3) Eine unerwartete Begegnung


***Celien***

Es war schon spät. Später als ich sonst für gewöhnlich losging, um meine Waren auszuliefern. Aber heute hatte ich viel zu tun gehabt. Wie so oft in letzter Zeit.

Als ich die schmale Gasse vor meiner kleinen Apotheke betrat, war die Dämmerung bereits hereingebrochen und die Läden in den meisten Geschäften und in der Werkzeugschmiede von gegenüber geschlossen. Es machte mir nichts aus, im Dunkeln hinunter zum Hafenviertel zu laufen, um einem der Mädchen im „rauchigen Kessel" eine Salbe zu bringen. Im Gegenteil, die Bewegung und die frische Luft würden mir nach einem langen Tag wie heute sicher gut tun. Und außerdem war es nicht sonderlich weit. Ein siebzehnjähriges Mädchen konnte abends ohne Gefahr durch die Gassen von Waldhafen laufen. Unser Städtchen galt dank der Stadtwache, die regelmäßig patroullierte und bei Streitereien und ungebührlichem Verhalten schnell durchgriff, als sicher. Außerdem kannte ich viele der Bewohner von meiner Arbeit als Heilerin. Trotzdem waren die Gässchen zu dieser späten Stunde so gut wie menschenleer und ich war niemandem begegnet, außer ein paar streunenden Hunden und Katzen und ein paar grölenden Kneipengängern, bis ich vor der dunklen Holztür stand, die in die als verrucht geltende Taverne führte. Durch die Butzenscheiben konnte man nicht hineinsehen und so wusste ich nicht, was mich im Inneren erwartete. Ich zögerte kurz, bevor ich eintrat. Es war das erste Mal, dass mir einer der Wirte, oder überhaupt jemand aus dem Hafenviertel, einen Auftrag gegeben hatte. Normalerweise kamen meine Kunden aus dem Viertel der Händler und Handwerker. Aber es sprach für mich und meine Heilkunst, dass mein guter Ruf bis hierher durchgedrungen und der Mann vor einigen Tagen zu mir gekommen war, anstatt eine der Kräuterfrauen im ärmlichen und heruntergekommenen Hafenviertel aufzusuchen. Ich hatte den Auftrag mit Freude angenommen, also musste ich die Lieferung nun auch abgeben. Ich atmete tief ein und nahm all meinen Mut zusammen.

Als ich den großen Schankraum der verkommenen Taverne betrat, schlug mir der Rauch in dicken Schwaden ins Gesicht und meine Augen brauchten einen Moment, um sich an das dämmerige Licht im Inneren zu gewöhnen. Am Tresen standen ein paar Mädchen, vermutlich um auf Kundschaft zu warten und den Männern schöne Augen zu machen. Ich ging zögerlich auf eine von ihnen zu, deutete auf meine Salbe und fragte, wem ich sie geben sollte. Sie erklärte mir, dass das Mädchen, für das die Tinktur bestimmt war, ihre Kammer im oberen Stockwerk hatte und ich hoch gehen könne. Sie zeigte auf eine Stiege am anderen Ende des Raums. Ich nuschelte meinen Dank und ging darauf zu. Ein paar Seeleute saßen an den Tischen und warfen mir seltsame Blicke zu, die ich ignorierte, so gut ich konnte. Langsam stieg ich die steilen Stufen hinauf und eilte den düsteren Flur entlang bis zu dem mir gewiesenen Zimmer ganz am Ende des Ganges. Bevor ich an die Tür klopfte, lauschte ich einen Moment nach verdächtigen Geräuschen im Inneren und als alles ruhig blieb, klopfte ich zaghaft an. Ein Mädchen mit dunklen, langen Haaren öffnete mir. Sie war ungefähr in meinem Alter, vielleicht ein bis zwei Jahre älter.

„Was kann ich für dich tun?", fragte sie mich erst erstaunt und als sie die Salbe in meiner Hand erblickte, fügte sie hinzu: „Ach, du bist das Apothekenmädchen. Wie viel bekommst du dafür?"

