25) Spiel mit dem Feuer
"Wir bleiben immer Kinder, und, so klug wir auch werden mögen, wir behalten uns immer die Lust, mit scharfen Messern und spitzen Scheren zu spielen."
Wilhelm Raabe (deutscher Schriftsteller, 1831 - 1910)
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Zwei Abende später brachen die beiden auf und eilten bei Anbruch der Dunkelheit durch den Wald. Aber seitdem sie das erste Mal gemeinsam unterwegs gewesen waren, hatte sich so vieles geändert. Zwischen den beiden, aber auch sie sich selbst. Ein unbeteiligter Zuschauer hätte es vielleicht nicht einmal bemerkt, das meiste davon war ihnen selbst nicht einmal bewusst. Sie waren nicht mehr dieselben Kinder wie noch vor wenigen Wochen, sondern zu jungen Persönlichkeiten herangereift.
Sie waren vertrauter im Umgang miteinander geworden und hatten ihren ersten Streit überwunden. Der Junge hatte einige seiner Vorurteile gegenüber Mädchen über Bord geworfen, und sie ihre Furcht vor der Dunkelheit verloren. Es machte ihr nicht mehr viel aus, durch den dunkeln Wald zu huschen. Selbst ein Schatten unter Schatten zu werden. Die Sonne war längst schon hinter den Baumwipfeln verschwunden. Hier draußen setzte die Dämmerung früh ein. Und wie immer konnte sie sich auf Krik verlassen. Er kannte den Weg und führte sie sicher zu den Klippen, die mit einem Mal steil vor ihnen abfielen. Manch fremder Wanderer, der sich in der Dunkelheit verirrt hatte, war dort schon beim Herumirren versehentlich abgestürzt. Aber auch andere Geschichten erzählte man sich über die Steilfelsen. Bei Vollmondnächten, so lautete eine Legende in Waldhafen, konnte man die Schreie der Verzweifelten hören, die dort ihrem Leiden ein Ende gesetzt hatten. Für jede und jeden von ihnen, hatten die Angehörigen einen Steinhaufen errichtet, der von ihrem Schicksal erzählte. Die hellen, vom Mond beschienenen Steine hoben sich vom dunklen Untergrund ab und säumten den Weg entlang des Abgrunds, dem Kendrik und Annabelle folgten.
Kein Unwissender wäre auf die Idee gekommen, dass von hier oben ein Pfad hinunter zu der langgezogenen Sandbank führen würde, außer vielleicht im direkten Sturzflug für die Lebensmüden. Aber Ortskundige kannten den geheimen Zugang oder hatten zumindest davon gehört. In Waldhafen wurden unzählige Legenden und Geschichten darüber erzählt, was sich in früheren Zeiten an dieser Bucht abgespielt hatte. Schmuggler hatten die Höhlen angeblich jahrhundertelang genutzt, um Waren an den Einfuhrzöllen vorbei in die Stadt zu schmuggeln. Zwei Liebende hatten sich einer Sage nach heimlich in den Höhlen getroffen, um beieinander sein zu können, und sich schließlich, als man ihr Versteck und ihre Beziehung entdeckte, gemeinsam von den Klippen geworfen. Auch ihr Wehklagen, so erzählte man sich, konnte man heute noch in Vollmondnächten über die Bucht hallen hören. Abby konnte allerdings nichts weiter hören, als den Wind und das Rauschen der Brandung weit unter ihnen.
Kendrik führte sie zu einer dichten, niedrig wachsenden Hecke aus Schwarzdornbüschen. Er bog einige der Zweige zur Seite und machte ihnen einen schmalen Durchgang frei. Auch in der Dunkelheit bemerkte Abby sofort, dass einige Zweige geknickt waren. Jemand war vor ihnen hier entlang gegangen. Kendrik war vorsichtiger und fügte keine weiteren Spuren hinzu. Sie duckten sich durch die schmale Öffnung und standen direkt am Abgrund.
Kendrik zeigte auf einen winzigen Felsvorsprung, der sich anderthalb Meter unter ihnen von der ansonsten glatten Felswand hervorhob. Geschickt ließ er sich darauf hinabgleiten. Von seiner neuen Position aus konnte man erkennen, dass die Felsen zu seiner Linken stark überhängend waren. Von oben verbargen sie den Blick auf eine weitere kleine Plattform, auf die man leicht hinüberklettern konnte. In wenigen Sekunden hatte Kendrik diese erste Etappe bewältigt und war aus Abbys Blickfeld verschwunden.
Sie war im Klettern geübt und hatte keine Angst vor der Höhe. Außerdem half es ungemein, dass sie immer noch Kendriks alte Hemden und Bundhosen trug. Darin fand man besseren Halt und war weniger gehindert, als in den langen Röcken eines Mädchens.
Es dauerte nicht lange und sie stand neben ihm auf dem schmalen Felsvorsprung. Er grinste sie an und sie machten sich gemeinsam an den Abstieg. Der Anfang war das schwierigste Stück, und wer diese Etappe gemeistert hatte, der schaffte den Rest mit spielender Leichtigkeit. Stillschweigend folgten sie dem schmalen Pfad hinunter zu der flachen, sandigen Bucht, die durchzogen war von versteckten Höhlen und Felsvorsprüngen, welche die Flut in Jahrtausender langer Feinarbeit aus den Felsen herausgeschliffen hatte.
