26) In die Tiefen der Verzweiflung


"Mors certa, hora incerta."

{„Der Tod ist gewiss, seine Stunde ungewiss."}

Matthias Claudius (deutscher Dichter, 1740 - 1815)

~ ~ ~

Adelmuth hatte sich an die immerwährende Dunkelheit in seinem beengten Verlies gewöhnt. Nur Silvans gelegentliche Besuche unterbrachen seinen monotonen Alltag und die Gedanken, denen er sich hingab. Seitdem sein Jugendfreund bei seinem letzten Besuch Neuigkeiten von seiner Tochter gebracht hatte, huschte hin und wieder sogar ein flüchtiges Lächeln über sein Gesicht.

Er ertrug alles, wenn es ihr gut ging. Nur an den brennenden Durst in seiner Kehle konnte er sich schwer gewöhnen, aber dank Silvan bekam er häufiger Wasser als zu Beginn seiner Gefangenschaft. Er war stark, er würde es überstehen, und Silvan hatte ihm versichert, dass sich das Blatt wendete. Alles würde gut werden, er müsse nur noch ein wenig durchhalten, hatte er ihm wiederholt versichert und Adelmuth hatte erwidert, dass er sich keine Sorgen um ihn zu machen brauche. Wenigstens konnte er sich ausruhen und nachdenken. Viel und lange.

Eine weitere Nacht senkte sich über sein einsames Gefängnis. Ein weiterer Tag war überstanden und brachte ihn näher an das Ende. Das Ende seiner Gefangenschaft oder das Ende seiner Tage, manchmal erschien es ihm gleichgültig. Was auch immer zuerst eintrat, er würde es mit offenen Armen willkommen heißen. Er war müde.

So gleichgültig Adelmuth sein Schicksal auch erduldete, seine Gemahlin ertrug ihres ungleich schwerer. Ihr ging es mit jedem verstreichenden Tag schlechter und schlechter. Ihre Zofe hatte vor einigen Tagen darum gebeten, aus ihrem Dienst entlassen zu werden, so unerträglich wurde ihre Gesellschaft. Seitdem hatte man Zitta ein junges, unerfahrenes Mädchen zur Seite gestellt, das ihr die zahlreichen Wünsche und Forderungen erfüllen sollte. Leider tat sie dies nicht zu Zittas Zufriedenheit und abwechselnd hörte man das verzweifeltes Schluchzen der ehemaligen Herrin oder ihr lautstarkes Toben durch die Flure hallen.

Gerade hörte man nichts in den Gängen, die hinauf zu ihren bescheidenen Gemächern führte. Alles war still und menschenleer. Die Dienstboten mieden diesen Trakt des verwinkelten, weitläufigen Gemäuers. Und die Stunde war spät. Wahrscheinlich hatte sich der Schlaf der Erschöpfung über die leidende, frühere Herrin von Waldhafen gelegt. Alles blieb still, als der dunkelhaarige Junge lauschte, eher er um die Ecke spähte und den beiden verhüllten Gestalten in seiner Begleitung mit einer Handbewegung zu verstehen gab, dass die Luft rein war.

Die kleinste der drei vermummten Gestalten trat hervor. Sie war nicht wirklich klein, wurde aber von den beiden anderen noch um einige Zentimeter überragt. An dieser Stelle würden sich ihre Wege trennen.

Kendrik legte ihr einen Arm auf die Schulter, bevor sie davonschleichen konnte. "Sei vorsichtig", flüsterte er und sein Atem kitzelte ihr Ohr.

"Keine Sorge. Ich weiß, dass ich leise sein muss und mich keiner erwischen darf." Sie suchte ein letztes Mal den Blick in seine nachtschwarzen Augen. "Hast du den Plan, den ich dir gezeichnet habe, im Kopf?"

Er nickte in die Dunkelheit. Jetzt war ohnehin keine Zeit mehr, ihm zu erklären, welchen Flur und welche Tür er nehmen musste. "Alles wird gut gehen", versicherte sie ihm und löste sich von ihm. Kurze Zeit später war sie auf dem handgeknüpften Läufer bis zum Ende des Flurs geschlichen und um die Ecke verschwunden, ohne sich umzublicken und ohne ein Geräusch in der Stille zu hinterlassen. Lautlos durch die Flure zu huschen war einfach. Ein Kinderspiel, dessen Regeln sie bereits als junges Mädchen meisterlich beherrscht hatte.

