27) Gefühle


"Jedes Ereignis, alles auf der Welt hat seine Zeit:

Geborenwerden und Sterben, Pflanzen und Ausreißen,

Töten und Heilen, Niederreißen und Aufbauen,

Weinen und Lachen, Klagen und Tanzen,

Steinewerfen und Steinesammeln, Umarmen und Loslassen,

Suchen und Finden, Aufbewahren und Wegwerfen,

Zerreißen und Zusammennähen, Schweigen und Reden"

Prediger 3, 1-7 (HFA)

~ ~ ~

Die Nacht war einem neuen Morgen gewichen. Die frühe Morgensonne streckte bereits ihre ersten Strahlen nach einem neuen Tag aus. Annabelle saß noch immer bewegungslos in dem von Unkraut und Dornen überwucherten Hinterhof, in den sie Kendrik ein paar Stunden zuvor geführt hatte, weg von den Pflastersteinen des kleinen Innenhofes, und weg von der leblosen, seltsam verdrehten Gestalt in einem weißen, fein bestickten Nachthemd, die dort reglos lag und ihrer Mutter gehörte und über welche sich Silvan gebeugt hatte.

Sie sollte sie nicht sehen. Nicht so in Erinnerung behalten. Gebrochen und im Todeskampf verzerrt. Kendrik hatte sie sanft in den Arm genommen und weggeführt. Einfach fort von diesem Albtraum. Wohin war ihr gleichgültig gewesen und sie hatte erst eine Weile später gemerkt, wohin er sie inmitten der Dunkelheit gebracht hatte. Hier war sie in Sicherheit. Kendriks prüfender Blick fiel auf sie, wie sie gedankenverloren auf der niedrigen Mauer aus Feldsteinen saß und mit leerem Gesichtsausdruck ins Nichts starrte. In Sicherheit vielleicht, aber nicht bewahrt vor den grausamen Bildern der vergangenen Nacht. Vor diesen gab es kein Entrinnen, sie fanden auch in diesem verwilderten Garten ihren Weg zu ihr.

„Warte hier. Ich komme zurück, sobald ich kann", hatte er in die Dunkelheit geflüstert. Und dann war er leise in der Nacht verschwunden ohne eine Antwort abzuwarten, die sie ihm ohnehin nicht gegeben hätte. Er hatte nicht gewusst, was er tun und wie er ihr helfen konnte. Folglich war er seinem ersten Instinkt gefolgt, der ihm sagte, dass es in einer schwierigen Situation oft besser war, zu fliehen. Abstand zu gewinnen. Außerdem redete er sich ein, dass er nichts für sie tun konnte. Seinem Onkel hingegen konnte er helfen. Dort konnte er sich als nützlich erweisen. Dort wurde er gebraucht.

Sie saß immer noch alleine und reglos auf der alten Steinmauer, als die Nacht sich zu einem neuen Tag verwandelte. Einem neuen Tag, der neues Elend und neue Verzweiflung mit sich bringen würde. Gerade als sie gedacht hatte, dass sich endlich alles zum Guten wenden würde. Abwesend strich sie sich durch ihr Haar. Es hatte ihr nie etwas ausgemacht, dass es ihr gerade einmal über die Ohren und bis in den Nacken reichte, aber es war zu viel für ihre Mutter gewesen. Endgültig zu viel. Sie war so anders geworden, als ihre Mutter. So anders, als die Vorstellung, die Zitta von ihrer Tochter gehabt hatte. Annabelle war nicht das zarte und zerbrechliche Mädchen, das mit Puppen spielte und ihre neuen Kleider mit Stolz vorführte, welches sich Zitta in ihrer Vorstellung immer gewünscht hatte. Sie war ein Wildfang gewesen, voller unbändiger Neugier und Energie. Schon immer zu viel für ihre Mutter. So viel zu viel, dass sie letztendlich Schuld am Tod ihrer Mutter war.

Endlich fanden die Tränen einen Weg über ihre Wangen. Sie zitterte, nicht wegen der Kälte, und schlang die Arme fester um ihren Körper.

