7) Bruder und Schwester


***Celien***

Ich wachte am nächsten Morgen in aller Frühe auf. Ich hatte unruhig geschlafen und beschloss, mich nicht länger mit meinen Grübeleien zu quälen. Rasten war nicht mehr nach Hause gekommen, so wie er es angekündigt hatte. Zum bestimmt hundertsten Mal fragte ich mich, was dieser plötzliche Appell zu bedeuten hatte. Ich wäre die letzte Person, der Rasten etwas von seiner Arbeit erzählen würde, aber wenn es Schwierigkeiten gäbe, hätte er sich mir doch sicher anvertraut.

Ich wusch mich mit kaltem Wasser und zog ein einfaches blaues Baumwollkleid für die Arbeit in der Apotheke an. Heute gab es viel zu tun, die Arbeit würde mich ablenken. Aber vorher beschloss ich, noch schnell zur Bäckerei am Ende der Gasse zu laufen. Wir hatten kein Brot mehr im Haus und Rasten würde schimpfen, wenn ich vor lauter Arbeit vergäße, welches zu kaufen. Also war es vermutlich klüger, das gleich zu erledigen. Selber Brot zu backen war mir meistens zu viel Arbeit und im Backen war ich leider nicht halb so begabt, wie im Zubereiten von Arzneien und Heiltränken. Man sah mich folglich oft in die Bäckerei verschwinden und mit einem frisch gebackenen Laib Brot zurückhuschen.

Der Bäckermeister und sein Geselle begrüßten mich freundlich, als ich die Backstube betrat. An diesem Morgen würde ich mir auch selbst etwas gönnen und so nahm ich mir zum Frühstück eines der leckeren Gebäckstückchen mit.

Auf dem Weg zurück sah ich Parrik in der Schmiede und winkte ihm fröhlich zu. Er erwiderte meine Geste und ich glaubte, dass er dabei sogar lächelte. Ein gelungener Start in den Tag. Es war schade, dass er so selten lachte. Wenn ich nur wüsste, wie ich dies ändern könnte.

Schon viel besser gelaunt, begann ich mit der Arbeit des Tages. Ein paar der Kräuter, die ich im Wald gesammelt hatte, musste ich zum Trocknen auslegen. Aus den getrockneten Blättern konnte ich später einen Sud brauen, den ich als Grundlage für einige meiner Arzneien verwendete.

Ein paar andere Kräuter musste ich frisch verarbeiten, um eine möglichst gute Wirkung zu erzielen. Mit einem scharfen Messer schnitt ich die Blätter so fein wie möglich und zerrieb sie anschließend mit einem Stein, um den Saft aus den Blattadern zu pressen. Vorsichtig gab ich das Ganze in einen Topf mit Wasser und ließ es unter Rühren aufkochen. Anschließend musste ich es nur noch durch einen Sieb gießen und in eines der leeren Fläschchen abfüllen.

Die Wurzeln, die mir Parrik ausgegraben hatte, rieb ich zu einem feinen Pulver. Daraus konnte ich bei Bedarf einen Tee für Magenbeschwerden oder eine Salbe für Erkältungen herstellen. Beides Arzneien, um die ich oft gebeten wurde. Wie gut, dass Parrik mich gefunden hatte. Wurzeln ausgraben war eine anstrengende Angelegenheit. Die meisten sträubten sich einfach davor, aus dem Erdreich gezogen zu werden und man musste tief graben, bis sie sich aus dem Boden befreien ließen.

Ich hatte es genossen, Parrik dabei zuzuschauen, wie er mit seinen starken, muskelbepackten Armen in der Erde gegraben hatte. Es war nicht schwer zu erkennen, dass die Arbeit in der Schmiede seinen Körper gestählt hatte.

Eine Frau betrat meinen Laden und unterbrach meine Schwärmerei. Sie fragte nach einer Salbe gegen schmerzende Gelenke und ich versprach, sie ihr heute noch zuzubereiten, damit sie sie am nächsten Tag abholen könne.

