2) Die Herren von Waldhafen
„Aus ungelegten Eiern schlüpfen keine Hühner." (Deutsches Sprichwort)
~ 4 Jahre später ~
Aufgeregtes Gemurmel drang gedämpft durch die schweren Türen der Empfangshalle. Annabelle stand unschlüssig davor und zögerte. Ihr Blick glitt hinauf zu der stuckverzierten Decke. Szenen einer wilden Jagd waren darauf gemalt. Sie kannte die Geschichten dazu aus frühester Kindheit, die gesammelten Märchen des Waldes. Vielleicht rührte ihre unstillbare Begeisterung für den Großen Wald daher. Obwohl die Märchen düster und furchterregend waren, eigentlich dazu gedacht, Kinder abzuschrecken und ihnen Angst zu machen. Bei Annabelle hatten sie das Gegenteil bewirkt.
Links und rechts vor der übermannshohen, verzierten Tür standen zwei Wachen ihres Vaters und schauten sie erwartungsvoll an. Sie gab ihnen zu verstehen, dass sie hier draußen warten würde, wie man es ihr aufgetragen hatte. Auf ihren Vater zu hören, war Teil der Abmachung gewesen und sie gedachte nicht, diese zu missachten. Zu viel hing davon ab.
Ihr Blick schweifte zu ihrer schlichten, für ihren Stand viel zu einfachen Kleidung. In diesem Aufzug konnte sie nicht in der Empfangshalle erscheinen. Sie konnte den abfälligen, missbilligenden Blick ihrer Mutter förmlich spüren. Auch ihr Vater würde diesen Aufzug nicht gutheißen. Also blieb ihr nur übrig zu warten. Es machte ihr nichts aus. Die scheinbar endlosen Gespräche und Bittgesuche der Herren, Händler und Handwerker von Waldhafen langweilten sie. Ihre sonstige, tadellose Erziehung völlig außer Acht lassend, lehnte sie sich gegen die Wand. Ein einfaches Leinenkleid aus ungefärbtem Stoff machte eine ganz neue Person aus ihr. Es fühlte sich gut an, sich gegen das kalte Gemäuer zu lehnen. Die Stimmen drangen jetzt lauter zu ihr hindurch und sie konnte sogar einzelne Worte verstehen.
„Adelmuth, ich bitte dich, diese Entscheidung noch einmal zu überdenken. Ich weiß, dass du im Sinne von Annabelle handelst, aber du solltest es nicht übereilen." Diese Stimme gehörte zu Eckhard, den alle nur den Edlen nannten. Er hatte diesen Spitznamen verdient, weil er sich mehr herausputzte, als sonst jemand bei Hofe. Selbst ihren Vater, den Herren von Waldhafen, stellte er mit seinem übertrieben zur Schau gestellten Schmuck und Prunk in den Schatten.
Das Mädchen horchte auf, als sie ihren Namen vernahm. Sie mochte Eckhard, den Edlen, nicht. Aber für ihren Vater war er ein wichtiger Ratgeber und Vertrauter, obwohl sie nicht verstand, warum er auf sein schmieriges und falsches Gerede achtgab. Aber was verstand sie schon von der Politik der Erwachsenen.
Die Stimme, die jetzt sprach, erkannte sie sofort. Sie gehörte ihrem Vater. „Eckhard, ich weiß deinen Rat zu schätzen. Aber ich habe lange darüber nachgedacht und es ist die einzige Möglichkeit, die ich treffen kann." Er verstummte. Dann hallte seine laute Stimme erneut durch die Halle. Entschlossen und deutlich. „Ab sofort erlasse ich, dass auch Mädchen als Herrin von Waldhafen regieren können." Ein blecherner Gong ertönte, um den Worten von Adelmuth Wichtigkeit zu verleihen. Annabelle kannte das Prozedere, wenn ihr Vater eine Sache beschloss. Sie hatte den Hall des Gonges schon oft in den Fluren erschallen und vertönen gehört. Aber dieser Erlass war ihr neu. Warum hatte ihr Vater nichts davon erzählt?
Wenn sie ehrlich war, kannte sie den Grund.
Ihr Vater hatte keinen Sohn, und sie wollte nie die Herrin von Waldhafen werden. Das musste ihrem Vater bewusst sein. Sie es schließlich mehr als nur einmal kundgetan. Ihrem Vater war es also nur möglich, sie an einen Kandidaten seiner Wahl zu verheiraten und diesen als seinen Nachfolger zu bestimmen. Aber bisher hatte sich kein geeigneter Bewerber hervorgetan, was Annabelle mehr als nur recht war. Allerdings war sie sechzehn Jahre alt und allzu lange würde ihr Vater mit einer Vermählung nicht mehr warten. Als alte Jungfer war sie ihm in keinster Weise von Nutzen.
Die schwere Tür öffnete sich einen Spalt weit. Eine hagere, männliche Gestalt schlüpfte hindurch und richtete sich auf. Sie erkannte den Berater und Jugendfreund ihres Vaters. Er trug eine tiefschillernde, dunkelgrüne Weste mit blauem Besatz. Seine schwarzen Stiefel glänzten, ebenso wie sein schwarzes streng nach hinten gekämmtes Haar. Nicht zum ersten Mal erinnerte sie Eckhard, der Edle, an einen Pfau, farbenprächtig, stolz und eingebildet. Sein abschätziger Blick blieb kurz an ihrem Gesicht hängen, er nickte ihr knapp zu, dann glitten seine blassen Augen über ihre Aufmachung und nach einem missbilligenden Schnalzen mit der Zunge eilte er mit langen Schritten davon.
