+++ Rasten +++
Kommandant Morten hob die Augenbrauen. "Aus einem Dorf südlich der Nordberge?" Der Mann mit dem gekräuselten Bart und der roten Nase setzte zu einer Antwort an, wurde aber jäh unterbrochen. "Deine Version der Geschichte kenne ich jetzt. Schweig!"
"Du da! Rede!" Er baute sich breit vor dem schmächtigen Blondschopf mit den wasserblauen Augen auf. Der rutschte noch ein wenig auf seinem ungepolsterten Anklagestuhl zurück.
"Ein kleines Dorf und die Ernte war schlecht", bestätigte er die Aussage seines Vorredners.
"Und warum wolltet ihr dann im Leuchtturm hausen und nicht in der Stadt nach Arbeit fragen, wie es angeblich euer Vorhaben war?"
Der Blonde zögerte, warf einen fragenden Blick in Richtung seines Mitangeklagten.
"Wollten wir ja. Wollten wir wirklich."
"Warum habt ihr es nicht getan?" Kommandant Morten war ein stattlicher Mann Mitte fünfzig mit eisgrauen Augen, ergrautem Haar und schneidender Stimme, die jetzt durch den großen Saal peitschte.
"Wir hatten es vor, bald. Aber wir waren alle so erschöpft von der Reise." Der kleinste unter den Fremden sank noch weiter in sich zusammen, wurde aber durch ein Klopfen an der Tür von weiteren Fragen verschont.
Ein Gehilfe ließ Uls eintreten. Ich sah sofort an seinem Gesicht, dass ihre Suche nicht von Erfolg gekrönt war. Hinter Uls traten die anderen vier Wachsoldaten meines Kommandos der Reihe nach in den Saal.
Uls trat vor Morten und schüttelte den Kopf. "Nicht den Hauch einer Spur." Er schaute zu mir und ich konnte den Ausdruck von Bedauern darin erkennen. "Wie vom Erdboden verschluckt."
Ich erhob mich von meiner Bank. Meine Aussage war längst getätigt und ich hatte das Geschehen still verfolgt. "Kommandant", bat ich um Aufmerksamkeit. "Darf ich erneut mit einigen Männern ausreiten?"
Es ärgerte mich, dass sie den Jungen nicht gefunden hatten, denn damit war meine erste Mission nicht vollständig erfolgreich abgeschlossen. Außerdem war ich enttäuscht. Ich hatte fest damit gerechnet, dass meine Männern einen davongelaufenen Bengel ausfindig machen würden. Aber vermutlich hätte ich von Anfang an selbst mitreiten sollen, die Aussage und die Übergabe der Gefangenen wären mir nicht davongelaufen. Ärger kochte in mir hoch, über die Unfähigkeit meiner Reiter und über meinen eigenen falschen Entschluss.
"Wir schicken keine weiteren Reiter aus. Der Junge kann sonst wo stecken." Ich hob den Kopf und setzte zu einer Antwort an, wurde aber ebenso unterbrochen wie der Anführer der Bande vor mir.
"Nein Hauptmann. Wir finden den Ausreißer schon früher oder später. Ein Junge allein im Wald kann nicht lange überleben. Wir warten ab, bis er sich freiwillig hier einfindet. Dann wird er hungrig und erschöpft sein. Das wird keine Woche dauern und dann haben wir unsere Antworten."
Ich nickte, war aber immer noch unzufrieden und innerlich aufgewühlt. Der Kommandant wandte sich einigen Wachmännern zu. "Solange dürfen unsere Gäste die Zeit in ihren Verliesen verbringen und sich weiterhin von ihrer anstrengenden Reise erholen. Alleine und über die wahre Geschichte ihres Aufenthalts im alten Leuchtturm nachdenken. Vielleicht fällt ihnen dann auch etwas zum Verbleib der gestohlenen Goldmünzen ein. Führt sie ab!"
Fünf Stadtwachen erhoben sich und begleiteten die Verhörten hinaus.
Morten wandte sich an mich, kaum das die Tür hinter dem Letzten ins Schloss gefallen war. "Hauptmann Rasten, auf Euch wartet eine andere Aufgabe. Teilt Patrouillen zu je zwei Reitern ein, die den Wald rund um den Leuchtturm regelmäßig durchkämmen. Und wir lassen die Mauer weiterhin bemannt und halten die Fensterwache bei Arnoldo, sollte der Junge noch einmal versuchen, durch den Geheimtunnel zu kommen."
Ich nickte und erhob mich, eilte zu meiner Schreibstube, ohne das Gerede und die Mutmaßungen der übrigen Ratsherren und Anwesenden zu beachten. Kaum einer glaubte an die Unschuld der Verhörten. Irgendwie ging mir der vermisste Junge nicht aus dem Kopf. Er wirkte wie das fehlende Teil dieses Rätsels.
