3) Aufbruch
„Es kann dir jemand die Tür öffnen, hindurchgehen musst du selbst."
Konfuzius (um 500 v.Chr.)
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„Komm jetzt!" Die wenigen Worte ihres alten Lehrmeisters hallten durch den Raum. Annabelle wusste, wie nervös er war, auch wenn er es vor ihr zu verstecken versuchte. Die Zeit wurde knapp, der Erfolg des ganzen Unternehmens stand bereits auf der Kippe. Wenn sie trödelten, wäre alles umsonst gewesen.
Mit zitternden Händen stopfte das Mädchen noch einige Kleidungsstücke in den Beutel, der zum Glück seit Tagen gepackt und griffbereit auf der Kommode in ihrer Kammer stand. Silvan hatte nach den jüngsten Ereignissen damit gerechnet, dass es zum Äußersten kommen könnte und Vorbereitungen getroffen. Und jetzt war der Augenblick gekommen. Die junge Herrin von Waldhafen musste ihr Zuhause verlassen und fliehen.
"Los jetzt, Abby! Mehr kannst du nicht mitnehmen."
Ihr Lehrmeister zog sie aus ihrer Kammer in den Gang mit den langen Läufern, wo er Wache gehalten hatte, und flink huschten die beiden die Stufen hinunter, zuerst der Mann, dann das junge Mädchen, in Richtung Dienstbotenausgang. Dort würde sie vermutlich niemand suchen und vorsorglich hatte Abby sich einen Kapuzenumhang über den Kopf gezogen, so dass man sie auch nicht erkennen würde. Zumindest nicht auf den ersten Blick.
Vom Dienstbotenausgang kam man auf einen Vorplatz, auf dem fast immer die Hölle los war und der gute Bedingungen bot, um unbemerkt in der Menge zu verschwinden. Etwas was das Mädchen ausgesprochen gut konnte, weil sie jahrelange Übung darin hatte. Händler lieferten ihre Waren am Kücheneingang ab, Waschfrauen holten Körbe mit Wäsche oder brachten gewaschene Sachen zurück. Es war ein ständiges Kommen und Gehen oder Herumlungern, in der Hoffnung von den Abfällen und Resten aus der Küche etwas zu ergattern.
Keiner nahm Notiz von den beiden Gestalten, die immer wieder flüchtige Blicke hinter sich warfen. Zu ihrem Glück waren weder Wachleute noch Soldaten zu sehen. Ein Umstand, der daran lag, dass diese damit beschäftigt waren, im Empfangssaal für Ruhe und Ordnung zu sorgen und herauszufinden, wer dem alten Herren noch die Treue hielt und die letzten Unterstützer festzunehmen, falls welche so dämlich sein sollten, noch offen zu Adelmuth zu stehen. Es waren in der Tat noch viele, die dies heimlich taten, und Silvan hätte ihnen einige der Namen nennen können, auch wenn die meisten von ihnen sich klugerweise in letzter Zeit sehr ruhig und besonnen verhalten hatten.
Dieses Wissen war ein weiterer Grund für die beiden, schleunigst das Weite zu suchen. Wer es wagte, einen Regenten zu entmachten, machte bestimmt auch nicht davor halt, ein Mädchen zu foltern, um Namen zu erfahren.
Aber der eigentliche Grund, warum sie fliehen musste, war der, dass sie die junge Herrin war und der entmachtete Regent ihr Vater, der sie als seine Nachfolgerin vorgesehen hatte.
Die Burg war ihr Zuhause, auch wenn das Mädchen dort nicht immer glückliche Tage verbracht hatte. Zu wissen, dass sie von dort weg musste und nicht zu wissen, ob und wann sie zurückkommen würde, schnürte ihr die Kehle zu. Auch wenn Annabelle in diesem Augenblick keine Gelegenheit hatte, um darüber nachzudenken.