Der Junge und sein Begleiter machten sich in die andere Richtung des langen Flures davon, ehe sich ihre Wege bei der gewundenen Treppe ebenfalls trennten. Der Junge schlich sich nach oben, der ältere Mann nahm die Stufen hinab. Annabelle hatte ihm genau beschrieben, wo er abbiegen, durch welche Tür er gehen und welche Stufen er nehmen musste. Mehrmals. Er hatte sich alles gut eingeprägt und sie hatte ihm einen Plan gezeichnet. Das gefaltete Stück Büttenpapier steckte in seiner Tasche. Nervös tastete er danach. Es würde ihm nicht helfen, er konnte die Buchstaben darauf nur schwer entziffern und würde in seiner Aufregung Küche statt Kerker lesen. Trotzdem fuhren seine Finger über das gefaltete Papier wie über einen Talisman. Vielleicht brachte es ihm Glück. Es durfte heute Nacht nichts schief gehen. Seine Mission musste gelingen.


Das Mädchen hatte das Ende des langen Flures erreicht, ohne dass sich eine der angrenzenden Türen geöffnet hatte. Sie atmete erleichtert aus und machte sich an den Aufstieg des Turms. Die Gemächer ihrer Mutter lagen im obersten Stockwerk. Es waren lediglich ein kleines Ankleidezimmer und ein Schlafgemach, das man ihr zur Verfügung gestellt hatte. Gefüllt mit jeder Menge Bücher, ein paar Musikinstrumenten und Näharbeiten, damit sie sich beschäftigen konnte. Annabelle wusste, dass ihre Mutter nicht las, keine musikalische Ader hatte und lieber den Musikern lauschte als selbst zu spielen. Es hatte sie nicht davon abgehalten ihre Tochter jedes erdenkliche Instrument erlernen zu lassen. Dass ihre Mutter nähte, konnte sie sich noch am ehesten vorstellen, auch wenn Zitta von Waldhafen dafür jedwede Geduld fehlte. Aber im Augenblick hatte sie nichts anderes zu tun und jede Menge Zeit dafür. Annabelle konnte nicht ahnen, in welchem Zustand sich ihre Mutter wirklich befand und dass sie stundenlang vor dem kleinen Turmfenster saß, auf den gepflasterten Hof hinuntersah und Trübsal blies.

Die Gemächer waren abgeschlossen. Früher hatten sie hier oben öfter einmal hoheitliche Gäste beherbergt, aber in den letzten Jahren waren es immer weniger adelige Besucher geworden, die Waldhafen aufsuchten. Man schickte stattdessen Boten und die hatten mit unliebsameren, weniger komfortablen Quartieren Vorlieb zu nehmen. Annabelle war dieser Umstand nur recht gewesen. Wenn die Gäste aus nah und fern fortblieben, konnten sie auch ihre Sprösslinge nicht mitbringen und keine Liaison zwischen der Tochter des Hauses und einem jungen Adelssohn anbahnen. Aber diese Sorge, dass ihr Vater sie mit einem unliebsamen Prinzen verheiraten würde, erschien ihr gerade so klein und so weit weg.

Zögerlich stand sie nun vor einer imposanten Türe aus massiver Eiche. Die kunstvollen Schnitzereien, mit denen disee verziert war, zeigten Ranken und Zweige aus Efeu und Lorbeer.

Silvan hatte es geschafft ihr einen Schlüssel zu besorgen. Sie zog den schweren Eisenschlüssel aus ihrer Tasche und spürte die Kälte auf ihren Fingern. Sie zitterte ein wenig, als sie den Schlüssel ins Schloss steckte. Erst beim dritten Anlauf gelang es ihr endlich. Sie drehte ihn um und stieß die schwere Tür auf.