Jemand trat lautlos zu ihr, legte vorsichtig eine Hand auf ihre Schulter. Zaghaft abwartend, dann folgte eine weitere, fuhr ihr tröstend über den Arm. Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer es war. Sie spürte seine Anwesenheit auch so. Der würzige Duft von Baumharz und Feuer schien ihn zu umgeben, wo immer er war. Aber auch seine Hände hatten ihn verraten. Kräftig und zärtlich zugleich. Sie waren ihr mit der Zeit vertraut geworden wie ihre eigenen.

Sie hielt still. Die sanfte Berührung fühlte sich gut an, brachte ihr aber keine Linderung. Ihr Schmerz wollte gefühlt werden, aber sein zaghaftes Bemühen half ihr dennoch. In einer tröstlichen Geste strich er ihr zärtlich über das Haar und setzte sich dann neben sie auf die niedrige Steinmauer. Er legte seinen kräftigen Arm um sie und sie ließ ihren Kopf gegen seine Schulter sinken. Ihre Tränen waren geweint. Sie schloss die Augen und atmete den vertrauten Geruch nach Wald, nach Abenteuer, nach Freiheit ein. Nur war es kein Abenteuer mehr, wenn es den Tod mit sich brachte. Sie schluchzte ein letztes Mal auf, ehe es ihr gelang, sich ein wenig zu beruhigen.

„Tut mir leid", nuschelte sie leise in sein Hemd. Seine Hand wanderte langsam ihren Arm entlang, blieb auf ihrer Schulter liegen. „Es muss dir nicht leidtun. Mir tut es leid." Er fand noch immer keine Worte, sie zu trösten.

Es gibt keine", hatte Silvan gesagt, „geh einfach zu ihr und tu was du als richtig empfindest."

Aber ich weiß nicht, wie man ein Mädchen tröstet", hatte er erwidert. Er wusste nicht einmal, wie man irgendjemanden tröstete. Sein Onkel hatte als Antwort nur traurig gelächelt, traurig und unglaublich müde. „Geh einfach zu ihr. Du kennst sie inzwischen so viel besser. Du weißt, was zu tun ist. Tief in deinem Inneren weißt du es." Er hatte es nicht gewusst. Nicht sofort, aber er war dennoch losgegangen und auf dem Weg war es ihm mit einem Mal bewusst geworden. Schlagartig und deutlich. Er hatte schon eine Weile gespürt, dass er nicht mehr gegen seine Gefühle ankämpfen konnte und es auch längst nicht mehr wollte. Er wusste, was sie brauchte. Sie brauchte keine Worte oder Gesten, sie brauchte ihn. Zärtlich und liebevoll streichelte er langsam über ihr Haar und ihren Rücken. Es war genug, wenn er da war und er musste nicht einmal etwas sagen, um ihr dies zu zeigen.

Nach einer Weile beruhigte sie sich unter seinen Berührungen und entspannte sich ein wenig. Er zog etwas aus seiner Tasche. Einen Gegenstand, den er ihr bereits einmal gebracht hatte, als es ihr nicht gut ging. „Für dich", wisperte er in ihr Ohr. „Dein Buch. Vielleicht willst du lesen, was du aufgeschrieben hast? Vielleicht willst du deine Gedanken hineinschreiben?", fragte er vorsichtig und zog einen kurzen Kohlestift aus der anderen Hosentasche, den einzigen den er in der Eile hatte auftreiben können. Der Einfall war ihm spontan gekommen. Er wollte nicht nur für sie da sein, sondern ihr auch etwas geben, woran sie sich festhalten konnte. Worte seines Onkels hallten ihm durch den Kopf: Was einmal hilft, hilft auch zweimal.

„Danke", flüsterte sie leise und hob das Gesicht aus dem Schutz, den sie an seiner Schulter gefunden hatte. Tränen glitzerten auf ihrer Wange. Aber es störte ihn nicht, es verunsicherte ihn nicht einmal. Jeder, der durchlebt hatte, was sie erlebt hatte, würde an ihrer Stelle weinen. Zärtlich strich er mit seinem Daumen über ihre Wange und wischte die Tränen fort. Der leise Anflug eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. Ein Fremder hätte es nicht wahrgenommen, aber er kannte ihre feinen Gesichtszüge inzwischen gut genug, um die kleinste Veränderung darin wahrzunehmen.

