30) Umbruch
"Apila non captat muscas."
(Ein Adler fängt keine Fliegen.)
Bekannter Politik-Spruch unbekannter Quelle
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Die Stimmen überschlugen sich. So ein Gedränge hatte es selten in der Empfangshalle gegeben, die Abby seit den Tagen ihrer Kindheit vertraut war. Früher hatte sie der imposante Saal mit den Marmorsäulen eingeschüchtert, aber heute kam er ihr klein und beengend vor. Sie hob ihren Blick zu der hohen, stuckverzierten Gewölbedecke mit den kunstvollen Malereien. Die gemalten Figuren längst vergangener Zeiten blickten starr und unverändert zu ihr hinunter. Von hier oben würde sie keine Hilfe bekommen.
Sie räusperte sich und klopfte mit dem Knöchel ihrer Hand gegen den blechernen Gong, so wie sie es unzählige Male bei ihrem Vater gesehen hatte. Sofort wandten sich alle Blicke zu ihr und die Gespräche verstummten. Hunderte neugierige und erwartungsvolle Gesichter starrten sie an. Zum Glück hatte sie heute wenigstens eines ihrer sauberen, wenn auch schlichten Kleider angezogen und sah immerhin ansatzweise repräsentabel aus. Nicht gut genug für ihre Mutter, niemals gut genug, aber den Anwesenden musste es genügen. Es war an der Zeit, dass sich einige Dinge in Waldhafen änderten. Allerhöchste Zeit sogar.
Annabelle war eine der wenigen Frauen unter den versammelten Menschen. Ein paar Wäscherinnen und Zofen hatten sich unter die Leute gemischt. Sie hielten sich zurück und standen ganz am Ende der großen Halle, nahe dem Ausgang. Fast schüchtern und so als gehörten sie nicht dazu und hätten sich nur heimlich dazugeschlichen. Eine weitere Sache, die Abby gerne ändern wollte. Frauen leisteten mindestens einen genauso großen Beitrag zum Wohlstand des Städtchens und sie sah nicht ein, wieso die Männer über alles entscheiden sollten. Waren Wäschewaschen, Brotbacken, Handel treiben, Kinder erziehen und einen Haushalt führen und viele unzählige, andere Aufgaben mehr, nicht ebenso wichtig und verdienten Ansehen und Achtung? Auch die Männer wollten saubere Wäsche, gutes Essen und am Ende eines langen Tages in einen ordentlich geführten Haushalt zurückkehren.
Weiter vorne standen einige Marktfrauen, die Abby schon oft hinter ihren Vekaufsständen gesehen hatte, sowie einige Frauen von Handwerkern und Händlern, was Abby aus ihren sorgfältig geschneiderten, bunten Kleidern schloss. Sie standen selbstbewusst in der Menge und schauten das Mädchen auf den breiten Stufen erwartungsvoll an.
Sie räusperte sich erneut. „Ich nehme den Sitz im Rat an. Ich bin eine von euch und Waldhafens Geschick liegt mir sehr am Herzen. Ich will tun, was ich tun kann."
Die Menge jubelte und klatsche ihr Beifall. Abby hob ihre Hand, um die Zuhörer zur Ruhe zu bringen. Eine Geste, die sie sich ebenfalls bei ihrem Vater abgeschaut hatte. Sie war noch nicht fertig. Gemeinsam mit Adelmuth, Silvan, Kendrik und einigen anderen hatte sie am Vortag überlegt, wie sie es am besten anstellen sollten und Abby hatte eine ganz genau Vorstellung davon, wie das Waldhafen der Zukunft aussehen sollte.
Abby wartete bis die letzten Jubelrufe verhallten und die restlichen Beifallsbekundungen erstarben. „Ich möchte, dass die Wachleute meines Vaters, die zuletzt Eckhard gedient haben, ab sofort für die Sicherheit in ganz Waldhafen zuständig sind. Nicht nur das oberste Viertel soll sicher sein, sondern alle Viertel. Ein Jeder soll sich zu jeder Tageszeit auf den Straßen von Waldhafen sicher fühlen. Wir, die letzten Angehörigen der Familie von Waldhafen, übergeben unser Familienanwesen in die Hände der Wachsoldaten und gründen mit dem heutigen Tag die Stadtwache von Waldhafen, die sich um den Schutz und die Sicherheit in unserem Städtchen kümmern wird."