Nur ein wenig Mondlicht beschien den Raum vor ihr. Sie wusste immer noch nicht, ob es richtig war was sie tat. Sie hatte ihre Mutter stets enttäuscht, aber Silvan und Kendrik hatten ihr gut zugeredet. Jedes Mutterherz wollte wissen, wie es dem einzigen Kind ging. Annabelle hatte sich schließlich dazu überreden lassen. Sie kannte den Plan, den man am Feuer in der versteckten Höhle in der Bucht, geschmiedet hatte und sie kannte Kriks und Silvans Rolle darin. Sie war schließlich dabei gewesen, als man ihn ausgesonnen und beschlossen hatte. In dieser Nacht nicht mitzukommen, hätte bedeutet in ihrem Versteck ausharren zu müssen, bis jemand Zeit fand, ihr mitzuteilen, dass der Plan geglückt war. Oder noch schlimmer, gescheitert, wenn keiner zurückkäme. Die Ungewissheit und das Warten hätte sie nicht ausgehalten, also hatte sie letztendlich zugestimmt, ihre Mutter heimlich zu besuchen, während die beiden Männer ihren Teil des Vorhabens in die Tat umsetzten.

Vielleicht hatte die Trennung etwas in ihrer Mutter bewirkt und sie würde sich freuen ihre Tochter endlich wieder zu sehen. Es war eine Hoffnung, an die sie sich klammerte.

Annabelle atmete aus. Sie hatte nicht gemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte und machte ein paar weitere Schritte in den Raum. Sie erkannte einen Tisch, übersäht mit Nähzeug, unordentlich auf der Tischplatte verteilten Büchern und Schreibutensilien, einen Schrank mit unzähligem Krimskrams, eine Violine und einige Kleider in nachlässiger Manier ausgebreitet auf allen verfügbaren Oberflächen und den Stuhllehnen. Es sah nicht aus wie ein Raum, in dem ihre Mutter verweilen würde. Bei der kleinsten Unordnung oder Nachlässigkeit pflegte sie die Dienstboten zurechtzuweisen. Scharf, streng und lautstark - dafür war Zitta bekannt.

Das Bett stand in der dunkelsten Ecke, abseits des Fensters, verborgen hinter einem Schrank. Und erst als Annabelle vorsichtig nähertrat, erkannte sie die zierliche Gestalt, die darin lag. Selbst im Schlaf und in der Dunkelheit wirkte ihre Mutter blass und zerbrechlich. Viel zu empflindlich für diese Welt.

Vorsichtig streckte Annabelle einen Arm nach ihr aus und rüttelte sie zaghaft an der Schulter. „Mutter", flüsterte sie vorsichtig in die Stille. Zitta regte sich und kam langsam zu Bewusstsein.


Noch jemand stand ein paar Etagen tiefer, ein paar Stufen und Gänge entfernt, in einem fremden Schlafzimmer vor einer ahnungslos schlafenden Person. Aber er hatte nicht die Absicht diese Person zu wecken und er hatte es auch nicht so leicht gehabt, sich unbemerkt an den Wachen vorbei zu schleichen, während sie abgelenkt waren. Dank seiner Erfahrung war es ihm trotz allem gelungen und er hatte auf Anhieb den richtigen Flur, sogar das richtige Zimmer gefunden. Kendrik hielt die Luft an, ehe er seine nächsten Schritte plante. Bis hierher zu kommen, war der einfache Teil gewesen. Was jetzt folgte, war ungleich schwieriger.

Entschlossen griff er nach dem Stück Stoff in seiner Tasche und presste es dem Schlafenden auf Mund und Nase. Ein erstickter Aufschrei folgte, den er nur mit Mühe stillen konnte. Eckhard zappelte und wand sich unter seinem festen Griff. Der Junge ließ kein bisschen locker. „Sei ruhig, sonst bringe ich dich gleich um", flüsterte er bedrohlich in die Dunkelheit seines Schlafgemachs. Das Licht einer einzelnen Kerze flackerte hinter einem Glas auf dem Nachttisch und gab gerade ausreichend Licht, um die Schemen und Umrisse der Möbel zu erkennen. Kendrik, dessen Augen an die undurchdringliche Dunkelheit des Waldes gewöhnt waren, reichte es, um genug zu erkennen. Der Mann unter seinem festen Griff hörte auf sich zu bewegen und musterte seinen nächtlichen Angreifer erschrocken aus weit aufgerissenen Augen. Kendrik lockerte das Tuch vor dessen Nase, zog es über den Mund und band es ihm mit einem Strick fest um den Kopf. Alles was von Eckhard nun noch zu hören war, war ein ersticktes Murmeln. „Sei still!", zischte er ihn erneut an. „Sei verdammt noch mal still, wenn du weißt, was gut für dich ist. Deine Wachen sind tot. Da ist niemand mehr, der dir helfen könnte." Die Lüge kam ihm leicht über die Lippen.