Lehrmeister und Schülerin eilten durch die schmalen Gassen der Handwerker und Händler - bemüht darum so normal wie möglich zu wirken und nicht so, als ob sie auf der Flucht wären. Sie wollten keine unnötigen Blicke oder ungewollte Aufmerksamkeit auf sich lenken. Es gelang ihnen nur mäßig. Jeder zufällige Beobachter konnte sehen, wie eilig es die beiden hatten. Aber glücklicherweise nahm keiner von ihnen Notiz. Jeder hatte es selbst eilig und überhaupt keine Zeit dazu, auf die zwei Gestalten zu achten, die sich zum Schutz vor dem starken Meereswind die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen hatten. Jeder wollte bei diesem Wetter möglichst schnell sein eigenes Ziel erreichen und sich nicht mit den Belangen von anderen abgeben.
Nach einer gefühlten Ewigkeit führte Silvan, das Mädchen durch eine eisenbeschlagene Eichentür in die spärlich eingerichteten Räume einer Weinhandlung. Im Eingangsbereich stand eine wuchtige Theke aus Holz, im spärlich beleuchteten Raum dahinter einige Tische und Stühle. Ansonsten war der Raum leer. Ihr Lehrmeister schien sich gut auszukennen. Zielstrebig brachte er seinen Schützling durch eine weitere Tür in einen Nebenraum, in dem sich außer ein paar alten Weinfässern und unzähligen Holzkisten, nichts weiter befand.
Er schob ein paar Kisten beiseite. Dann bückte er sich und hob einige der Bodendielen hoch. Ein schmaler, dunkler Gang kam zum Vorschein, von dem Stufen steil nach unten führten. Ein schwerer, erdiger Geruch hing in der Luft und mischte sich zu dem Geruch nach altem, vergorenem Wein.
Silvan drückte dem Mädchen eine Fackel in die Hand, die er umständlich angezündet hatte. „Hier, damit kannst du leuchten. Der Tunnel ist nicht lang. Er führt unter der Stadtmauer durch und endet in einem alten Brunnenschacht im Wald. Mein Neffe Kendrik wartet dort auf dich. Geht schnell in den Wald und lasst euch nicht sehen. Ich weiß nicht, ob uns jemand erkannt hat oder ob man dir folgen wird. Aber riskiert nichts. Mein Neffe hat weitere Anweisungen. Viel Glück!"
Silvan war kein Mann großer Worte und auch Gefühle waren sonst nicht seine Stärke. Jetzt drückte er das junge Mädchen jedoch kurz und kräftig an sich, bevor er sie fast nach unten stieß. Abby folgte den unebenen Stufen, die bald endeten. Der Gang war gerade so hoch, dass sie gehen konnte, ohne sich den Kopf anzustoßen. Ihr Lehrmeister würde also nicht mitkommen, wie sonst immer, wenn die beiden außerhalb der Stadtmauer unterwegs waren. Die Erkenntnis versetzte ihr einen Stich.
Sie hörte, wie Silvan die Holzdielen vorsichtig wieder über den versteckten Eingang zum Tunnel legte. Annabelle war bereits ein gutes Stück gelaufen. Der unterirdische Gang ging geradeaus. Sie konnte den Weg im Schein der Fackel gut erkennen. Trotzdem fühlte sie sich seltsam und orientierungslos. Jetzt war sie wirklich allein.
Silvan und das Mädchen waren oft im Wald gewesen. Er hatte ihr alles beigebracht, was er über das Leben in der Wildnis, über das Jagen und Fallenstellen oder über essbare Kräuter und Wurzeln wusste. Und mit der Zeit und den gemeinsamen Ausflügen war das einiges gewesen. Er hatte sie auch im Kämpfen und Bogenschießen unterrichtet. Zugegeben, das war nicht üblich für ein Mädchen ihres Standes und hatte die Kammerfrauen anfangs oft zur Verzweiflung gebracht, wenn sie mit zerrissener Kleidung, unordentlichen Haaren oder aufgeschürften Knien zurückkam. Aber die junge Herrin zog eine Übungsstunde im Bogenschießen einer Übungsstunde in höfischem Tanz oder Sticken bei Weitem vor. Sie hasste das Stillsitzen und das aufgesetzte Getue.