„Danke Krik, es hilft schon, dass du da bist und es mir gebracht hast." Ihre Finger glitten zärtlich über das weiche Leder des Buches. „Vielleicht schreibe ich später hinein. Ich bin müde und erschöpft. Vielleicht sollte ich mich hinlegen und ausruhen. Ich weiß nur nicht, ob der Schlaf kommen will. Kannst du bei mir bleiben? Bitte." Sie fürchtete nicht nur die Schlaflosigkeit, sondern auch die Bilder, die sie in ihren Träumen heimsuchen würden. Beidem wollte sie sich nicht alleine stellen.

Er nickte stumm. Er erinnerte sich an eine andere Nacht, in der er Wache gehalten hatte, damit sie schlafen konnte. Sie stand auf und riss gedankenverloren ein paar grüne Blätter von einem niedrigen, wild wuchernden Busch. Er erhob sich ebenfalls, blieb nah an ihrer Seite. Ein milder, süßlicher Geruch lag in der Luft, der ihn unwillkürlich an seine Mutter erinnerte. Abelle führte die Blätter an ihre Nase und schnupperte daran. „Melisse, riechst du es?", fragte sie und hob ein zerrupftes, halbes Blatt vor sein Gesicht. Er nickte. „Deine Mutter hat daraus einen Sud für mich aufgegossen. Würdest du das für mich machen?" Er nickte erneut. Für Abelle würde er weit mehr tun als das. Für sie war er bereit alles zu tun. Er nahm sie am Arm und führte sie ins Haus seines Onkels, wickelte sie in eine warme Felldecke und versicherte sich, dass sie es bequem auf der kleinen Liege aus Stroh hatte, auf der er schlief, wenn er in Waldhafen war, ehe er sich in der Küche zu schaffen machte.

Sie lächelte ihm zu, als er eine kurze Zeit später mit einem Becher des dampfenden Suds in seine kleine Gästekammer trat. Er stellte den Becher auf das niedrige Tischchen neben dem Bett und setzte sich zu ihr. Wie von selbst, legte sich seine Hand auf ihren Arm. Er streichelte sie noch eine Weile, bis sie einschlief und schließlich schmiegte er sich an sie und dämmerte kurz darauf ebenfalls ein. Auch für ihn war es eine lange und anstrengende Nacht gewesen.

So vereint fand sie Silvan einige Stunden später vor, als er die Tür zur Kammer seines Neffen öffnete, nachdem niemand auf sein Klopfen geantwortet hatte. Er war nicht allein gekommen. Jemand anderes konnte es ebenfalls nicht erwarten, seine Tochter wieder in die Arme zu schließen. Jemand, der unheimlich stolz auf sie war. Leise und lächelnd schloss Silvan die Tür wieder. „Lass ihnen noch etwas Schlaf. Es war eine anstrengende Zeit für sie beide." Der andere stimmte ihm zu. Es war an der Zeit, dass er sich ebenfalls ausruhte. Es konnte noch ein wenig warten, bis alle Beteiligten genug Kraft geschöpft hatten für ein weiteres, aufwühlendes Wiedersehen. Frisch gebadet und rasiert, in sauberen, neuen Kleidern schlief man nach einer aufreibenden und anstrengenden Zeit doch schließlich am besten.

Danach würde für Vater und Tochter noch genug Zeit bleiben, um endlich wieder vereint zu sein. Und Zeit genug, endlich den Mann an ihrer Seite kennenzulernen, der sie so mutig und selbstlos durch diese schwere Zeit begleitet hatte und von dem sein Jugendfreund ihm schon so oft voller Liebe und Bewunderung erzählt hatte. Er konnte noch eine Weile warten. Er hatte jetzt alle Zeit der Welt.



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