24) Politik


Keine Macht ist stark genug, um von Dauer zu sein, wenn sie unter Furcht wirkt."

Marcus Tullius Cicero (römischer Redner und Staatsmann, 106 - 43 v. Chr.)

~ ~ ~

Der Abend senkte sich friedlich auf die von einem riesigen Wald umgebene und von einer Mauer umgrenzte Hafenstadt. Hinter den meisten Fenstern brannte Licht. Gute, wohlbesonnene Bürger waren zuhause bei ihren Liebsten. Silvan hingegen lebte alleine und er war zu dieser späten Stunde noch unterwegs. Er war nicht der Einzige. Fischer, Hafenarbeiter, Handwerker und Händler, die nach Feierabend, noch auf ein kleines Bier in eine der Tavernen verschwanden, waren noch zur Genüge auf den Gassen unterwegs. Der ein oder andere grüßte den alten Mann im Vorübereilen und er erwiderte den Gruß.

Man kannte ihn im Städtchen, er wohnte schon fast sein ganzes Leben hier, aber normalerweise sah man ihn nicht auf den Gassen des zwielichtigen Hafenviertels und erst recht sah man ihn nicht in einer der Spelunken und Tavernen.

Aber genau in eine solche führten in an diesem Abend seine Schritte. Das von Rauch erfüllte, dämmerige Licht im Inneren verschluckte ihn und hüllte ihn ein, bevor sich seine Augen daran gewöhnt hatten und er seine Umgebung wahrnehmen konnte. Die Luft, die sich um ihn legte, war stickig und verbraucht. Es roch nach Starkbier und Würzwein, gemischt mit dem Duft nach Fischsuppe und Eintopf, dem üblichen Essen in den Etablissements des Hafens. Geschöpft wurde aus einem großen Kessel, der über dem Herd vor sich hin köchelte. Die Spelunke war um diese Uhrzeit gut besucht, aber kaum einer nahm Notiz von dem Neuankömmling. Ein undurchdringbares Stimmengewirr, lautes Gegröle und Gezanke, umfing ihn. Wie sehr schätzte und bevorzugte er doch die Ruhe und Erholsamkeit des Waldes vor diesem Ort der Genusssucht und Liederlichkeit. Aber er konnte verstehen, wieso Walter ausgerechnet diesen Ort für ihr Treffen vorgeschlagen hatte. Er blickte sich um. Seine Augen hatten sich inzwischen an die dämmerigen Lichtverhältnisse angepasst. Kein Wirt riskierte es, mehr Öllampen als nötig aufzuhängen, falls sie in einem Zank der betrunkenen Gäste von den Wänden geschlagen wurden und sich entfachten. Außerdem kostete Lampenöl jede Menge Geld. Und die Wirte wollten Geld einnehmen und nicht ausgeben.

An einem Tisch in der Ecke erspähte er endlich den Blondschopf, den er suchte. Und als er näher trat, erkannte er auch einige weitere bekannte Gesichter. Gismund, der Korbmacher, Rudolf, der Großhändler, ein Wagner, dessen Namen ihm nicht einfiel, und ein Zimmermann namens Otwin. Walter hatte also Wort gehalten. Sie alle saßen versammelt um den runden Tisch in der Ecke. Walter, der Hufschmied, hatte ihn erblickt und winkte ihm zu.

Silvan gesellte sich zu den Herren am Tisch. Es war nicht unüblich, dass man sich abends in einer Taverne traf und ein Bier unter Freunden trank. Keiner würde Verdacht schöpfen über ihre kleine, aber ungewöhnliche Versammlung. Und wie Walter vorhergesehen hatte, war es fast unmöglich ihr Gespräch zu belauschen. Zu viele Gespräche waren um sie herum im Gange. Wer etwas verstehen wollte, musste schon ganz nahe an ihren Tisch herantreten. Zu nahe, um sich nicht verdächtig zu machen. Erleichtert atmete Silvan aus, ruckte sich den einfachen Stuhl zurecht und nahm darauf Platz.

„Da bist du ja endlich!", begrüßte ihn der Hufschmied und schob einen vollen Krug zu Silvan herüber. Ein paar Tropfen schwappten über den Rand und gossen sich auf die hölzerne Tischplatte mit den vielen Kerben darin. Der Geruch von Starkbier stieg ihm in die Nase. Silvan grüßte in die Runde und die Männer erhoben ihre Krüge, um auf ihn und sein Vorhaben anzustoßen.

Silvan vertraute Walter und auch Gismund, den Korbmacher, kannte er gut genug, um ihn als ausreichend verlässlich einzuschätzen. Bei den anderen Herren am Tisch war er sich nicht sicher. Er hoffte auf Walters Urteilsvermögen. Er hatte ihm mehrmals eingeschärft vorsichtig zu sein, obwohl sein Freund nicht zu Übermut neigte. Dennoch war Silvan angespannt.

