschte ihn nicht, im Gegenteil er hatte mit dieser Order gerechnet.
„Gibt es etwas Neues? Hat man das Mädchen endlich gefunden?", verlangte er zu wissen.
„Nein, es gibt immer noch keine Spur von ihr. Aber als ihr Lehrer kennt ihr vielleicht die Orte, an denen sie sich möglicherweise verstecken könnte", erklärte der Wachmann.
„Im Verstecken war sie schon immer gut. Ich werde sehen, was ich tun kann."
Sie erklommen die ausgetretenen, aus Stein gehauenen Stufen, die zum Tor der Burganlage führten. Es war keine große Burg, sondern vielmehr eine Ansammlung verschiedener Anbauten, die mit der Zeit an die große Empfangshalle angefügt worden waren. Hier und da erstreckte sich ein Turm in den Himmel, den manche Herren von Waldhafen in ihrem Eifer, sich ein Andenken zu setzen, hatten erbauen lassen.
An diesem Morgen waren vermutlich alle verfügbaren Wachen in dem kleinen Vorhof versammelt. Eckhard demonstrierte seine Macht und er hatte Angst, diese wieder zu verlieren, wenn er jetzt einen Fehler machte.
Auf ihrem Weg in die Empfangshalle mussten sie einigen Pferden und ihren Reitern ausweichen. Es dauerte eine Weile bis sie sich einen Weg durch die Wartenden gebahnt hatten. Jede Menge Bittsteller und Besucher hatten sich vor den schweren, bemalten Türen versammelt. Vermutlich hatte Adelmuth ihre Gesuche abgelehnt und jetzt versuchten sie ihr Glück bei Eckhard. Die beiden Wachmänner, die links und rechts vor dem großen Portal standen, ließen niemanden mehr hindurch.
„Seid gegrüßt. Ich bringe Silvan, den Lehrmeister der gesuchten Tochter. Eckhard verlangt ihn zu sprechen." Selbstbewusst trat der Wachmann vor seine Kameraden. Die traten zur Seite und öffneten die schweren, mit Eisenscharnieren beschlagene Eichentür und ließen sie passieren. Die aufgebrachten Stimmen der wartenden Menschen verhallten, als sich die Türe hinter ihnen schloss.
Eckhard stand auf den Stufen, die einen besseren Blick auf ihn erlaubten. Seine Kleidung war tadellos. Die dunkelgrüne Weste glänzte mit den gewienerten Reitstiefeln um die Wette. Der dunkelblaue Gehrock war mit silberfarbenen Verzierungen bestickt, die im Licht der Morgensonne glänzten. Auch auf dem schweren Goldschmuck, den er an Hals und Finger trug, brach sich das Licht, wenn er die Stufen auf und ab schritt. Lediglich in seiner Miene verriet sich die Anspannung. Die schwarzen Haare lagen nicht wie üblich glatt an seinem Schädel, sondern standen ein wenig ab. Er hatte sich, jedes Mal, wenn er nicht weiterwusste mit den Händen durch die Haare gefahren und Spuren in seiner sonst so untadeligen Frisur hinterlassen.
Silvan freute dieser Anblick.
Eckhards Blick fiel auf den Neuankömmling und sein Gesichtsausdruck hellte sich ein wenig auf.
„Silvan, mein alter Freund. Schön, dass du hier bist. Ich habe eine Bitte an dich." Eckhards Stimme war hochnäsig und säuselnd wie eh und je. Und genauso falsch, wie Silvan es immer gesagt hatte.
„Wie kann ich helfen?", verlangte er zu erfahren, obwohl er es nur allzu gut wusste.
„Annabelle ist immer noch verschwunden. Ich mache mir große Sorgen um das Mädchen. Wir müssen sie finden." Er war geschickt und wortgewandt, das musste man ihm lassen. „Du als ihr Lehrer weißt doch bestimmt, wo sie sich aufhalten könnte."
„Aber ich denke all die Orte wurden bereits durchsucht. Gestern habe ich eigenständig in allen Vorratsräumen im Dienstbotentrakt nachgesehen. Sogar bei den Ställen und in den Lagerhallen. Nirgends war auch nur eine Spur von ihr zu entdecken. Ich weiß wirklich nicht wo sie sein könnte. Sie ist nie länger als ein paar Stunden weggeblieben." Silvan setzte eine ratlose Miene auf und hoffte, dass man sie ihm abkaufte. "Ich mache mir Sorgen, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte."
„Sie wird sich irgendwo verstecken, vermutlich aus Angst. Aber dazu hat sie keinen Grund. Niemand will ihr etwas tun. Sie hat sich als Kind gerne in den Wald geschlichen. Könnte es sein, dass sie das dieses Mal wieder getan hat?", verlangte Eckhard zu wissen.
„Das ist nicht auszuschließen", gab Silvan vorsichtig zu. „Aber selbst dort haben Reiter nach ihr gesucht. Sie ist zu Fuß, weit kann sie nicht sein."