Der Mann erschauderte. Es war ein Leichtes, ihm die weichen, gepflegten Hände auf den Rücken zu binden. Seine Beine band er ebenso zusammen, ehe er ihn mit festem Griff an die gegenüberliegende Wand schob. Kendrik öffnete die weiten Flügeltüren, die sich hinaus auf eine kleine Balustrade erstreckten. Er befestigte ein Seil an einem der niedrigen Säulen. Grob fasste er den zitternden, schwitzenden, gut verschnürten Mann und band ihn an das Seilende, wie ein gepökeltes Stück Fleisch zum Abhängen. Mit weit aufgerissenen, angsterfüllten Augen blickte ihn der Herrscher von Waldhafen an. Kendrik hatte wenig Mitleid mit diesem Mann, der Abelle und ihrer Familie so viel Leid zugefügt hatte. Er packte ihn rücksichtslos, wuchtete ihn über die Brüstung und ließ in langsam Stück für Stück hinunter wie einen schweren Sack.

Lange hatten sie in der Höhle an diesem Teil des Planes gefeilt. Die Schwierigkeit bestand darin, Eckhard zu überraschen und ihn unbemerkt aus der Burg zu bekommen. Letztendlich hatte Abelle die geniale Idee beigesteuert, ihn einfach von seinem Balkon abzuseilen.

Eine Gestalt trat aus den dunklen Schatten des verlassenen Innenhofes und nahm das lebende Bündel in Empfang. Es war niemand anderes als sein Onkel, der zurück aus den Verliesen war, wo er den Wachen zum Dank für ihre gute und zuverlässige Arbeit ein Fass Wein überbracht hatte. Ein Geschenk mit einer kleinen Zugabe. Vermutlich hatten sie es dankend angenommen und sich augenblicklich darüber hergemacht. Zumindest sollte es so laufen, wenn ihr sorgsam ausgeklügelter Plan am Ende aufgehen wollte.

Jetzt war es an der Zeit Adelmuth einen nächtlichen Besuch abzustatten. Eine weitere, torkelnde Gestalt in ihrer Begleitung würde dabei nicht weiter auffallen, falls irgendjemand noch genug bei Sinnen war, um sich darüber Gedanken zu machen. Kendrik grinste, ehe er das Seil von seiner Befestigung löste, hinunterfallen ließ und selbst über die Balustrade kletterte. Auch dieser Teil des Plannes war von Abelle ersonnen worden. Sie hatte ihm genau beschrieben, wie er es anstellen musste. Er umfasste eine dünne, verschnorkelte Balusterstrebe, ließ sich hinabgleiten auf die schmale Brüstung der darunterliegenden Etage und wiederholte den Vorgang noch ein weiteres Mal, bis er schließlich festen Boden unter den Füßen verspürte. Die Höhe und das Klettern stellten auch für ihn kein Problem dar, obwohl Abelle ihn einige Male damit aufgezogen hatte, dass es vielleicht besser wäre, wenn sie seinen Part übernähme. Aber letztendlich war auch dieser Teil des Vorhabens gelungen.


Auch bei dem Mädchen verlief alles nach Plan. Zitta stieß einen leisen Schrei aus. „Mutter, ich bin es nur", flüsterte Annabelle.

Die frühere Herrin saß aufrecht in ihrem Bett. Sie brauchte einige Augenblicke, bis sie sich ausreichend beruhigt hatte. „Annabelle", selbst jetzt schwang Tadel in ihrer Stimme mit. „Was fällt dir ein mich so zu Tode zu erschrecken?"

„Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe. Aber ich wollte dich sehen." Sie hoffte, wenigstens den Hauch von Freude im Gesicht ihrer Mutter zu erkennen. Vorsichtig beugte sie sich näher.

„Und dann kommst du mitten in der Nacht?" Zittas Stimme klang immer noch schlaftrunken, aber tadelnd wie eh und je.