In meiner Schreibstube griff ich nach einer Rolle Büttenpapier und Schreibfeder und war schon im Begriff meinen Namen auf die Liste der ersten Patrouille zu setzen, als ich innehielt. Nein, Uls und die anderen hatten ihn nicht gefunden, aus welchem Grund sollte es mir gelingen. Morten sagte oft, dass ich zu ambitioniert sei, dazu neigte, mich zu überschätzen und zu viel wollte, zu viel und zu schnell auf einmal. Ich würde ihm beweisen, dass ich auch besonnen sein konnte und kritzelte zwei andere Namen auf die erste Position. Sollten sie doch ihr Glück versuchen.
Ich selbst trug mich für die Fensterwache ein. Nicht ohne Hintergedanken, aber das konnte der Kommandant zum Glück nicht wissen. Ich brannte darauf, Mara von der Verhaftung der Männer zu erzählen. Sie liebte solche Geschichten und ich legte mir unterwegs die Worte zurecht, mit denen ich die Mission noch weiter ausschmücken würde, um in ihren Augen besonders mutig und klug zu erscheinen.
Der Gedanke sie wiederzusehen, hob meine Laune und ließ mich vergessen, dass ich lieber Part des Suchtrupps gewesen wäre. Noch immer fürchtete ein Teil von mir, dass sie den Jungen doch schnappen könnten. Ohne mich. Ich biss die Zähne zusammen und verscheuchte diese Gedanken aus meinem Kopf. Ich konnte nicht alles haben, also nahm ich mir, was ich bekommen konnte.
Meine Laune besserte sich noch einmal erheblich, als ich den Laden betrat und noch mehr, als ich dieses wunderschöne Mädchen erblickte.
Mara freute sich ebenfalls, mich zu sehen, zumindest deutete ich ihr herzliches Lächeln zur Begrüßung so. Sie sah bezaubernd aus in einem dunkelgrünen Kleid, ihre Haare geflochten und ihre Bewegungen liebreizend. Ich konnte den Blick nicht von ihr wenden, obwohl ich wusste, dass sie nicht den Grund darstellte, weswegen ich hier sein sollte. In meinen Augen war sie es allerdings. Mara war mir auf einmal tausendmal wichtiger als der entkommene Junge.
Schnell warf ich einen Blick nach draußen. Alles war ruhig. Er war irgendwo im Wald und versteckte sich, so dumm, sich hier noch einmal blicken zu lassen, würde er nicht sein. Erst recht nicht, nachdem wir seine Kumpanen abgeführt hatten.
Ich setzte mich, zog Mara in den Sessel neben mir. "Heute Morgen führte ich zehn Reiter zum Leuchtturm. Wir wussten nicht, was uns dort erwarten würde. Die Missionen, bei denen man nicht weiß, mit wem man es zu tun hat, sind immer die gefährlichsten." Sie hing gebannt an meinen Lippen, die blauen Augen geweitet.
"Sonst weiß wer hätte dort auf uns lauern können, bewaffnet und bereit zum Angriff, also ersann ich einen Plan." Sie hielt die Luft an und lauschte gespannt.
Mara war wirklich leicht zu beeindrucken. Ich lächelte sie bewundernd an und in ihrem Blick lag ebensoviel Bewunderung für mich und meine zugegebenermaßen, übertrieben dargestellten Erlebnisse bei der Festnahme am Morgen. Sie nahm meine Hand in ihre und jetzt war ich es, der den Atem anhielt, während meine Haut unter ihrer Berührung prickelte.
„Wie klug du bist, Rasten, und so mutig", flüsterte sie mir zu. "Du allein mit fünf Männern in diesem großen und gefährlichen Wald. Gegenüber dieser unbekannten Gefahr." Nicht nur das Gesindel im Leuchtturm machte ihr Sorgen, auch vor dem Wald hatte sie große Ehrfurcht. Sie war noch nie in ihrem Leben außerhalb der Mauern von Waldhafen gewesen. Mein ausgeschmückter Bericht vermochte nichts anders als sie zu beeindrucken. Fast verspürte ich ein wenig Scham darüber, dass ich die Situation so ausnutzte.
Man hatte ihr die üblichen Geschichten über den Großen Wald erzählt, von bösen, menschenfressenden Wesen und wilden Tiere, die darin hausten. Märchen, die man Kindern am Feuer erzählte, damit sie sich gruselten. Aber Mara glaubte fest daran, dass im Wald Hexen und Räuber, böse Ungeheuer und Drachen und derlei Fabelgestalten mehr, lebten.
Hoffentlich bekam sie wegen mir heute Nacht keine Albträume. Ich griff ihre Hand, versuchte ein wenig wieder gut zu machen. „Wir waren zu zehnt und die Bande nur zu fünft. Es war nicht gefährlich."