Als sie ging, holte ich ein paar Samen aus meiner Tasche. Ich hatte einen kleinen Kräutergarten hinter unserem Haus angelegt. Dort wuchsen inzwischen viele Pflanzen, die ich für meine tägliche Arbeit brauchte. Auf meinen Garten war ich sehr stolz. Dort verbrachte ich viele Stunden. Ich schaute den Pflanzen beim Wachsen zu, freute mich an ihren Blüten und ihrem Duft. Zupfte Unkraut, goss und pflegte meine Gewächse. Manchmal sammelte ich im Wald Pflanzensamen und wenn es mir gelang, sie in meinem Garten anzubauen, freute ich mich sehr.

Ich drückte die kleinen Körner vorsichtig in die Erde und goss Wasser aus einer Kanne darüber. Vielleicht würden auch diese aufgehen und gedeihen.

Im weiteren Verlauf des Tages kamen noch einige Kunden, die eine Bestellung aufgaben oder denen ich eine Salbe oder einen Heiltrank aus meinem Vorrat verkaufte. Gegen Nachmittag stellte ich die bestellten Arzneien her.

Als ich damit fertig war, räumte ich auf, stellte alle Utensilien wieder sorgfältig zurück in die Regale und verbrachte noch etwas Zeit in meinem geliebten Garten.

Wie immer, wenn ich hier draußen war, vergaß ich, wie die Zeit verging. Plötzlich bemerkte ich, dass ich beobachtet wurde. Als ich mich umdrehte, stand mein Bruder vor mir. Ich hatte nicht gehört, wie er gekommen war.

Seine blonden Haare sahen zerzaust aus, Rasten hatte die Angewohnheit mit den Fingern durch die Haare zu streichen, wenn er nervös war. Wie lange stand er schon da und beobachtete mich?

Ich schaute ihn an. Er öffnete seinen Mund, als wollte er etwas sagen. Dann schloss er ihn wieder und setzte sich auf eine niedrige Steinmauer. Mit der rechten Hand fuhr er sich durch seine Locken.

Irgendetwas war nicht in Ordnung.

„Ist etwas passiert?" Ich konnte meine Neugier nun nicht mehr im Zaum halten.

„Es gab einen Vorfall bei der Wache. Aber darüber musst du dir keine Sorgen machen." Rastens Stimme klang erschöpft.

Damit gab ich mich nicht zufrieden. „Was für einen Vorfall?" Ich beobachtete seine Reaktion, aber er ließ nicht erkennen, was geschehen war.

„Nicht so wichtig. Ich bin müde und hab Hunger. Gibt es etwas zu essen?" Netter Versuch das Thema zu wechseln. Damit würde ich meinen Bruder nicht durchkommen lassen. Nicht heute.

„Jetzt lenk nicht ab. Was ist denn passiert, dass du gestern Abend sofort zur Wache musstest? Es muss ja wahnsinnig wichtig gewesen sein."

Rasten seufzte tief. „Ich habe heute den ganzen Tag über nichts anderes geredet. Ich will nicht mehr davon sprechen. Es ist nichts, glaub mir. Ich erzähle es dir morgen. Versprochen! Ich bin wirklich erschöpft!" Um seine Worte zu unterstreichen, gähnte er einmal tief. Und ich gab mich wieder einmal geschlagen. Zumindest fürs Erste. „Na gut, lass uns hochgehen. Ich habe frisches Brot besorgt. Es ist schön, zur Abwechslung mal nicht alleine essen zu müssen." Aber morgen würde ich mit Sicherheit auf sein Versprechen zurückkommen. Irgendwas war vorgefallen und ich würde meinen Bruder schon dazu kriegen, es mir zu erzählen.

Während ich den Tisch deckte und das Brot aufschnitt, wartete Rasten bereits am Tisch und schwieg. Er versuchte erst gar nicht, sein Gähnen zu unterdrücken.

„Du arbeitest zu viel." Ich sprach aus, was ich dachte. Seine Miene verfinsterte sich schlagartig. Er konnte es nicht leiden, wenn ich mich in seine Angelegenheiten einmischte, das wusste ich, konnte es aber trotzdem nicht lassen.

„Ich arbeite nicht zu viel. Im Gegenteil, ich finde, du arbeitest zu viel. Jeden Abend stehst du bis spät in die Nacht in deiner Apotheke und kümmerst dich um die Wehwehchen anderer Leute. Es wird Zeit, dass du dich einmal um deine eigenen Angelegenheiten kümmerst." Seine Stimme überschlug sich vor Erregung, aber seine Worte trafen mich tief.