Erneut brach ein Jubelsturm unter den Anwesenden aus. Diese Mal noch um einiges lauter. Abby grinste. Auch ihr gefiel diese Idee. Es gab keine Herren von Waldhafen mehr, die den Schutz der Wachleute benötigten, sondern einen Rat, bestehend aus Bürgern aller Schichten und Berufsständen, die gemeinsam Entscheidungen über Waldhafens Geschicke trafen. Und Abby war eine von ihnen. Aber als Adelmuths Tochter stand es ihr zu, diese Veränderungen anzuregen.
Doch Abby war noch nicht fertig. „Der frühere Ratgeber meines Vaters, Silvan, wird für den Posten als oberster Kommandant der Stadtwache vorgeschlagen. Wenn ihr mit seiner Wahl einverstanden seid, dann hebt bitte eure Hand." Am Vorabend hatten sich eine Handvoll Ratsmitglieder für Silvan als Kopf der neu gegründeten Stadtwache ausgesprochen. Silvan war bereit, den Posten anzunehmen, aber er wollte nicht nur den Rückhalt einiger, sondern wenn möglich, den Rückhalt aller. Dinge zu ändern, erforderte eine breite Unterstützung. Aber so wie es aussah, hätte er sich gar keine Sorgen darum machen brauchen, dass seine Wahl nicht im Interesse aller stand. Fast alle Hände waren erhoben. Annabelle lächelte zufrieden und schlug erneut auf den großen Gong.
Mit dem Klang des Instruments waren schon immer Entscheidungen in Waldhafen in Kraft getreten. Wenn man schon Dinge grundlegend änderte, konnte man wenigstens alte Traditionen und Rituale beibehalten, wenn sie keinem schadeten. Vertrautes in Zeiten der Veränderung gab Sicherheit.
„Dann ist es also beschlossen. Silvan wird euch später genauer über die Aufgaben der Stadtwache informieren."
Sie winkte Kendrik zu und der Junge brachte ihr einen großen, rechteckigen, in ein rotes Tuch eingeschlagenen Gegenstand. Sie lächelte ihm dankbar zu. Er hatte ihr bei der Vorbereitung sehr geholfen, obwohl er sie das ein oder andere Mal auch von der Arbeit abgelenkt hatte. Während Annabelle den Gegenstand entworfen hatte, hatten sie so manchen leidenschaftlichen Kuss ausgetauscht und es hatte länger gebraucht, als eigentlich für die Sache notwendig gewesen wäre. Trotzdem hatten sie es rechtzeitig geschafft, sich wieder voneinander zu lösen, so dass Abby ihr Werk heute den versammelten Bürgern präsentieren konnte.
Sie war stolz darauf, aber auch nervös, ob es den Leuten gefallen würde.
Vorsichtig wickelte sie das rechteckig ausgesägte Holz aus den Stoffbahnen. Kendrik half ihr dabei. Abby streckte es über ihren Kopf, damit es auch die ganz hinten Versammelten gut sehen konnten. „So stelle ich mir das neue Wappen von Waldhafen vor."
Das Holz war mit kräftigen Farben bemalt. Auf dem blauen Hintergrund segelte ein goldenes Schiff und neben dem Schiff wuchs ein goldener Baum stolz in die Höhe. Ein Symbol für den Wald und ein Symbol für den Hafen, die Orte, denen Waldhafen seinen Namen und seinen Wohlstand verdankte.
Die Menge jubelte. Auch mit dieser Entscheidung war man einverstanden. Trotzdem wollte Abby den Leuten nichts vorschreiben. Ab diesem Tag hatte man die Wahl und Entscheidungen wurden gemeinsam mit der Stimme der Mehrheit getroffen.
„Wer mit meinem Vorschlag einverstanden ist, der hebe die Hand." Unzählige Hände wurden erhoben. Dieses Mal war es Kendrik, der den Gong erklingen ließ, da Abby noch immer das neue Wappen in die Höhe hielt.
Die Menge klatschte und applaudierte. Silvan und Adelmuth warfen dem Mädchen einen stolzen Blick zu. Aus ihr wäre auch eine gute Herrin von Waldhafen geworden, aber Adelmuth war gespannt, was aus dem Städtchen werden konnte, wenn man gemeinsam an einem Strang zog. Macht gebündelt auf den Schultern einer Person war eine Last, eine schwere Bürde, die er viel zu lange getragen hatte. Macht verteilt auf die Schultern vieler, so hoffte er, brachte Wohlstand und Zufriedenheit. Keiner musste schwierige Entscheidungen alleine treffen und zu schwer an der Bürde tragen. Er jedenfalls fühlte sich leicht wie nie zuvor in seinem Leben.