Aber sie wirkte nicht im Mindesten beruhigt. „Aber ihr konntet doch nicht wissen, welchen Gefahren ihr begegnen würdet. Du bist der mutigste Mann, den ich kenne, Rasten." Ihr Gesicht war nur noch wenige Zentimeter vor meinem entfernt. Sie schaute mich voller Bewunderung aus ihren großen Augen an und mir blieb erneut die Luft weg. Selbst mein Herzschlag setzte aus.
Ich starrte in ihre klaren, kornblumenfarbenen Augen und bevor ich wusste, was geschah, presste sie ihre zarten Lippen auf meine. Wir küssten uns. Kurz und zaghaft. Dann zog sie ihren Mund zurück und schaute mich an. Ich konnte ihr nicht länger widerstehen. Erneut zog ich sie an mich und unsere Lippen trafen sich erneut. Dieses Mal dauerte der Kuss länger.
Ich konnte nicht sagen, wie lange wir so dasaßen und uns küssten. Innig und voller Verlangen. Meine Hand in ihre langen blonden Haare vergraben, die andere an ihrer Wange. Ihre zarten Hände hatte sie um meinen Nacken gelegt. Die Welt um uns herum hatten wir völlig vergessen.
Irgendwann lösten wir uns voneinander. Beide außer Atem und unfähig auch nur ein Wort zu sagen. Wir grinsten uns stumm an und ich legte meine Stirn auf ihre. Am liebsten wollte ich dieses bezaubernde Mädchen nie wieder loslassen. Aber mir fiel ein, aus welchem Grund ich eigentlich hier war, und warf einen flüchtigen Blick aus dem Fenster. Es war keine Veränderung draußen festzustellen, immer noch alles still und unauffällig. Die Wachen auf der Mauer hätten Alarm geschlagen, im unwahrscheinlichen Fall, dass der Junge sich jetzt noch einmal in die Stadt wagen würde.
„Und jetzt?" Mara fand als erste die Sprache wieder.
„Und jetzt würde ich dich gerne jeden Tag küssen. Vierundzwanzig Stunden lang", gestand ich ihr ehrlich und unfähig, weiterhin an irgendetwas anderes zu denken, als an ihre warmen, weichen Lippen.
Sie lachte und der Klang erwärmte mein Innerstes. „Mir geht es genauso."
„Warum tun wir es dann nicht einfach?" Ich lachte ebenfalls, aber ich meinte es vollkommen ernst.
„Weil es nicht geht." Sie schlug mir scherzend auf die Schulter, aber ich merkte, dass sie es auch ernst meinte. Ich konnte sie nicht einfach küssen und dann gehen.
„Warum sollte es nicht gehen?", fragte ich und ein Gedanke schoss mir durch den Kopf. Ehe ich noch darüber nachdenken konnte, war ich schon auf den Knien vor ihr.
„Mara, willst du meine Frau werden?"
Sie schlug ihre Hände vor den Mund und schaute mich mit weit aufgerissenen Augen an. Mir wurde eiskalt. Verflucht, ich hatte sie völlig mit meiner Frage überrumpelt. Warum hatte ich nicht nachgedacht, bevor ich handelte? Aber die Eingebung war so plötzlich gekommen, dass ich keine Zeit hatte zu überlegen, was ich tat. Ich war genauso überrascht von meinen Worten, aber ich wusste, es war das, was ich wollte. Was ich mehr wollte in meinem Leben als alles andere. Mein Herz stand still. Sie hatte mir immer noch keine Antwort gegeben. Sie würde mich doch auch wollen - schließlich war ich bereits Hauptmann der Stadtwache, hatte eine vielversprechende Karriere vor mir und ich wusste, welche Blicke mir Mädchen zuwarfen. Allerdings hatte ich diese bisher vollkommen ignoriert, denn keine von ihnen hatte mich interessiert. Außer dieses blonde Mädchen, vor dem ich nun kniete und der ich gerade die Frage aller Fragen gestellt hatte.
„Mara, ich will mein Leben mit dir verbringen. Das will ich mehr als alles andere", gestand ich ihr, was mir eben erst so richtig klar geworden war.
Sie nickte. „Ja", flüsterte sie fast unverständlich. Endlich nahm sie ihre Hände von ihrem Mund und legte sie in meine. „Ja, ich will dich heiraten", sagte sie laut und mit fester Stimme.
Ich war der glücklichste Mann in ganz Waldhafen. Nein, nicht nur in Waldhafen, im ganzen Land, in der ganzen weiten Welt.
Und dann küssten wir uns wieder und es fühlte sich noch besser und richtiger an, als ein Kommando zu befehligen.
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