Vor Überraschung und Wut brauchte ich eine Weile, bis ich mühsam die passenden Worte für eine Frage gefunden hatte. „Und was wären meine eigenen Angelegenheiten?"

Seine Müdigkeit schien mit einem Mal wie verflogen.

„Du kümmerst dich um alles und um jeden, nur nicht um dich selber. Andere Mädchen in deinem Alter sind schon längst verheiratet und haben ihre eigene Familie. Ich kann mich nicht auf Dauer um dich kümmern." Daher wehte also der Wind. Aber ich verstand nicht wirklich, was sein Problem war. Er hatte mich bisher immer unterstützt und zu mir gestanden, wenn andere darüber geredet hatten, dass Frauen keine Apotheke führen sollten. Und jetzt fiel er mir in den Rücken. Ich spürte, wie Wut in mir aufstieg und Tränen in meine Augen traten.

Ich knallte die Schüssel auf den Tisch. „Du musst dich nicht um mich kümmern. Ich komme alleine zurecht. Du bist sowieso kaum da in letzter Zeit!" Meine Stimme war lauter als beabsichtigt und klang viel vorwurfsvoller als ich es geplant hatte.

„Ich weiß, Celien." Seine Stimme dagegen war merkwürdig ruhig. „Aber ich bin dein Bruder und die einzige Familie, die du hast. Was ist, wenn mir etwas zustößt? Wer sorgt dann für dich? Es ist nicht gut, wenn du alleine bist. Du solltest langsam mal daran denken zu heiraten." Darüber hatten wir schon ein paar Mal gesprochen.

„Ich will nicht heiraten. Und warum sollte dir etwas zustoßen?" Hatte diese plötzliche Sorge etwas mit dem Vorfall in der Kaserne zu tun und warum sagte er mir nicht einfach, was los war? „Ich dachte, wir seien uns einig. Wen sollte ich denn heiraten?" Anstatt mir meine Fragen zu beantworten, stützte Rasten beide Ellbogen auf dem Tisch auf und strich sich nun mit beiden Händen durch die Haare. Aufgebracht redete ich weiter. „Ich habe nicht vor, die Apotheke für einen Mann aufzugeben. Sie ist das Vermächtnis unserer Mutter und Großmutter. Sie wären so enttäuscht, wenn ich einfach so ohne Grund aufgeben würde. Heiraten kommt für mich nur in Frage, wenn ich einen Mann finde, der mich liebt so wie ich bin und den ich liebe, und der mich meine Arbeit weiterführen lässt. Und das weißt du!" Ich hatte mich so in Rage geredet, dass ich den letzten Satz fast in sein Gesicht schrie.

Trotzdem blieb er ganz ruhig, als er antwortete. „Ich weiß, Celien. Aber du musst verstehen, dass ich nur dein Bestes im Sinn habe". Nun war ich es, die seufzte und die Augen verdrehte.

„Rasten, bitte zwinge mich nicht zum Heiraten." Abgesehen davon, dass ich nicht der Typ Mädchen war, der sich gegen seinen Willen zu etwas überreden ließ, war Rasten nicht der Typ Mann, der seine Schwester in eine Heirat treiben würde, die sie nicht wollte.

„Würde ich nicht, aber bitte denk darüber nach. Ich mache mir Sorgen um dich. Du arbeitest so viel. Ich weiß, dass du es gerne machst. Aber irgendwann wirst du vielleicht feststellen, dass dir eine eigene Familie fehlt und dann wird es zu spät sein. Und irgendwann werde ich auch nicht mehr da sein und dann bist du ganz alleine."

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, stand er auf und ging in seine Kammer. Nachdenklich wusch ich das Besteck und die Teller ab und räumte das übrige Brot für den nächsten Tag in den Brotkasten. Ob ich wollte oder nicht, ich musste über seine Worte nachdenken und vor allem darüber, was der Auslöser für seine plötzliche Sorge war. Mein Gefühl sagte mir, dass irgendetwas dahinter steckte und ich musste herausfinden, was das war.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top