47) Im Angesicht der Angst
***Celien***
Wie erwartet schlief ich in dieser Nacht wenig, aber ich fühlte mich voller Tatendrang und konnte es kaum abwarten, endlich aufzubrechen.
Parrik stand wie verabredet mit den beiden Pferden bei Anbruch des Morgengrauens vor meiner Apotheke. Aber er war nicht alleine. Er hielt den Braunen und Quenny die Schimmelstute an den Zügeln.
„Hier!" Quenny drückte mir die Zügel in die Hand. „Ally hat euch genug Proviant für eine Woche eingepackt", fügte sie vergnügt hinzu und zwinkerte. „Falls es länger dauert, seid ihr vor dem Hungertod sicher."
Von Parrik folgte kein Gruß. „Wir haben keine Zeit zu verlieren, Maras Zustand ist ernst. Sie braucht diese Medizin", brummte er. „Und du weißt, wie hungrig das Reiten im Wald macht."
„Ich weiß", fiel ihm Quenny ins Wort, „wahrscheinlich futterst du die Vorräte an einem Tag, wenn Celien dich lässt." Sie knuffte ihren Bruder in die Seite. „Beeilt euch und passt auf euch auf, ja? Und du, sei mal nicht so griesgrämig." Sie wandte sich an mich. „Und mach dir keine Sorge, ich habe hier alles unter Kontrolle."
„Das weiß ich doch", antwortete ich ihr. „Wir sind in drei Tagen zurück, wenn alles gut läuft. Keine Sorge, ich passe gut auf ihn auf." Ich zwinkerte ihr zu und saß auf. Parrik tat es mir gleich und wir ritten los. Das Städtchen erwachte an diesem frühen Morgen gerade erst zum Leben und viel war noch nicht auf den Gässchen und Straßen los, sodass wir gut vorankamen.
Am Tor fing uns Rasten ab. „Beeilt euch ja, und kommt so schnell wie ihr könnt!" Er wirkte gehetzt und seine blauen Augen waren rot gerändert.
„Wie geht es Mara heute?", fragte ich besorgt.
„Besser", antwortete er, „sie hat gut geschlafen und fühlt sich etwas ausgeruhter. Aber ihr ist immer noch schlecht und sie klagt über Schmerzen. Aber es ist nicht mehr so schlimm wie gestern, deine Medizin wirkt offenbar." Seine Antwort beruhigte mich ein wenig. Ich hoffte, dass sie die Zeit, die wir brauchten um den Mäusedorn zu finden, gut überstehen würde.
„Pass gut auf sie auf und tu das, was ich dir gesagt habe!" Er nickte. Für seine Frau würde er alles tun.
„Die Schmerzmittel helfen ihr fürs Erste, aber die Krämpfe kommen früher oder später zurück. Die Zeit drängt." Wenn sie nicht rechtzeitig Hilfe bekam, die Schwangerschaft weiter voranschritt und das Kind in ihrem Bauch wuchs, würde es gefährlich für sie beide werden, aber das brauchte ich meinem Bruder nicht extra sagen.
„Ich wollte euch nur auf Wiedersehen sagen und viel Erfolg wünschen. Lasst euch nicht aufhalten." Rastens klang hilflos und müde und seine Worte schnitten mir tief ins Herz.
„Wir beeilen uns", versprach ich ihm und wiederholte die Worte, die ich bereits Quenny zu gesagt hatte. „Wenn es gut läuft, sind wir in drei Tagen zurück." Vielleicht wurden sie wahr, je öfter ich sie aussprach.
„Passt auf euch auf", murmelte er leise und schaute uns hinterher, während wir Waldhafen durch das Tor verließen und der großen Waldstraße folgten.
„Hoffentlich finden wir diese Pflanze", bemerkte ich, sobald die Stadtmauer außer Sichtweite war. „Schließlich ist es Jahrzehnte her, seit meine Großmutter die Karte erstellt hat. Wer weiß ob der Mäusedorn noch dort wächst."
Ich hatte mir bisher nicht erlaubt darüber nachzudenken, aber Rastens Worte hatten meine Stimmung getrübt und ich durfte nicht daran denken, was wäre, wenn wir mit leeren Händen wiederkehren sollten.
„Deine Großmutter hat sich noch nie geirrt und ihre Karte hat bisher immer Recht behalten", versuchte Parrik mir Mut zu machen.
„Ich hoffe es so sehr. Dieses Mal darf es nicht schief gehen", betete ich, kaum überzeugt von seinen Worten.