Annabelle musste lächeln bei der Erinnerung daran, wie sie so manches Mal ihren albernen Tanzlehrer und das blutjunge Kindermädchen gegeneinander ausgespielt hatte. Dem einen hatte sie ausrichten lassen, die Stunde würde sich verschieben, weil zu eben dem Termin bereits eine Stunde in der Nähstube anstand. Und der anderen hatte sie eine ähnliche Botschaft zukommen lassen. Die gewonnene Freizeit hatte das Mädchen dazu genutzt, auf Bäume zu klettern oder sich durch Fenster abzuseilen, um der beengenden Leere in der Burg zu entkommen. Manches Mal war sie alleine umhergestreift. Es waren die Abenteuer ihrer Kindheit. Abenteuer, die jetzt hinter ihr lagen und verblassten, im Gegensatz zu dem Abenteuer, welches nun vor ihr lag. Wie dumm war sie gewesen, sich ein aufregenderes Leben zu wünschen. In diesem Augenblick ging es um Leben und Tod. Ihr Leben stand auf dem Spiel. Das ihrer Eltern. Das Herz klopfte ihr bis zum Halse und gab den Takt ihrer Schritte vor. Annabelle hielt nicht inne, sondern hastete über den unebenen Untergrund, so schnell es ihr im flackernden Licht möglich war.
Sie hatte ihrer Mutter nie nahe gestanden und vielleicht innerlich gespürt, dass sich der Vater nach einem Sohn und Erben sehnte und diese Leerstelle unbewusst auszufüllen versucht. Das Leben der Burschen war ihr immer so viel begehrenswerter erschienen, als das behütete und durch zahllose Verpflichtungen eingeschränkte Leben einer Dame.
Sie stockte. Wehmütig wurde ihr bewusst, dass diese Zeiten nun endgültig hinter ihr lagen.
Diese unerlaubten Streifzüge waren natürlich nicht unbemerkt geblieben. Aber zu ihrem großen Erstaunen hatte ihr Vater ganz anders, als erwartet, reagiert. Sie hatte die Übungsstunden in Musik und Gesang, Nähen und höfischen Sitten und dergleichen weiterführen müssen. Aber er kannte seine Tochter gut genug, um zu wissen, dass er sie nicht einsperren konnte und sich solcherlei Unternehmungen wiederholen würden, würde das Mädchen die Gelegenheit dazu finden. Bald darauf war Silvan in ihr Leben getreten. Wenn immer es möglich gewesen war, hatte er seinen wissbegierigen Schützling abgeholt und ihr die Dinge beigebracht, nach denen es sie dürstete. Er hatte ihr Reitstunden gegeben, sie Spuren lesen gelehrt und sich so zu bewegen, dass sie keine hinterließ. Er hatte sie auf Bäume klettern, Kräuter und Pilze sammeln und bestimmen lassen, ihr gezeigt, wie man Fallen stellte, Fische fing und zubereitete und viel Nützliches mehr. Jetzt lag es an ihr, sich bei ihm dafür zu bedanken, indem sie überlebte. Silvan fehlte ihr jetzt schon. Sie wusste nicht, wann und ob sie jemals wieder eine Stunde bei ihm haben würde.
Ihr Herz pochte zum Zerspringen schnell und sie hatte keine Ahnung, wer oder was sie auf der anderen Seite des schmalen Ganges erwartete. Trotzdem zwang sie sich weiterzugehen. Einen Schritt nach dem anderen zu machen. Es roch modrig und abgestanden. Nach Luft, die noch nie die Frische des Waldes gekostet hatte. Hier konnte sie nicht bleiben - so viel war ihr klar. In Waldhafen war es zu gefährlich für sie geworden und sie war auf ebendiese Situation vorbereitet. Seit dem Erlass ihres Vaters, sie zu seiner Nachfolgerin zu bestimmen und einem Mädchen den Zugang zur Macht zu erlauben, hatten sich die Ereignisse in Waldhafen überschlagen. Ereignisse, die nicht gut für ihre Familie waren. Wer regierte, hatte viele Feinde. Und die Feinde ihres Vaters hatten nur darauf gewartet, dass er einen Fehler beging oder eine Schwäche zeigte.