„Meine Herren, ihr wisst bereits, aus welchem Grund wir uns heute hier versammelt haben", begann er zaghaft und mit leiser Stimme. Die Männer nickten. Sie waren eingeweiht. Walter hatte ihnen von ihrem Vorhaben berichtet. Aber Silvan war sich nicht sicher, wie viel sie wussten. Daher hatte er beschlossen, ganz von vorne, der Reihe nach und mit etwas Einfachem zu beginnen. Er musste sie am besten gleich und so schnell wie möglich von ihrer Sache überzeugen, falls sie noch Zweifel hegten.

„Waldhafens Reichtum und Wohlbefinden hängt von vielen Dingen ab. Vor allem brauchen wir einen guten und fähigen Herrscher, der unser aller Wohl im Blick hat - nicht nur sein eigenes." Zustimmendes Gemurmel machte sich in der Runde breit. So unterstützt, fühlte sich Silvan angetrieben weiterzusprechen. Seine Worte hatte er sich den ganzen Tag über zurechtgelegt. Er wusste, was er sagen wollte und auch wie er es vorzutragen beabsichtigte.

„Unser neuer Herrscher versagt. Er hat nur eines im Blick. Sein eigenes Wohlergehen. Ihr wisst, dass ich mit Adelmuth in Kontakt stehe. Er unterstützt uns, aber er möchte den Thron nicht mehr. Es ist an der Zeit, dass Waldhafen seine Geschicke selbst in die Hand nimmt. Wir alle wissen, was für unser bescheidenes Städtchen und seine Einwohner am besten ist."

Alle Männer in der Runde pflichteten ihm bei. Nervös ließ er seinen Blick durch den Schankraum gleiten. Keiner nahm Notiz von den paar Herren in der hintersten Ecke, die sich beipflichtend und übermütig zutranken, und erst recht nicht von dem gefährlichen Gespräch, das sie führten. Das er führte.

„Was wir jetzt tun, erfordert höchste Vorsicht und Umsicht. Und ihr müsst mutig sein", warnte er sie. Sie mussten den Ernst der Lage verstehen und das Risiko, auf welches sie sich dabei einließen.

„Wir sind mutige Männer", fiel ihm der Großhändler ins Wort. „Wir wissen, was zu tun ist!"

„Wir sind bereit, es zu tun", warf Walter ein. Die anderen nickten und murmelten ihre Zustimmung.

„Es ist dennoch gefährlich. Das ganze Unternehmen hängt am seidenen Faden. Ein falsches Wort zu der falschen Person und die Sache wird scheitern." Eindringlich lauschten sie seinen Worten. „Es steht viel auf dem Spiel." Ihre Freiheit, ihre Zukunft, ihr Leben, aber das ließ er lieber ungesagt. Die Männer hörten ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen. Sie spürten, dass er im Begriff war, etwas Wichtiges zu verkünden. Silvan blickte sich erneut in der Schankstube um. Ihr Gespräch war nicht aufgefallen, aber vielleicht hatte jemand bemerkt, wie sich die Stimmung am Tisch verändert hatte. Erst als er nichts Verdächtiges wahrnehmen konnte, fuhr er fort.

„Überlegt euch gut, wen ihr zu unserem geheimen Treffen einladet. Sprecht nur die an, denen ihr absolut vertraut." Walter nickte zu den Worten seines Freundes.

„Und jetzt erzähle uns die Details deines Planes", forderte der Hufschmied ihn auf.

„Wir treffen uns in zwei Tagen bei Sonnenuntergang in der Bucht. Ihr kennt alle den versteckten Zugang über die Klippen?" Wieder nickten fünf Köpfe.

„Sagt allen Bescheid, denen ihr traut. Je mehr desto besser. Umso höher stehen die Chancen für unseren Erfolg. Aber lasst die Vorsicht nicht außer Acht! Eckhard darf nichts von unserem Plan mitkriegen." Sie schworen ihm, seine Anweisungen zu beachten. Silvan wusste, dass sie viele Anhänger finden würden, aber die Gefahr lag darin, jemanden einzuweihen, der Angst hatte, der noch unentschlossen war und sie verraten konnte. Zu viele Unschuldige weilten in den Verliesen und es wurden täglich mehr. Ihre Sache war riskant. Aber nur wer etwas wagte, konnte gewinnen. Und es war an der Zeit, dass jemand etwas unternahm - darin waren sich alle einig.