„Es ging nicht anders. Vater sitzt immer noch in den Verliesen und Eckhard lässt nach mir suchen. Ich musste heimlich und in der Dunkelheit kommen", erklärte ihre Tochter und spürte, wie die Kälte der Enttäuschung sich auf ihr Herz legte.

„So weit ist es mit unserer Familie gekommen. Da siehst du es", klagte die Mutter. Noch etwas anderes zog im silbrigen Licht des Mondes ihren Blick auf sich. Zitta beugte sich näher, nahm die Gestalt ihrer Tochter zum ersten Mal richtig wahr. Ihre Beine steckten in einer einfachen, weiten Hose. Ihre Figur wurde unter einem weiten, zerschlissenen Hemd bedeckt. Auch wenn Zitta weder Farbe noch Feinheiten der Kleidung ihrer Tochter erkennen konnte, war es genug, um ihr einen kleinen Ausruf des Entsetzens zu entlocken. Selbst an den feinen und kunstvoll verzierten Kleidern hatte sie stets etwas auszusetzen gehabt. Dieses Ensemble war zu viel für ihre Nerven. Entsetzt musterte sie ihre Tochter von unten bis oben. Suchte in ihrem Gesicht nach Anzeichen dafür, dass es sich nur um einen bösen Traum handelte, von dem sie jeder Zeit erwachen würde.

Allerdings weckte etwas anderes, viel Schlimmeres, dabei ihre Aufmerksamkeit und ihr Gesicht verzog sich zu einer abstoßenden Grimasse. Sie streckte ihre Hand aus, ließ sie aber auf halber Höhe matt auf ihr Laken sinken. „Deine Haare!" Ihre Stimme erstarb, nur um dann um so lauter und verzweifelter zu ertönen. „Deine schönen, langen Haare. Was haben sie dir angetan?" Sie schlug ihre Hände in einer Geste der Verzweiflung vors Gesicht, um nichts mehr sehen zu müssen.

„Mutter, beruhige dich. Es ist alles gut. Keiner hat mir etwas angetan." Ihre Erklärung drang nicht zu Zitta von Waldhafen durch. Diese schüttelte den Kopf, presste sich die Hände auf die Ohren und stand auf. Es waren nur wenige Schritte, bis man die winzige Kammer durchquert hatte. Vor dem kleinen Fenster, durch das ein wenig Mondlicht in den Raum fiel, blieb sie stehen. Sie schob die Vorhänge zur Seite, löste den Riegel und öffnete das Fenster. Frische, kalte Nachtluft strömte herein und ließ die Stoffbahnen flattern. Zitta atmete tief ein. „Es hat alles keinen Sinn mehr. Ich ertrage es nicht länger. Jetzt haben sie mir auch noch meine Tochter genommen."

Annabelle saß noch immer wie erstarrt auf dem Bett, in dem Minuten zuvor noch ihre Mutter geschlafen hatte. So hatte sie sich ihr Wiedersehen nicht vorgestellt. Sie wird sich freuen, dich zu sehen, hatte ihr Silvan versichert. Es gibt nicht mehr viel Freude in ihrem Leben, seit du fort bist. Wie sehr hatte er sich geirrt.

Wie gelähmt stand sie auf, wollte auf ihre Mutter zugehen. Ihr versichern, dass alles gut war oder es zumindest bald werden würde. Doch Zitta hob abwehrend ihre Hände, drehte sich um und sprang in die Tiefe, ehe Annabelle noch einen weiteren Schritt auf sie zugehen konnte.

Sie hatten sich alle so sehr geirrt. Ihre Tochter so verändert, so wild und knabenhaft zu sehen, gab ihr den letzten Rest, den sie brauchte, um endgültig in ihrer Verzweiflung unterzugehen, den in ihren Augen letzten und einzigen Ausweg zu wählen.

Annabelle hörte mit Erschaudern einen dumpfen Aufprall, noch ehe sie ganz an das Fenster getreten war, an dem Augenblicke zuvor noch ihre Mutter gestanden hatte.

Sie war zu dem Jungen geworden, der ihrem Vater nie geboren wurde.

Sie war die Schande in den Augen ihrer Mutter und jetzt auch noch der Grund ihres Todes.


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