17) Nordstadt
„Die Welt ist ein Buch. Wer nie reist, sieht nur eine Seite davon."
Aurelius Augustinus (Theologe und Philosoph, 354 - 430)
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Der eine ausgeruht und gestärkt, die andere angespannt und besorgt, brachen die beiden beim ersten Tageslicht des neuen Morgens auf. Der Bauer war schon bei seinen Tieren und die Bäuerin gab ihnen eine letzte Standpauke mit, ehe sie ihre Gäste verabschiedete.
Der Weg bis nach Nordstadt war nicht mehr weit. Und mit jeder Stunde, die verstrich, wurde Kendrik aufgeregter, während sich die Nervosität bei Annabelle legte. Er freute sich darauf, seine Mutter wieder zu sehen, wie jedes Mal, wenn er aus Waldhafen zurückkehrte. Auch dieses Mal war er lediglich ein paar Tage fort gewesen, und so sehr er es genoss die Natur um sich zu haben und dabei sein eigener Herr zu sein, so sehr vermisste er doch seine Mutter. Und dieser Auftrag hatte ihn besonders gefordert, wenn auch auf eine völlig andere Art und Weise, als er es anfangs befürchtet hatte.
Annabelle sehnte sich der Stadt aus einem anderen Grund entgegen. Die Menschenmenge würde ihr Schutz bieten und ihre Feinde müssten sie erst einmal finden - selbst wenn die Bauersfrau den ausgeschickten Reitern verraten würde, wohin sie unterwegs waren. Nordstadt wirkte wie das Versprechen auf Sicherheit. Vorübergehend zwar, das war ihr bewusst, aber ein Anfang, um zur Ruhe zu kommen und auf Nachrichten aus Waldhafen zu warten.
Es war noch keine zwei Wochen her, dass Kendrik Silvans Brief mit der Bitte so schnell zu kommen, wie er konnte, erreicht hatte. Er war am nächsten Tag aufgebrochen und nach Waldhafen geeilt, so schnell er konnte. Silvans Brief hatte so dringlich geklungen und Kendrik hatte keine Ahnung gehabt, was die spärlichen Worte darin bedeuten würden und wie anders sein Weg zurück dieses Mal sein würde. Anders, weil sich dann ein durchaus außergewöhnliches Mädchen in seiner Begleitung befinden sollte.
Nordstadt war das genaue Gegenteil von Waldhafen, sofern es möglich war zwei Städte miteinander zu vergleichen. Während Waldhafen, eingepfercht von seinen schützenden Mauern, an der Küste umgeben von dem riesigen, wilden Wald lag, war Nordstadt eine weitläufige, einfache Ansammlung von schlichten, meist flachdachigen Sandsteinhäusern, die sich in der weiten Ebene des hügellosen Landes erstreckte. Nordstadt hatte keine Befestigung und viele Handelsrouten kreuzten die Stadt, die zu den Hafenstädtchen der Küste oder weiter ins Innere des Landes führten. Viele Menschen verschiedenster Herkunft lebten in Nordstadt, ein bunt gemischtes Völkchen. Einerseits traute keiner so recht dem anderen, andererseits würde sich keiner über einen weiteren, neuen Bewohner wundern. Die Chancen standen gut, dass Abels Tarnung hier unentdeckt bleiben würde. Zumindest hatten die beiden beschlossen, dass es sicherer war, wenn man sie weiterhin für einen Jungen hielt und sie die Maskerade aufrecht halten würde.
Annabelle gefiel die Rolle, die sie spielte und sie ging immer mehr darin auf. Es hatte ihr am Abend ihrer Ankunft auf dem Hof eine diebische Freude bereitet, wenn die Bäuerin sie mit ihrem neuen Spitznamen angesprochen hatte. Wenn ihr das Missgeschick nicht passiert wäre, hätte sie ihr sicher auch noch am Morgen ihre Maskerade abgekauft.
Mit jeder weiteren Stunde, die verstrich, fühlte sie sich wohler in ihrer Haut. Und dann tauchte mit einem Mal die Stadt vor ihnen auf. Niedrige Häuser reihten sich in einer langen Reihe aneinander und breiteten sich dahinter kreuz und quer in allen Richtungen aus. Alle Häuser bestanden aus dem gleichen, ockerfarbenen Sandstein und waren in derselben Bauweise erbaut. Für Annabelle sah eines aus wie das andere.
Wenn Kendrik sie nicht sicher durch das Gewirr der Gassen geführt hätte, sie hätte sich bereits nach wenigen Wegkreuzungen hoffnungslos verirrt. Es gab kaum einen Punkt, der ihr Orientierung bot. Im Wald wäre sie vielleicht noch ohne ihn zurechtgekommen, hier jedoch war sie froh, dass er bei ihr war und ihr sicher den Weg wies.
Auf den Straßen und Gassen herrschte ein lebhaftes Treiben. Nach der Ruhe und Einsamkeit im Wald, hätte Abby sich am liebsten die Ohren zugehalten und sich hinter ihrem verschreckten Pony versteckt. So aber vergrub sie sich tief in den Sattel und folgte Kendrik so schnell sie konnte.