„Nichts. Der Wirt hat es schon im Voraus bezahlt. Du sollst die entzündete Stelle mehrmals täglich damit einreiben, dann sollte es in ein paar Tagen abklingen. Falls es aber bis nächste Woche noch nicht besser ist, solltest du noch mal zu mir in die Apotheke kommen", erklärte ich ihr. „Dann mache ich dir ein neues Rezept."

Bei heilkundigen Dingen war ich in meinem Element. Ich führte immerhin seit dem Tod meiner Mutter im vorletzten Jahr ihre Apotheke weiter. Und das bisher mit Erfolg. Sie hatte mir alles beigebracht was sie wusste und wenn ich unsicher war, hatte ich ihre Aufzeichnungen und die meiner Großmutter, um darin nachzulesen, was normalerweise den Großteil meiner Abendbeschäftigung ausmachte.

Sie bedankte sich und ich verließ ihr Zimmer. Gerade als ich die Tür hinter mir ins Schloss zog, ging im Nebenzimmer eine Tür auf. Mir stockte für einen Moment der Atem und dann schlug mein Herz schneller, als ich die Gestalt erkannte, die heraustrat. Groß, breite Schultern, die dunklen Haare tief in die Stirn gezogen - ich hätte Parrik, den besten Freund meines Bruders überall erkannt, aber überall mit ihm gerechnet, nur nicht hier im Zimmer eines der Freudenmädchen. Aber was ging es mich an, mit wem er sich in seiner Freizeit traf. Er war nicht verlobt oder irgendjemandem versprochen. Er konnte tun und lassen, wozu er Lust hatte. Trotzdem traf mich die Tatsache, ihn hier anzutreffen, wie ein Messerstich mitten ins Herz.

Parrik", entfuhr es mir im gleichen Moment , in dem er „Celien" ausstieß. Wir schauten uns an und er wirkte sichtlich verlegen. Die Röte schoss ihm in die Wangen und er sah aus, als wollte er etwas sagen, aber es kam nichts. Er sprach auch sonst nie viel.

„Ich habe einem der Mädchen eine Salbe vorbeigebracht", erklärte ich, als er nach einer gefühlten Ewigkeit, die wohl aber eher nur einige Sekunden andauerte, immer noch nichts gesagt hatte.

„Ich ... Ich habe eines der Mädchen besucht", stammelte er. „Es ist ..."

„Schon gut", erwiderte ich. Er musste mir keine Rechenschaft ablegen. Ich wusste, was hinter den verschlossenen Türen ablief und es war seine Sache. „Ich wollte gerade gehen", fügte ich hinzu.

„Bist du alleine hier?", wollte er wissen und schaute sich fragend um.

„Ja, ich dachte ein kleiner Spaziergang und etwas frische Luft schaden mir nicht." Ich wollte mich schon wegdrehen und meinen Weg zur Treppe fortsetzen, als er mit zögerlicher Stimme fragte: „Soll ich dich vielleicht begleiten? Ich bin auch auf dem Weg nach Hause."

„Ja, warum nicht", entgegnete ich ihm und so machten wir uns gemeinsam an den Abstieg der Treppe. Er wohnte mit seiner Schwester beim Schmied und seiner Frau Ally, die die beiden nach dem Tod ihrer Eltern aufgenommen hatten. Der Schmied Ollf und sein Vater waren entfernte Verwandte. Die Schmiede lag gegenüber meinem Elternhaus und somit war unser Weg der gleiche.

Ich ging voraus und musste einige Augenblicke am Fuß der Treppe auf Parrik warten. Treppensteigen fiel ihm nicht leicht mit seinem Fuß. Er hatte seine Eltern bei einem Brand verloren und sich selbst dabei schwere Verletzungen zugezogen, die meine Mutter zwar behandeln, aber die nicht richtig ausheilen konnten und seitdem war ihm das Hinken geblieben.

Ich spürte erneut die gierigen Blicke unzähliger Augenpaare auf mir, während ich die Schänke durchquerte. Parrik führte mich durch den inzwischen gut gefüllten Gastraum zur Tür und ich war erleichtert, endlich wieder frische Luft zu atmen. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, so spät noch alleine hier unterwegs zu sein und ich war froh über meine Begleitung.