„Es gibt dort draußen viele Verstecke. Du weißt am besten, welche Orte sie kennt. Ich werde Reiter aussenden und du wirst sie begleiten." Es war ein Befehl und keine Bitte.
„Unbedingt. Wir müssen sie finden." Es erstaunte den alten Lehrmeister, wie leicht ihm die falschen Worte über die Lippen kamen. Fieberhaft überlegte er, welche Verstecke er ihnen zeigen und wie er dabei Zeit schinden konnte. Zeit, die für eine erfolglose Suche vertan war, kam den beiden Kindern nur zugute.
Der Wachmann, der ihn zu Eckhard gebracht hatte, begleitete ihn anschließend zu den Ställen. Ein Trupp mit fünf Reitern und einem Rudel Hunde war im Vorhof zu ihnen gestoßen. Sie hielten den Tieren eines von Annabelles getragenen Kleidern hin, um sie ihren Geruch aufnehmen zu lassen.
Silvan versteifte sich bei diesem Anblick. Wenn es ihnen gelang, ihre Fährte aufzunehmen, war ein Tag Vorsprung nicht viel. Er musste es einfach schaffen, sie weitab ihrer Spur zu führen.
Er bestieg den unruhig umhertänzelnden braunen Hengst und folgte den Reitern die breite Straße entlang, die zum Stadttor führte.
Er trieb sein Pferd voran, es folgte seinen Anweisungen und schloss zu dem Anführer der Truppe auf. Einem grobschlächtigen Mann, den er auf Anfang dreißig schätzte, mit unrasiertem Gesicht und langen, zotteligen Haaren, die ihm in einzelnen Strähnen ins Gesicht hingen.
„In diesem Teil des Waldes ist sie am liebsten." Mit weit auslandender Geste deutete Silvan zu den Buchen, Eschen und Birken, die sich zu seiner Linken befanden.
Die Reiter schwenkten in die Richtung, die er ihnen wies. Die Hunde sprangen aufgeregt voraus und schnupperten dabei konzentriert in alle Richtungen, gaben aber keinen Laut von sich.
Annabelle und Kendrik hatten den Wald viel weiter östlich betreten. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihre Spur hier fanden, war so gut wie ausgeschlossen. Erleichtert atmete Silvan aus und entspannte sich ein wenig.
„Schaut auch in die Baumkronen. Sie ist verdammt gut im Klettern. Es könnte wohl sein, dass sie irgendwo in den Ästen steckt." Um seinen Worten Wirkung zu verleihen, spähte Silvan in jede Baumkrone. Es hinderte das Vorankommen ein wenig. Die anderen taten es ihm bald nach und er konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen, wenn er ihre Blicke suchend an den den unzähligen Baumstämmen emporwandern sah.
„Vielleicht ist sie dabei ja abgestürzt", kommentierte der Anführer schließlich. „Würde uns jedenfalls eine Menge Arbeit ersparen." Er stimmte ein kehliges Lachen an und die anderen Wachleute fielen mit ein. Aber weder auf dem Waldboden noch in den Wipfeln der Bäume ließ sich eine Spur des Mädchens ausmachen.
So erreichten sie nach einer Weile die steil abfallenden Steinklippen, die Waldhafens westliche Grenze markierten. In einem weiten Bogen drehten sie um und durchkämmten den Wald in östlicher Richtung.
An dieser Stelle war der Wald hell und lichtdurchlässig. Nur vereinzelt wuchsen Laubbäume, vor allem Buchen, Eschen und Birken. Er ließ sich mühelos zu Pferd durchqueren und bot wenig Verstecke. Schließlich kamen sie erneut auf den breiten, durch Fuhrwerke ausgefahrenen Weg, der von Waldhafen nach Nordosten führte.
„Die Waldstraße wird sie meiden. Es sei denn, sie hat einen Händler gefunden, der sie mitnimmt", überlegte einer der Reiter. Die Hunde folgten aufgeregt der Straße, aber ein Pfiff des Anführers rief sie zurück. „Dann wäre sie womöglich über alle Berge. Aber davon gehen wir nicht aus. Wir suchen in dieser Richtung weiter. Immer schön an der Mauer entlang, irgendwo muss sie stecken. Haltet die Augen offen."
Und so verließen sie erneut den Weg und folgten dem laubbedeckten Untergrund.
Auf dieser Seite der Mauer mischten sich immer mehr Waldkiefern unter die Laubbäume. Der Bewuchs im Untergrund wurde dichter, was das Vorankommen erschwerte.
Silvans Finger spielten nervös mit den Zügeln. Sie näherten sich der Stelle, an der der geheime Gang in den alten Brunnenschacht mündete und er hielt angespannt die Luft an.
Früher hatten viele Frauen hier draußen ihr Wasser geholt. Es war frischer und klarer als das Wasser aus den Brunnen in der Stadt, aber im Laufe der Zeit war die Quelle versiegt und der Schacht verfallen. Kaum einer kam mehr hierher und keiner erinnerte sich mehr daran, wie es dazu gekommen war, dass man hier draußen einen Brunnen errichtet oder wer sich diese Mühe gemacht hatte.