Vor einem zweistöckigen, kleinen Haus mit flachem Dach, das sich in keiner Weise von den anderen Häusern unterschied, blieb er schließlich stehen und stieg ab.
„Da wären wir. Darf ich dir mein bescheidenes Zuhause vorstellen." Mit einer galanten Bewegung verbeugte er sich vor ihr.
„Sehr gerne, der Herr." Abby war gewillt auf seinen Scherz einzugehen.
Seit sie den Reitern entkommen waren, hatte sich der Umgangston zwischen ihnen geändert.
Kendrik nahm ihr die Zügel aus der Hand und führte die beiden Ponys durch einen schmalen Torbogen. Abby folgte ihm zögerlich. Dahinter befand sich ein kleiner Hinterhof mit einem überschaubaren Garten, auf dem eine Schar Hühner umherstolzierte. Kendrik ignorierte die gackernden Vögel und den Garten und betrat einen alten Bretterverschlag, der seine besten Zeiten schon hinter sich hatte. Dort hinein führte Kendrik die beiden Ponys. Abby hörte das Gemecker einer Ziege und als sie Kendrik in den dunklen Stall folgte, brauchte sie eine Weile bis sich ihre Augen an die spärlichen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Licht kam nur durch ein winziges Fenster am Ende, dessen geschlossene Fensterläden schief in den Angeln hingen.
Als sie etwas erkannte, sah sie Kendrik, der liebevoll eine weißbraun gescheckte Ziege streichelte und am Hals kraulte. Das Tier genoss die Berührungen ganz offensichtlich.
„Darf ich dir Milly vorstellen?" Kendriks Blick streifte Abby, die immer noch unschlüssig in der Tür stand. „Meine Ziege. Abby, Milly, Milly, Abby." Er fuchtelte scherzhaft mit seiner Hand zwischen den beiden hin und her.
„Guten Tag, Milly. Sehr erfreut, deine Bekanntschaft zu machen." Zaghaft machte das Mädchen einen Schritt auf das Tier zu und berührte das weiche Fell.
„Nur nicht so schüchtern, sie beißt schon nicht." Kendrik grinste, als Annabelle seine Ziege kräftiger streichelte.
Mit einem Mal verdunkelte ein Schatten in der Tür das Innere. „So? Du stellst Gäste also zuerst deiner Ziege vor? Wer hat dir nur Manieren beigebracht, Junge?" Der überraschte Blick zweier Augenpaare fiel auf eine hochgewachsene Gestalt, die im Türrahmen stand.
Während die grünbraunen Augen von Abby sich überrascht weiteten, weiteten sich die graublauen von Kendrik vor Freude, ehe er sich von der Ziege löste und seine Mutter schwungvoll umarmte.
Er lachte. „Du kennst mich doch, Mutter. Erst die Tiere, dann die Menschen."
Dann löste er sich wieder von seiner Mutter. „Mutter, das ist Abel. Abel, dass ist Deina, meine Mutter." Dieselbe Geste seiner Hand begleitete auch dieses Mal seine Worte.
Abel begrüßte die Frau artig und höflich. Sie war groß, auch wenn ihr Sohn sie um einige Zentimeter überragte und sie hatte dieselben dunklen Haare, die sie zu einem langen Zopf trug, und die gleichen graublauen Augen, aber ihre Gesichtszüge waren weicher und so sehr sie auch suchte, sie konnte keinerlei Ähnlichkeit zu Kendriks markantem Gesicht herstellen. Vielleicht kam er dabei nach seinem Vater. Aber das Gesicht seiner Mutter erinnerte sie an jemand anderen, den sie schmerzlich vermisste. Silvan, ihr alter Lehrmeister, war seiner Schwester wie aus dem Gesicht geschnitten. Die beiden waren unverkennbar Geschwister.
„Lass uns ins Haus gehen und dann erzählt ihr beiden, was in Waldhafen los ist. Auf den Straßen hört man so manches Gerücht." Kendriks Mutter hatte eine angenehme Stimme und Abby beschloss, dass sie sie auf Anhieb mochte.
Das Innere des Hauses war eng, aber gemütlich. Deina und die beiden Neuankömmlinge nahmen an einem großen Holztisch im Esszimmer Platz. Deina schenkte jedem einen Krug Wasser aus und schaute ihren Sohn und seine Begleitung erwartungsvoll an, ehe sie ihre erste Frage stellte. „Abel ist nicht dein richtiger Name, oder? Und das sind auch nicht deine Kleider, die du trägst."
Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Eigentlich Annabelle, aber unterwegs war es notwendig, dass ich sowohl meinen Namen als auch mein Aussehen ein wenig verändert habe."
„Annabelle." Kendriks Mutter testete den Klang ihres Namens aus. Dann fiel ihr etwas ein. „Oh! Du bist das Mädchen, das Silvan unterrichtet." Es war eine Feststellung und keine Frage.
„Ja."