„Weiß Rasten dass du hier bist?" Parrik holte mich aus meinen Gedanken zurück. Mit der Zeit waren der stille, zurückhaltende Schmiedegeselle und mein älterer Bruder Rasten gute Freunde geworden. Und natürlich fühlte sich Parrik für mich verantwortlich wie für eine jüngere Schwester. Ich war mir sicher, etwas anderes würde er nicht in mir sehen. Niemals. Leider.

„Nein, Rasten war noch nicht wieder zuhause", entgegnete ich, „und ich wollte nicht warten, bis er kommt. Wer weiß wie lange er wieder weg ist und ob er überhaupt nach Hause kommt. Wenn ich eine Lieferung fertig habe, dann will ich sie wegbringen. Schließlich wartet jemand darauf und verlässt sich auf mich."

Ich war stolz auf meine Arbeit und es machte mir Freude anderen helfen zu können. Für gewöhnlich ließ mir Rasten meine Freiräume oder ermöglichte es mir, meinen Tätigkeiten nachzugehen, schließlich war es in unserer Familie schon immer so gewesen, dass die Frauen als Heilerinnen arbeiteten. Meine Mutter hatte ihr Wissen von ihrer Mutter erhalten, es erweitert und an mich weitergegeben. So wie mein Großvater, hatte auch mein Vater akzeptiert, dass die Frauen in der Familie arbeiteten und damit einen Großteil des Geldes einbrachten. Ich führte die Tradition fort.

Rasten hatte im letzten Jahr als Wachmann bei der Stadtwache angeheuert und war schnell aufgestiegen, so dass er oftmals nach Schichtende nicht nach Hause kam, sondern in der Garnison übernachtete. Er konnte schreiben und lesen und war schnell damit betraut worden, die eine oder andere Schreibaufgabe zu übernehmen, wie Schichtpläne aufzustellen oder den Wareneingang zu verzeichnen. Dazu verfügte er über eine kleine Schreibkammer mit einer Pritsche, auf der er immer öfter nächtigte.

Ein Blick auf Parriks Miene verriet mir, dass er es nicht gut hieß, dass ich alleine unterwegs war. Mich erfüllte eine gewisse Genugtuung bei dem Gedanken, dass ich ihm nicht egal war. Er sorgte sich um mich, wenn auch nur wie um eine Schwester. Aber immerhin. Schnell wandte ich den Blick ab. Parrik mochte es nicht, wenn man ihn anstarrte. Dabei schaute ich ihn gerne an. Ich sah nicht die Narben an seiner Stirn und Wange, über die er für gewöhnlich seine dunklen Haare strich, sondern sein Gesicht mit den sanften, graublauen Augen, der geraden Nase und dem markanten Kinn. Für mich war er hübsch anzusehen.

Ich wusste, er hasste die Blicke und ich hasste die Tatsache, dass er sich nur auf seine Narben reduzierte. Dabei war es so viel mehr, das ihn ausmachte und dazu führte, dass ich mich zu ihm hingezogen fühlte. Er war meistens ruhig, wirkte nachdenklich und in sich gekehrt, so wie gerade in diesem Augenblick. Wir liefen schon eine Weile schweigend nebeneinander her und keiner sprach ein Wort. Es war keine unangenehme Stille, aber ich hätte gerne etwas gesagt und mich mit ihm unterhalten. Aber mir fiel nichts ein, was ich sagen konnte.

„Die Leute halten große Stücke auf dich. Ich habe erst gestern wieder gehört, wie sich zwei Frauen über dich unterhalten haben." Parriks tiefe Stimme durchbrach die Geräusche der hereinbrechenden Nacht.

„Du hast irgendeinen Fiebersaft für ihre Kinder gebraut. Er muss Wunder gewirkt haben." Er lächelte und zwei kleine Grübchen bildeten sich auf seinen Wangen. Am liebsten hätte ich die Hand ausgestreckt und ihn berührt, aber ich hielt mich zurück.