Er würde Silvan, seiner Tochter und allen Bürgern als Berater zur Seite stehen und weiterhin ein paar Räume der viel zu großen Burganlage bewohnen. Alleine.
Abby hatte ihn darum gebeten, bei Silvan und Kendrik bleiben zu dürfen. Ihr gefiel das kleine, gemütliche Haus. Es war ihr mehr Zuhause als das große, reich eingerichtete Anwesen, in dem sie aufgewachsen war. Adelmuth hatte ihr letztendlich seinen Segen gegeben. Er kannte seine Tochter und wusste längst, dass er sie zu nichts zwingen konnte, das sie selbst nicht wollte. Er hatte sich sein Leben lang etwas gebeugt, das er nicht wollte und das ihn unglücklich gemacht hatte. Was für ein Vater wäre er, wenn er dasselbe für seine Tochter erzwang?
Er hatte gesehen, wie glücklich sie war. Und Glück war wichtiger als jeder gesellschaftliche Stand und er mochte den Jungen, der ihr Herz erobert hatte. Sehr sogar. Er war für seine Tochter da gewesen, als sie es am nötigsten gehabt und er es nicht gekonnt hatte.
Nicht nur ihren Vater hatte das Mädchen darum gebeten, bei Silvan leben zu dürfen. Auch ihrem Lehrer hatte sie eine Bitte abgenommen. Sie wollte seinen verwilderten Garten neu anlegen und sich um den kleinen Hinterhof kümmern.
Sie wollte herausfinden, welche Pflanzen man darin anbauen konnte. Herausfinden, welchen Nutzen die Pflanzen hatten und wofür sie gut waren. Sie wollte lernen, wie man Tränke braute und Tinkturen anrührte. Von Silvan hatte sie bereits einiges darüber gelernt, und Deina hatte ihr geholfen, ihr Wissen zu erweitern. Jetzt lag es in ihrer Hand etwas daraus zu machen.
Sie wollte etwas tun, das den Bewohnern von Waldhafen von Nutzen war.
Kendrik würde ihr dabei helfen, die wuchernde Dornenhecke zu entfernen und Platz für ihre kleinen Schätze zu schaffen. Sie wusste jetzt, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte.
„Unkraut gibt es nicht. Jede Pflanze ist für etwas gut. Man muss nur wissen, wofür. Und das herauszufinden, habe ich mir zur Aufgabe gemacht", prangte in ihrer engen Handschrift auf der ersten Seite ihres in Leder gebundenen Buches. Die Zeilen waren ihr beim Schreiben ein wenig unordentlich geraten, da ein gewisser dunkelhaariger Junge sich von hinten an sie herangeschlichen und seine Hände um ihren Hals geschlungen und sie in eine zärtliche Umarmung gezogen hatte. Seufzend hatte sie sich ihrem Schicksal ergeben und den Griffel zur Seite gelegt, um sich ganz zu ihm umzudrehen. Letztendlich hatte sie an diesem Tag nicht mehr weitergeschrieben. Am nächsten Tag würde auch noch Gelegenheit sein, ihrem Ziel ein Stückchen näherzukommen. Oder am übernächsten. Oder irgendwann später.
An diesem Tag galt es glücklich zu sein. Und nichts machte sie glücklicher, als diesen Jungen an sich zu ziehen und ihm einen Kuss zu stehlen. Darin waren sie beide in den letzten Tagen ziemlich gut geworden.
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Wir nähern uns mit großen Schritten dem Ende.
Ich würde mich an dieser Stelle (und überall sonst natürlich auch) über Rückmeldungen freuen, vor allem von allen, die "Waldhafen - Narben der Zeit" schon gelesen haben, ob sich in diesen beiden Geschichten irgendetwas widerspricht, bzw. ob meine Beschreibungen schlüssig sind oder euch irgendetwas unklar bleibt.
Naja, eigentlich bin ich neugierig eure Meinung zu erfahren. :)
Natürlich dürft ihr auch fleißig kommentieren, wenn ihr mein anderes "Waldhafen"-Werk noch nicht gelesen habt.
(Werbung Ende)
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