„Wenn in diesem verdammten Wald irgendwo Mäusedorn wächst, dann dort, wo deine Großmutter es eingezeichnet hat. Du wirst schon sehen. Bisher war es immer so. Es gibt keinen Grund, warum es dieses Mal anders sein sollte."
„Hoffentlich. Und wenn nicht, dann wächst bestimmt irgendwo in diesem verdammten Wald", ich wiederholte Parriks Worte, „dieser Strauch und wir werden erst zurückreiten, wenn wir ihn gefunden haben." Entschlossen reckte ich das Kinn und trieb mein Pferd noch etwas mehr an.
„Genau", stimmte mein Begleiter mir zu und wir ritten einvernehmlich und schweigsam nebeneinander her, nur das Klappern der Hufe auf dem festgestampften Untergrund und das sorglose Zwitschern der Vögel in den Ästen und Zweigen rings um uns.
„Wie lange können wir auf der Waldstraße bleiben?", fragte Parrik irgendwann.
„Vorerst können wir der Straße noch ein wenig nach Norden folgen." Diese erste Etappe war die einfachste. „Erst morgen müssen wir in den Wald abbiegen und uns in östlicher Richtung durch das Unterholz schlagen", erklärte ich.
Er nickte. „Das schaffen wir schon!" Ich wunderte mich über die Zuversicht in seiner Stimme.
„Ich weiß nicht, was uns in diesem Teil des Waldes erwartet. So weit war ich bisher noch nie von Waldhafen weg." Meine Stimme hingegen klang regelrecht mutlos.
„Ich auch nicht", bestätigte Parrik. „Aber wir werden es bald genug herausfinden."
Während wir der ausgefahrenen Straße folgten, stieg die Sonne über uns höher und höher.
Irgendwann gegen Mittag schlug Parrik vor, eine kurze Pause zu machen. Ich stimmte zu.
Auf einem umgestürzten, mit Moos überwucherten Eichenstamm ließen wir uns nieder. Die Pferde grasten derweil genüsslich am Wegesrand.
Ich trank einen großen Schluck aus meiner Wasserflasche. „Wenn wir an einem Bach vorbeikommen, muss ich meine Flasche auffüllen", klagte ich. Für die Jahreszeit, es war inzwischen Herbst geworden, waren die Tage noch immer ungewöhnlich heiß und ich hatte mehr getrunken, als für meine Vorräte gut war.
„Sollten wir nicht bald an einem Wasserlauf vorbeikommen?", fragte Parrik und blickte mir über die Schulter auf die Karte, die ich aufgefaltet auf meinen Schoß gelegt hatte.
„Hier." Er zeigte auf eine Stelle, die laut Karte nicht weit vor uns lag.
„Sollten wir, falls der Bach genug Wasser führt. Der Sommer war heiß und trocken", erinnerte ich ihn.
„Manche Quellen und Brunnen sind vielleicht versiegt, aber in den Bergen sammelt sich meistens genug Wasser, um die größeren Wasserläufe zu speisen." Wieder klangen Parriks Worte ungewohnt zuversichtlich.
„Falls nicht, haben wir wohl ein Problem", fügte ich hinzu.
„Du bist doch sonst nicht so niedergeschlagen", stellte Parrik fest. „Was ist los? Du bist wirklich besorgt wegen Mara?"
„Ja", gestand ich ihm. „Wenn wir keinen Erfolg haben, dann sieht es schlecht aus und es kann so viel schief gehen."
„Wir schaffen das. Denk positiv", versuchte er mich aufzumuntern.
„Ich versuche es. Wir müssen es einfach schaffen. Aber ich habe noch nie eine Nacht hier draußen im Wald verbracht", fügte ich hinzu. „Es macht mich nervös, daran zu denken. Bei Tag ist der Wald ein völlig anderer Ort, als bei Dunkelheit."
Parrik wirkte eine Weile nachdenklich, jedenfalls sagte er nichts.
„Weißt du", fuhr ich fort, „während der Helligkeit des Tages, ist mir hier alles vertraut, aber in der Dunkelheit der Nacht fürchte ich mich vor der Größe und Bedrohlichkeit des Waldes. Es ist kindisch, ich weiß." Ich seufzte, aber es war mir ein Bedürfnis gewesen, ihm von meinen Ängsten zu erzählen. Ich vertraute ihm.
„Es ist natürlich", erwiderte er. „Ich habe auch noch keine Nacht hier draußen verbracht", gestand er mir. „Aber mach dir keine Sorgen. Wenn du willst, kann ich Wache halten, während du dich ausruhst."