„Oh Kendrik, wieso hast du nicht besser auf sie aufgepasst. Jetzt sieh dir nur mal an, in welchem Zustand sie ist." Mit besorgtem Blick musterte sie Annabelle von oben bis unten. Sowohl ihre für ein Mädchen höchst ungewöhnliche Frisur, als auch die unvorteilhafte Kleidung blieben ihr nicht verborgen. Offensichtlich gab es wenige Dinge, die Deina entgingen. „Ich hoffe, mein Sohn hat sich dir gegenüber gut benommen? Er kann manchmal etwas barsch und abweisend sein."
„Mutter!" Kendrik fiel ihr empört ins Wort, doch Deina war bereits aufgestanden.
Auf Annabelles Gesicht stahl sich ein Lächeln. Es war erfrischend zu sehen, wie jemand Kendrik die Stirn bot. Seine Mutter kannte ihren Sohn gut.
„Keine Sorge. Er hat sich benommen. Ich komme schon mit ihm zurecht."
Deina musterte Annabelle mit einem seltsamen Blick, ehe sie etwas sagte. „Das beruhigt mich zu hören. Schließlich habe ich mein Bestes gegeben, ihm wenigstens ein wenig Anstand und Manieren beizubringen. Soll ich dir frische Kleider bringen? Du kannst etwas von mir ausleihen, schließlich haben wir dieselbe Größe. Und dann lassen wir dir ein warmes Bad ein. Die Reise muss anstrengend gewesen sein."
„Nein, Mutter!" Kendrik wies sie mit einer Geste an, sich wieder hinzusetzen. „Lass mich erst erklären, warum sie in diesem Aufzug ist, ehe du mich beschuldigst."
Widerwillig ließ sich Deina wieder auf ihren Stuhl sinken. „Dann erzählt mal."
Und so erzählten die beiden abwechselnd ihre Geschichte und Deina hörte ihnen zu, fragte ab und zu nach und nickte verstehend. Immer häufiger fiel ihr Blick dabei auf Annabelle, dann wieder auf ihren Sohn. Fast kam es Abby vor, als hätte sie die Frau schon immer gekannt.
Schließlich waren sie am Ende ihres Berichts angelangt.
„Und deswegen ist es besser, wenn Abel sich weiterhin verkleidet und vorgibt ein Junge zu sein", schloss Kendrik seine Erklärung ab. „Außerdem ist sie ganz gut darin." Er grinste schelmisch.
„Und es war wirklich deine Idee?", fragte Deina und wandte sich an das Mädchen.
„Ja", erklärte sie. „Und es war die einzige Möglichkeit, die wir hatten. Kendrik hat sich sogar dafür entschuldigt, dass er es mit meinen Haaren etwas übertrieben hat." Sie grinste ebenfalls spitzbübisch. „Es ist nicht weiter schlimm. Es sind nur Haare, und die wachsen wieder. Aber eigentlich finde ich es ganz praktisch. So ein warmes Bad klingt jetzt viel verlockender, wenn man danach nicht stundenlang seine Haare kämmen und trocknen muss."
Deina schaute ungläubig von Annabelle zu ihrem Sohn. „Du hast dich sogar bei ihr entschuldigt?" Jetzt war es an ihm zu nicken.
„Das Mindeste, was ich tun konnte. Sie hat mich förmlich dazu gedrängt. Und wie du siehst, steckt sie es tapfer weg. Alles halb so schlimm, schließlich hat es seinen Zweck erfüllt und wir sind den Reitern entkommen. Aber wer weiß, ob sie uns nicht bis hierher folgen und dann wäre es besser, wenn Annabelle sicher ist."
„Du hast recht." Abby konnte sehen, wie es hinter Deinas Stirn arbeitete. „Dann suche ich dir ein paar von Kendriks alten Kleidern heraus, während mein Sohn Wasser für ein heißes Bad holt. So ein Bad ist jetzt genau das, was ihr beide braucht. So lasse ich euch heute Nacht nicht unter meinem Dach schlafen!"
Deina war erneut aufgestanden. Kendrik seufzte. „Wo steckt Nilla überhaupt? Und wo soll Annabelle schlafen?"
„Nilla besucht ihre Schwester. Sie ist krank." Deina verschwand durch eine Tür in den angrenzenden Raum. „Und Abel schläft in deinem Zimmer. Du kannst in der Stube schlafen", schallte ihre Stimme aus dem Nebenraum.
„Und jetzt los. Du holst das Wasser und ich richte euch das Bett, suche euch Kleidung raus und mache etwas zum Abendessen. Ihr seid bestimmt hungrig."
Das waren die beiden in der Tat, doch ehe sie etwas essen konnten, musste erst das Wasser geholt und erhitzt werden. Abby ließ Kendrik nicht alleine schleppen, sondern bestand darauf, sich ebenfalls nützlich zu machen.
Deina beobachtete die beiden mit nachdenklichem Blick, während sie aus dem Fenster der Küche hinunter in den Hof schaute, wo die beiden am Brunnen ihre Eimer auffüllten.
Sie hatte ihren Sohn noch nie so locker und gelöst im Umgang mit einem anderen Menschen gesehen. Erst recht keinem Mädchen. Und der Anblick, der sich ihr bot, überraschte sie genauso, wie es sie erfreute.
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