Ein Erlass wie dieser würde bei den Beratern ihres Vaters zu großem Unmut führen. Soviel war Annabelle bewusst. Hatte er wenigstens vorab mit ihnen darüber gesprochen? Hatte ihm überhaupt einer von ihnen zu diesem Beschluss geraten? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Es sah ihrem Vater nicht ähnlich, übereilte und unkluge Entscheidungen zu fällen.
Das Stimmengewirr hinter der Tür schwoll erneut an. Das Mädchen konnte nur noch einzelne Wortfetzen ausmachen, ehe sich die Türe erneut öffnete.
Auch dieses Mal erkannte sie die Silhouette, die heraustrat, sofort. Großgewachsenen und schlank, die ergrauten Haare kurz geschnitten, gekleidet in einfache, pragmatische Kleidung. Silvan, ihr Lieblingsmentor, ließ seinen wachsamen Blick durch den Vorraum wandern und eilte mit entschlossenen Schritten auf sie zu.
„Komm mit, Abby", wies er sie an und sie folgte ihm ohne Widerworte den menschenleeren Gang entlang. Es war an der Zeit. Sie hatte lange genug auf ihn und auf ihre heutige Stunde Unterricht gewartet.
Er blieb nicht stehen oder passte seine Schritte den ihren an. Er eilte mit langen Schritten voraus durch das Gewirr von Gängen und Treppen, ging grußlos an Wachen und Dienstboten vorbei. Annabelle kannte ihren Lehrmeister gut genug um zu erkennen, dass seine Laune im Keller war. Ob es mit den Ereignissen in der Empfangshalle zu tun hatte? Sie wagte nicht, ihn danach zu fragen. Wenn er missgestimmt war, bevorzugte er es, in Ruhe gelassen zu werden, das wusste sie inzwischen gut genug.
Erstaunt stellte sie fest, dass er den Weg nach oben wählte, anstatt nach unten zu den Ställen oder dem Burgtor zu gehen, wie bei ihren üblichen Lehrstunden.
"Wo gehen wir hin?"
"Zu deinen Gemächern", erwiderte er knapp.
Erstaunt blickte sie ihn an und er blieb stehen und wandte sich ihr zu. „Hol dein Tagebuch und was zu schreiben. Du wirst heute deine Notizen auf Vordermann bringen."
Sie tat, was er ihr sagte. Ihr in Leder gebundenes Buch lag aufgeschlagen auf ihrem Sekretär. Daneben befanden sich Schreibfedern und Tintenfass. Sie nahm beides behutsam und packte es in ihre Tasche. Etwas Nützliches hatte dieses schlichte, unauffällige Kleid ihren sonstigen Roben voraus - es besaß Taschen. Eine Eigenschaft, die Abby oft unschätzbar wertvoll erschien. Das Büchlein konnte sie bequem unterm Arm tragen.
Sie war ein wenig enttäuscht. Silvans Ansage bedeutete, dass sie heute weder reiten oder jagen, noch tiefer in den Wald vordringen würden, als nötig und sie auch nichts Neues lernen konnte. Wenn sie ihre Lektionen aufschreiben sollte, führte Silvan sie zu dem abgesägten Stamm einer alten Eiche. Dort konnte sie ihr Buch ablegen und auf einem Baumstumpf Platz nehmen. Einmal hatte sie ihren Lehrer gefragt, warum sie zum Schreiben nicht in der Schreibstube blieben.
„Weil du die Erkenntnisse, die du hier draußen gewonnen hast, auch am besten hier draußen aufschreibst. Alles, was du hinter toten Mauern niederschreibt, bleibt totes Wissen."
Es hatte ihr eingeleuchtet. Jedes Mal, wenn sie nicht weiterwusste, ließ sie ihren Blick in den Himmel oder zu den Bäumen schweifen. Dort draußen konnte man viel besser nachdenken und ihre Lektionen kamen ihr wieder in den Sinn. Fast wie von alleine gelang es ihr, niederzuschreiben, was sie gelernt hatte.
Es bedeutete aber auch, dass Silvan irgendetwas beschäftigte. Er schob ihre Schreibstunden immer dann ein, wenn er seine Ruhe brauchte, um nachzudenken.
Abby seufzte, bevor sie zu ihrem Lehrmeister auf den mit einem dicken Läufer ausgelegten Flur trat und ihm schweigend hinaus in den Wald folgte.
Am liebsten mochte sie es, wenn er ihr etwas von den Pflanzen erzählte, die im Wald wuchsen. Er wusste fast alles darüber. Wie die Pflanzen hießen, ob sie giftig oder essbar waren, und wozu sie angewendet wurden. Es erstaunte Abby, dass fast jedes Kraut zu irgendetwas gut war.
Wenn er ihr heute schon nichts Neues beibringen würde, würde sie die Zeit wenigstens nutzen, um sich die Dinge zu notieren, die er ihr in ihren letzten Unterrichtsstunden beigebracht hatte.
Das Mädchen ließ ein gewisses Talent erkennen, wenn es darum ging, die Blüten und Blätter der Pflanzen nachzuzeichnen. Selbst ihr alter Lehrmeister war von ihren Fähigkeiten und ihrer Gewissenhaftigkeit mehr als erstaunt. Am meisten überraschte es ihn aber, dass sie nicht den Namen einer einzigen Pflanze zu vergessen schien, den er ihr jemals nannte.
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