Ich lächelte stattdessen schüchtern. „Fiebersäfte sind meine leichteste Übung. Aber es ist schön, wenn man helfen kann."

„Du bist in letzter Zeit ziemlich lange im Laden. Meistens brennt noch Licht, wenn wir nach oben gehen." Er konnte von der Schmiede aus ziemlich gut zu meiner kleinen Apotheke hinübersehen. „Rasten macht sich Sorgen, dass du zu viel arbeitest."

„Ich weiß", schnaubte ich. Rasten tolerierte zwar, dass ich die Apotheke führte, aber er sorgte sich, dass ich mich übernehmen könnte. Es war schwer aus meinem großen Bruder schlau zu werden. Mal kümmerte er sich tagelang nicht um mich, ließ mich alleine in dem Haus, das wir zu zweit bewohnten und mal zeigte er sich überbesorgt und überfürsorglich. Aber ich war sein schwankendes Verhalten gewohnt. Rasten war der einzige, der mir noch geblieben war, und so versuchte er mir ein guter Bruder zu sein, auf mich acht zu geben und manchmal lebte er eben lieber sein eigenes Leben und dachte nur an sich selbst. Und dann gab es noch die Phasen, in denen er versuchte, die Vaterfigur in meinem Leben auszufüllen. Eine Rolle, in der er kläglich scheiterte, und die meistens im Streit zwischen uns endete.

„Ich mache es gerne und es gibt viel zu tun. Aber es wird mir nicht zu viel", fügte ich leise hinzu.

„Ich verstehe dich. Man sieht, wie gut du darin bist und wie gerne du den Leuten hilfst. Ich habe Rasten gesagt, dass er sich keine Sorgen um dich machen soll und ihm versprochen, ein Auge auf dich zu haben." Parriks Stimme war ebenso leise wie meine.

„Na, du nimmst deine Versprechen wohl ziemlich ernst", kicherte ich und gestikulierte mit der Hand zwischen uns, um ihm zu signalisieren, was ich meinte. Schließlich hatte er sofort die Gelegenheit ergriffen, mich nach Hause zu eskortieren. Abgesehen davon, dass wir sowieso denselben Weg hatten.

Es schien ihn verlegen zu machen.

Und ich erinnerte mich daran, wo ich ihn getroffen und was er dort getrieben hatte und errötete.

Schnell wandte ich den Blick ab, es war nicht meine Sache über ihn zu urteilen.

„Wie läuft es in der Schmiede?", fragte ich um das Thema zu wechseln.

„Gut. Viel zu tun. Wie immer." Seine Antwort war knapp. Aber er hatte auch sichtlich Mühe mit mir Schritt zu halten und es sich nicht anmerken zu lassen. Ich verringerte mein Tempo. Schließlich wollte ich ihn nicht in Verlegenheit bringen. Also nicht noch mehr als ohnehin schon. Er bemühte sich seine Schritte rund und gleichmäßig auszuführen, aber ich sah deutlich, dass ihm sein linkes Bein einen Strich durch die Rechnung machte. Es war einige Zentimeter kürzer geblieben als das rechte und er hasste es.

„Macht dir dein Bein noch Probleme?"

Mein Mund war mal wieder schneller als mein Kopf. Eigentlich hatte ich ihn das nicht fragen wollen und so gab ich mir innerlich eine Ohrfeige.

„Es geht", entgegnete er knapp. Natürlich hatte Parrik keine Lust darüber zu sprechen. Ich betrat dünnes Eis, aber mein Interesse war rein medizinischer Natur. Wenn er Schmerzen hatte, konnte ich ihm vielleicht etwas dagegen zusammenmischen. Ich zwang mich mein Mundwerk zu halten und hoffte, dass er nicht böse auf mich war.

Auch Parrik blieb still und so liefen wir den Rest des Weges schweigend nebeneinander her, in unsere eigenen Gedanken versunken, bis er mich mit einem knappen „Gute Nacht, Celien" verabschiedete und in der Schmiede verschwand.

„Gute Nacht, Parrik. Danke für die Begleitung", murmelte ich in die Dunkelheit, denn als ich endlich meine Stimme fand, war er bereits verschwunden.

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