Sie seufzte laut. Es war keiner in der Nähe, der sie hören konnte und so verhallte ihr Klagen ungehört in den behauenen Tunnelwänden zu ihrer Seite. Und all das für eine Sache, die sie ohnehin nie gewollt hatte. Mehr noch, für eine Sache, die sie verabscheute. Ihr dürstete nicht nach Macht oder Herrschaft, sondern nach Freiheit und Ungebundenheit. Es hätte nie so weit kommen müssen, wenn es nach ihr ging. Aber es ging nicht nach ihr. Es ging niemals nach ihrem Willen. Entschlossen reckte sie das Kinn. Vielleicht war es an der Zeit, daran endlich etwas zu ändern.
Der Gang führte schließlich nach einer Weile zu einigen Stufen, die sie langsam hinaufstieg. Das Licht veränderte sich und das Mädchen kletterte durch ein schmales Loch in einen stillgelegten Brunnenschacht. Spinnenweben verrieten, dass schon eine ganze Weile niemand mehr hier herausgeklettert war. Im Schacht lagen Steine, die aus der Mauer gebröckelt waren und Farne wuchsen zu ihren Füßen. Es roch modrig und moosig. Etwa drei Meter oberhalb erstreckte sich der Rand der Steinmauer. Unereichbar. Aber die gemauerte Brunnenwand war uneben. Manche Steine ragten weiter hervor als andere. Sie suchte einen Vorsprung, der ihr Halt bieten würde, um hinaufzuklettern, als das Ende eines Seiles plötzlich neben ihrem Kopf auftauchte.
„Zieh dich daran hoch oder besser, binde es dir um und ich ziehe dich hinauf", erklang eine männliche Stimme hohl von oben. Sie konnte den Sprecher nicht ausmachen.
Sie entschied sich für Ersteres und zog kräftig am Seilende, um zu testen, ob es sie halten würde. Es gab nicht nach, also kletterte Annabelle mit gekonnten Bewegungen hinauf, schwang sich über den Brunnenrand und stand einem jungen Mann gegenüber, den sie als Neffe ihres Lehrmeisters kannte. Kendrik würde von nun an ihr Begleiter auf der Flucht sein. Sie hatte ihn einmal flüchtig und von weitem gesehen. Er lebte nicht in der Stadt. Soweit sie wusste, erledigte er irgendwelche Aufträge für irgendwelche Leute außerhalb, die ihn hin und wieder nach Waldhafen führten, wo er dann bei seinem Onkel nächtigte.
Das Erste, was sie von ihm wahrnahm, war, wie groß gewachsen er war. Er musste seinen Onkel um eine halbe Kopflänge überragen und Silvan war bereits einer der größten Menschen, die sie kannte. Annabelle reichte ihm gerade einmal bis zu den Schultern, obwohl sie für ein Mädchen nicht gerade klein geblieben war. Eine weitere Eigenschaft, die ihre Mutter sehr bedauerte.
Das Zweite, was sie feststelle, war der missmutige Gesichtsausdruck, der sich in seinen dunkelbraunen, fest zusammengekniffenen Augen zwischen den schulterlangen, dunklen Haaren abzeichnete. Es schien, als hätte er ein besonders widerwärtiges Insekt erblickt, und sich noch nicht entschieden, ob er es lediglich abschütteln oder doch besser zerquetschen wollte.
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Kleine Info zur Federchallenge500:
Ich habe einen Lauf. Täglich 500 Wörter zu schreiben, ist gar nicht so schwer wie ich dachte. Bin so in der Geschichte drin, dass ich dafür circa eine halbe Stunde brauche. Und meistens bleibt es nicht dabei und ich schaffe so zwischen 1000 bis 2000 Wörter pro Abend (also etwa ein Kapitel). Allerdings schreien die dann auch nach Überarbeitung und strotzen nur so von Fehlern.
Mal sehen, wie lange ich dieses Schreibtempo noch beibehalten kann. Der Stapel an Papierkram und liegen gebliebener Arbeit auf meinem Schreibtisch wächst und wächst.
Aber kennt ihr das? Wenn ihr eigentlich was ganz Anderes tun müsstet (lernen oder so^^) - und dann lieber das macht, was euch Spaß macht?
Naja egal, lasst mich wissen, wie euch die Geschichte gefällt! Jetzt geht es erst so richtig los!
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