„Wir sind gemeinsam stark, aber einzeln verwundbar", schärfte er ihnen ein. „In zwei Tagen, bei Anbruch der Dunkelheit an der kleinen Bucht. Bringt mit, wem ihr genug vertraut und wir gründen den ersten Rat von Waldhafen."


Einige Meilen nördlich der kleinen, überfüllten Taverne erzählte eine weitere Person ebenfalls von diesem Plan. Er saß nicht in einem stickigen Schankraum, sondern auf einer Bank vor einer alten, halb verfallenen Hütte umgeben von der klaren und kühlen Luft des Waldes.

„Eckhards Plan geht nicht auf. Er wird seine Macht nicht halten können. Immer mehr reden schlecht hinter seinem Rücken und er kann sie längst nicht mehr alle festnehmen lassen. Es sind viel zu viele, die unzufrieden sind. Silvan ist sich sicher, dass viele bereit sind, ihm in den Rücken zu fallen, wenn er es nur schafft, genug Gleichgesinnte zusammenzutrommeln."

„Was hat er vor?" Abby hörte Kendriks Bericht aufmerksam zu. Ihre Wut auf ihn war längst verraucht und sie war froh und erleichtert gewesen, als er wieder in der Hütte aufgetaucht war.

Er hatte sie wortlos in die Arme geschlossen und eine Entschuldigung gemurmelt. Mit ungläubigem Blick hatte sie ihm zugehört, als er berichtete, dass er nicht auf dem Weg nach Nordtstadt gewesen war, sondern in Waldhafen bei ihrem Onkel, und dass er Neuigkeiten hatte. Spätestens in diesem Augenblick hätte sie ihm ohnehin verziehen. Sie hatte ihn mit Fragen überschüttet und ihn gedrängt endlich zu erzählen. „Wie geht es Silvan? Weiß er etwas von meinem Vater? Meiner Mutter? Wann kann ich nach Hause?" Er hatte sie mit einer Geste beschwichtigt abzuwarten und sie nach draußen auf das kleine Bänkchen geführt und ihr ausführlich erzählt, was er wusste.

Erst dann war sie bereit und aufnahmefähig für die anderen Neuigkeiten gewesen.

„Es ist abzusehen, dass er die Macht nicht halten kann. Aber bevor jemand anderes die Macht ergreift, wollen die Waldhafener handeln."

„Und mein Vater? Er könnte seinen alten Rang wieder erlangen?"

Kendrik schüttelte den Kopf. „Er will es nicht, Abelle. Er ist des Regierens müde."

Sie konnte ihren Vater verstehen. Zu oft hatte er sich abends erschöpft und ausgelaugt von den vielen Verpflichtungen des Tages in sein Schlafgemach zurückgezogen.

"Ich will diese Aufgabe nicht erfüllen. Ich könnt es nicht ertragen, jeden Tag den unzähligen Beschwerden und Forderungen unzufriedener Händler und zerstrittenen Handwerkern zu lauschen und sie dann doch abweisen zu müssen." Annabelle schüttelte entschieden den Kopf. "Ich will nicht regieren." Sie wusste, dass sie trotzig klang. Aber auch wenn, sie sich nicht mehr wie ein kleines Kind fühlte, fühlte sie sich doch außer Stande diese Verantwortung zu tragen. Tagtäglich in die enttäuschten Gesichter zu blicken, deren hoffnungsvoll vorgetragene Bitten man nicht erfüllen konnte. Es war äußert ermüdend und unbefriedigend. Absolut nicht wünschenswert. Bis zu diesem Tag konnte sie nicht verstehen, was Eckhard den Edlen veranlasst hatte, seine Hand nach dieser Position auszustrecken. War es Geltungssucht? Eitelkeit? Selbstüberschätzung? Machtgier?

Was auch immer es gewesen war, es war für niemanden gut. Am allerwenigsten für sie selbst und für ihre Familie.

"Musst du auch nicht", unterbrach sie Kendrik, "hör mir erst einmal zu." Sie nickte und lehnte sich zurück.

„Dein Vater hatte viel Zeit, um nachzudenken. Er möchte etwas anderes für Waldhafen. Etwas völlig Neues und mein Onkel tut, was in seiner Macht steht, um es in die Wege zu leiten. Aber er braucht deine Unterstützung."

"Ich werde tun, was ich kann, um ihm zu helfen, aber ich werde nicht an seine Stelle treten." Annabelle hatte sich erhoben und ihren Blick entschlossen auf Kendrik gesenkt. Es war ihr letztes Wort in dieser Angelegenheit. Kendrik würde es verstehen, aber auch ihr Vater und sein Vertrauter mussten dies endlich einsehen. Sie würde nicht zurückkommen, um die neue Herrin von Waldhafen zu werden.







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