„Aber du brauchst deinen Schlaf doch genauso. Das kann ich dir nicht erlauben", protestierte ich umgehend.
„Ein paar Stunden Schlaf gegen Morgengrauen reichen mir schon", erwiderte er stur und machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Nein Parrik, das kommt nicht in Frage. Wir machen ein Feuer und du schläfst auch. Ich will nicht, dass du dich am Morgen übermüdet durch den Wald schlagen musst. Zumal wir nicht wissen, was uns erwartet."
Er schüttelte den Kopf. „Dann können wir womöglich am Ende beide nicht schlafen. Du nicht, weil dich die Angst wach hält und ich nicht, weil du mich wach hälst."
Ich seufzte und gab mich geschlagen, wie immer. "Na gut, lass uns erst etwas essen und dann reiten wir weiter. Wir denken später darüber nach, wenn es soweit ist. In Ordnung?", schlug ich vor.
„Einverstanden." Er nickte. Ich sah sofort, dass ihn die Erinnerung an Allys Proviant auf andere Gedanken brachte und konnte mir ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.
„Was willst du haben?", erkundigte ich mich bei ihm, um das Thema endgültig zu wechseln.
„Am besten essen wir zuerst das, was schnell schlecht wird. Das Brot und der Käse werden hart und schmecken dann nicht mehr halb so gut", meinte er und hatte damit wie immer einen vernünftigen Vorschlag gemacht.
Ich schnitt jedem von uns eine Scheibe Brot und Käse ab. Mir eine dünne und ihm eine dicke. Er grinste. „Danke. Ich sehe, du meinst es wirklich gut mit mir." Er biss hinein und kaute genüsslich.
„Ich brauche dich bei Kräften", bemerkte ich nur und nahm ebenfalls einen großen Bissen.
Als er fertig gegessen hatte, nahm er ebenfalls einen großen Schluck aus seiner Flasche. „Du hast Recht, ein Bach wäre jetzt nicht schlecht." Er überlegte. „Wir könnten doch auch bis zur Herberge auf der Waldstraße weiterreiten und dort übernachten. Da bekämen wir frische Vorräte, Wasser und eine warme Mahlzeit und könnten in einem der Gästezimmer schlafen."
Diese Idee war mir auch schon gekommen, aber ich hatte sie aus verschiedenen Gründen abgelehnt. „Könnten wir. Aber bis dorthin schaffen wir es nicht bis zum Abend und dann müssen wir so oder so im Wald übernachten. Außerdem liegt die Herberge zu weit im Norden. Wir müssten einen viel zu weiten Umweg reiten. Lass uns einfach nach einem geeigneten Platz für die Nacht Ausschau halten, wenn es soweit ist."
„Wie du meinst", stimmte er mir zu.
„Meine Großmutter hat eine Zeit lang zusammen mit meinem Großvater hier im Wald gelebt", fing ich an zu erzählen. Seine braunen Augen ruhten auf mir. „Meine Mutter hat uns Geschichten erzählt, wie sie am Lagerfeuer oder in verlassenen Höhlen oder in einer alten Holzfällerhätte genächtigt haben." Ich seufzte leise und er hing mir noch immer gebangt an den Lippen. „In ihren Geschichten hat es immer nach Abenteuer und Spaß geklungen, aber jetzt wo mir meine erste Nacht unter freiem Himmel bevorsteht, fühle ich mich gar nicht mutig und abenteuerlustig. Ich wünschte, ich wäre so mutig wie sie." In Wahrheit sehnte ich mich nach meiner vertrauten Kammer in Waldhafen.
Parrik legte seine Hand auf meinen Arm, nur ganz leicht, aber trotzdem schickte es einen leichten Schauer über meine Haut. „Du bist mutig, Celien. Wir schaffen das schon." Schneller als mir lieb war, löste er seine Berührung und hinterließ eine Gänsehaut.
„Alles Wünschen und Zaudern hilft nichts", sagte ich entschlossen. „Wir müssen weiter."
Wir packten unsere Sachen wieder ein und verstauten sie in den Satteltaschen.
„Moment noch, ich muss mal kurz in die Büsche", teilte mir Parrik mit und verschwand hinter ein paar Buchen im Unterholz. „Ich auch", kicherte ich und suchte mir auf der gegenüberliegenden Seite ein verstecktes Plätzchen. Tagsüber machte es mir nicht das Geringste aus, alleine im Wald zu verschwinden.
Gestärkt und erleichtert setzten wir kurze Zeit später unseren Weg fort und verbannten sämtliche Gedanken an alle möglichen, uns drohenden Übel.
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