Aber das war dem alten Lehrmeister völlig gleichgültig. Er hoffte auf ein Wunder - aber seine Hoffnung blieb vergebens. Aufgeregt bellend sprangen die Hunde um die niedrige Steinmauer herum, die den oberirdischen Teil des Brunnens ausmachten. Sie schnupperten, wedelten mit den Schwänzen und zeigten deutlich, dass sie eine Spur gefunden hatten.
Mit einer flinken Bewegung, die er diesem grobschlächtigen, unrasierten Mann gar nicht zugetraut hatte, sprang der Anführer von seinem Pferd und nahm den Brunnen genauer in Augenschein. Von außen ließ sich nichts Besonderes erkennen und so wandte er seine Aufmerksamkeit dem Inneren zu.
„Leer", sagte er, als auch die anderen Wachmänner abstiegen und sich dem Brunnenrand näherten.
„Vielleicht hat sie sich dort unten versteckt", vermutete ein hagerer Mann mit blonden Haaren und beugte sich weit hinüber, um einen besseren Blick zu erhaschen. „Ich kann nichts sehen."
Ein anderer nahm einen abgebrochenen Ast vom Boden und warf ihn in den Schacht. Mit einem dumpfen Aufprall schlug er auf dem Boden auf und kullerte ein wenig zur Seite, bis er liegenblieb.
„Was ist das?", fragte er und deutete hinab. Die anderen folgten seinem Blick.
„Das sieht aus wie ein Durchgang. Dahinter geht es weiter. Vielleicht ist sie dort unten", rief der blonde Wachmann aufgeregt.
„Das schauen wir uns genauer an", befahl der Anführer. „Du -", er zeigte auf den hageren Blonden, „kletterst hinunter." Er reichte ihm ein kurzes Seil, das er aus seiner Satteltasche zog.
Der Blonde band es an einen alten, rostigen Haken im Mauerwerk und prüfte die Festigkeit indem er ein paar Mal kräftig daran zog. Es schien ihn zu überzeugen, denn ohne zu zögern schwang er sich über den Rand des Brunnens und seilte sich die knappen drei Meter in die Tiefe.
Einen Moment später war sein Ruf zu vernehmen. „Hier geht es tatsächlich weiter. Da ist so eine Art Gang. Aber ich kann nichts sehen. Es ist dunkel."
„Komm wieder hinauf", wies ihn der Anführer an. „Sie war bestimmt dort unten. Das schauen wir uns genauer an." Sein abfälliger Blick fiel auf Silvan. „Hat sie davon gewusst?", forderte er ihn mit barscher Stimme auf.
„Woher sollte sie davon gewusst haben? Ich weiß es nicht", log er schwach. Fieberhaft überlegte er nach einer Möglichkeit, den Besitzer des Weinkellers zu warnen. Er wollte nicht noch einen Unschuldigen in die Verliese wandern sehen. Und am allerwenigsten wollte er sich selbst in Gefahr bringen. Aber so sehr er auch überlegte, ihm fiel keine Möglichkeit ein.
Und so musste er tatenlos mit ansehen, wie die Wachleute eine kurze Zeit später mit Fackeln und Seilen zurückkamen und den Gang untersuchten. Sie entdeckten die Weinhandlung am anderen Ende und stellten den Weinkeller gründlich auf den Kopf. Doch von Annabelle fanden sie nach wie vor keine Spur.
Da sie die Kellertüre abgeschlossen vorfanden und der Weinhändler in weiser Voraussicht den Zugang zu dem unterirdischen Schacht verbarrikadiert hatte, glaubten sie ihm, dass er das Mädchen nicht versteckt oder ihr bei der Flucht geholfen hatte und der Gang seit Jahren versperrt war. Vorsichtshalber untersuchten sie seine Wohnräume, aber wie durch ein Wunder schlugen die Hunde nicht an. Annabelles Geruch hatte sich längst verflüchtigt.
„Schüttet den Gang zu", befahl Eckhard, als er davon hörte. „Bringt die Hunde noch einmal zu diesem alten Brunnen und schaut, ob ihr eine Spur findet. Vielleicht ist sie noch irgendwo in der Nähe. Und wenn, dann werden wir sie finden und zurückbringen." Er klang zu allem entschlossen. Wie konnte er seinen Machtanspruch durchsetzen, wenn es ihm nicht einmal gelang, ein flüchtiges Mädchen zu fangen? Er wollte allen zeigen, wozu er in der Lage war.
Wenig später erteilte er drei Reitern den Befehl, der Fährte des Mädchens in den Wald zu folgen.
„Bringt mir das Mädchen!" Seine Stimme duldete keinen Widerspruch.
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„Die Wahrheit ist eine unzerstörbare Pflanze. Man kann sie ruhig unter einen Felsen vergraben, sie stößt trotzdem durch, wenn es an der Zeit ist."
Frank Thiess (deutscher Schriftsteller, 1890 - 1977)
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