Eine der Höhlen flackerte im Schein eines Feuers. Kendrik führte sie darauf zu. Bestimmt zwanzig Menschen, vorwiegend Männer aber auch einige Frauen, hatten sich um ein Lagerfeuer versammelt und diskutierten lebhaft miteinander.
Beim Eintreten der beiden Neuankömmlinge verstummte das allgemeine Gemurmel und unzählige Köpfe drehten sich zu ihnen herum. Eine Gestalt, ein hochgewachsener, drahtiger Mann in seinen späten Fünfzigern erhob sich und trat auf die beiden zu.
Abby erkannte ihn augenblicklich und rannte die letzten Meter zu ihm. Es gab kein Halten und die anderen Menschen, die ihr Wiedersehen beobachteten, hatte sie längt vergessen. Er fing sie auf und sie schlang ihre Arme um seinen Hals. Wie sehr hatte sie Silvan, ihren alten Lehrmeister vermisst und wie erleichtert und glücklich war sie, ihn endlich wieder zu sehen. Er lächelte und löste sich von ihr. Sein Blick wanderte über ihr glückliches Gesicht und blieb an ihren kurzen Haaren hängen. Fragend hob er eine Augenbraue. „Das erkläre ich dir später", erwiderte sie und lachte. Mehr brauchte er nicht, um zu erkennen, dass es ihr gut ging.
Er führte sie zu den anderen ans Lagerfeuer, wo Kendrik ihr bereits einen Platz freigehalten hatte. Der Mann neben ihm rutschte ein wenig zur Seite, damit sie sich niederlassen konnte. Die Blicke waren erwartungsvoll auf Silvan und auf sie gerichtet. In manchen lag noch die Spur eines Lächelns.
„Darf ich euch Annabelle von Waldhafen vorstellen." Schüchtern winkte das Mädchen in die Runde. Es waren Handwerker, Händler und einfache Bürger von Waldhafen. Sie hatte in ihrem Leben bisher wenig mit Leuten wie ihnen zu tun gehabt, aber wenn sie an sich hinuntersah, war sie mehr eine von ihnen, als eine adelige Herrin von Waldhafen und sie war nicht gerade traurig und erst recht nicht unglücklich über diesen Umstand.
Sie spürte all die Augenpaare, die sie musterten. Einige mit unverkennbarem Erstaunen über ihren Auftritt, andere voller Hoffnung und Neugier, die meisten aber wohlwollend und freundlich. Ihr Herz klopfte. So viele Menschen, die sie enttäuschen konnte. Sie dachte an ihre Mutter und die stets tadelnden Worte. Auch an diesem Abend entsprach sie nicht den Erwartungen. Aber es nützte nichts. Kendrik und Silvan warfen ihr aufmunternde Blicke zu und schließlich fühlte sie sich bereit zu tun, weshalb sie gekommen war.
Annabelle holte tief Luft und ergriff das Wort, rasselte die Sätze herunter, die sie sich gemeinsam mit Krik überlegt hatte.
„Wir sind heute alle hier versammelt, um den neuen Rat von Waldhafen zu begründen und wir alle wollen ein Teil davon sein. Keiner ist mehr wert als der andere, keiner hat mehr zu sagen, als der andere. Wir beschließen gemeinsam und handeln zum Wohle aller!"
Alle hatten gespannt den Atem gehalten und ihren Worten gelauscht, die jetzt verklungen waren.
„Zum Wohle aller!", ertönte es plötzlich vereinzelt. Dann wiederholten es immer mehr und schließlich erklang es laut und mächtig aus vielen Mündern gleichzeitig und der Klang des Echos erfüllte die Höhle. Erleichtert atmete Annabelle aus. „Wohle aller!" Es hallte noch lange nach.
Silvan warf ihr einen bewundernden Blick zu. Selten war er so stolz auf seinen Schützling gewesen, wie an diesem Abend.
Im Verlauf des restlichen Abends war das Mädchen still. Es gab noch so viele wichtige Punkte zu besprechen und zu klären. Sie hatte ihren Beitrag geleistet, sie hatte den Anwesenden versichert, dass sie eine von ihnen war. Dass sie sich nicht für etwas Besseres hielt und kein Einzelner mehr über die Köpfe aller hinweg entscheiden würde.
Es war das, was die Bürger von Waldhafen brauchten, um Eckhards Schreckensherrschaft ein Ende zu bereiten. Ein für allemal.
Und um diesen drehten sich die Gespräche. Ihn galt es auszuschalten und ihn mit samt seiner letzten Anhänger zu entfernen. Die Frage war nur, wie man dies am geschicktesten anstellte und wer sich der Gefahr stellen würde.
Derjenige, der am besten auf diesen Auftrag vorbereitet war. Und bald schon stellte sich heraus, wer der Furchtloseste und Tapferste von ihnen war. Und zudem der jüngste, unter den anwesenden Männern.
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