Montag - 34.8 - Alles oder nichts
Don't forget - it's fiction!
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Allmählich senkt sich Stille auf das Haus, auch meine Familie hat sich verkrümelt und Jimin ist ins Bett gegangen. Einträchtig stumm nebeneinander sitzend horchen wir in diese Stille. Ich schaue auf die Uhr.
„Namjoon, ich will noch eben nach Jimin sehen. Es ist sein letzter Abend hier, und ich vermute, es wird noch arbeiten in ihm."
Damit steige ich unsere Treppe hoch. Ich habe richtig vermutet. Jimin ist schon umgezogen und sitzt, in seine Decken gekuschelt, im Bett. Er sortiert grade die Teile des Puzzles und fängt an, es zu legen, als ich meinen Kopf über das Geländer strecke. Neben ihm liegen Tagebuch und Stift. Und er steigt sofort ein.
„Du hast so ein schönes Foto ausgesucht. Es fühlt sich ganz komisch an – so ... geehrt. ICH bin auf einem richtigen Puzzle! Ich bin jemand so wichtig, dass mit mir ein Puzzle hergestellt wird. Das ist wie ein kostbarer Schatz."
Ich muss lächeln.
„Weißt du denn auch, warum das so ist?"
Abwartend sieht er mich an.
"Es geht nämlich nicht darum, dass du MIR so wichtig bist. Oder der ARMY. Und der materielle Wert liegt bei Zweikommairgendwas Euro - ich weiß es gar nicht mehr. Es geht darum, dass du DIR so wichtig sein darfst. Dein Leben ist ein Puzzle aus tausenden von Tagen, die du schon gelebt hast und noch leben wirst. Da gibt es Tage und Zeiten, die möchtest du am liebsten einrahmen und an die Wand hängen. Wie deine glückliche Kindheit, dein Zuhause bei deinen Eltern, die enge Bindung an deinen Vater. Und es gibt Tage und Zeiten, die möchtest du gerne komplett streichen, weil sie einfach nur Kraft gekostet oder weh getan haben.
Jetzt stell dir mal vor, die Tour und Billboard und das Comeback sind vorbei. PD konnte es tatsächlich organisieren, dass ihr wenigstens für ein paar Wochen eine Auszeit nehmen könnt. Du besuchst deine Eltern, sitzt in deinem alten Zimmer auf deinem alten Bett neben dem alten Schrank – und denkst an diese Wochen in Europa zurück. Überleg mal und antworte nicht gleich – ist das eine Zeit, die Du streichen möchtest?"
Stille senkt sich auf den Raum, und Jimins Finger spielen wie automatisiert mit den Puzzleteilen. Mal setzen sie nur den Rand zusammen, mal nur die Mitte, mal nur all die Teile, auf denen ein Stück von Jimin zu sehen ist.
„Diese Wochen, und die Monate davor. Ich habe mir jetzt so lange gewünscht, das alles streichen zu können. Weg mit den Ängsten, weg mit der Übelkeit, weg mit dem Hunger nach freiem Leben, weg mit dem Stress, weg mit den Alpträumen, weg mit dem Streit mit PD, weg mit Nebel und Flughafengewühl und, und, und ..."
Ich lasse ihn weiter denken.
„Aber dann würde ich auch dich streichen. Und euch. Und die Meerschweinchen. Und den wunderbaren Zusammenhalt in der Gruppe. Und den Wassertanz. Überhaupt – den Wert von sauberem Wasser. Und den zauberhaften Abend in Madrid. Und die überwältigende Unterstützung durch die ARMY. Und Nicola Serrano. Und die Versöhnung mit PD. Und Heike. Und Mauri. Und das atemberaubende Gefühl, SO zu singen und gleichzeitig zu tanzen. Und die Stunde im Wald. Und den Geschmack von frisch gebackenem Brot, den Geruch des Käsekuchens, das zufrieden-warm-satte Gefühl im Magen voller Tomatensuppe, und Yoongis absurd-irrationales Strahlen beim Anblick von Milchreis, und... Und mein Tagebuch, und meine Bilder. Und mein Inneres Kind säße immer noch aus Angst vor dem Gewitter im Schrank!"
Stille.
„Ich glaube, ich kriege das eine nicht ohne das andere. Und dann nehme ich lieber alles statt nichts. Dich gebe ich jedenfalls nie wieder her!"
Mein Grinsen wird immer breiter bei dieser Aufzählung – ein weiterer Schritt zur Selbstannahme. Er nimmt auch sein Leid an als Teil seines Lebens, das ihn geformt hat.
Danke, Gott!
Plötzlich schaut er mich an.
„Aber du musst jetzt runter gehen. Namjoon wartet, und ich hatte doch jetzt tagelang deine ganze Aufmerksamkeit. Jetzt ist er dran! Mir geht es gut. Ich werde nur noch ein bisschen aufschreiben, was heute war. Ich werde wahrscheinlich morgen ab und zu weinen, aber das nimm bitte nicht zu schwer. Versprochen?"
Mit einem Kloß im Hals nicke ich.
„Versprochen! Jimin? ... Du bist einfach wunderbar. Mach nicht mehr zu lang und schlaf dann gut!"
Mit diesen Worten steige ich die Treppen wieder runter.
Namjoon beendet grade eine Sprachnachricht auf koreanisch, als ich ins Wohnzimmer komme und mich neben ihn aufs Sofa schiebe.
„Du hast irgendwann mal gesagt, dass Jimin vielleicht der ernsthafteste und erwachsenste von euch allen ist. Ich weiß nicht, ob ich das vergleichen kann oder will. Aber der innere Weg, den er in diesen fünf Wochen in Europa zurück gelegt hat, war wie ein Marathonlauf mit Vollspeed. Ich habe ihn grade gefragt, ob er gerne diese letzten, na, so zwei bis fünf Monate streichen würde. Die Antwort war ganz klar: wenn ich die Wochen in Europa streichen würde, würde ich auch euch streichen. Ich nehme lieber alles statt nichts."
Namjoon grinst.
„Und wenn du jetzt noch 'euch' durch 'dich' ersetzt, glaube ich dir auch."
Uff, hört der genau hin!
„Nein, das stimmt so nicht. Er hat in einer Aufzählung 'Und dich. Und euch.' gesagt. Und am Ende hat er mich runtergeschickt mit den Worten:'Ich werde wahrscheinlich morgen ab und zu weinen, aber das nimm bitte nicht zu schwer.' Ich glaube, jetzt ist er bereit für den Abschied."
Wieder genießen wir einen Moment die Stille.
„Namjoon?"
Er schaut mich an.
„Hm?"
„Was ist mit dir?"
Mit einer Mischung aus erstaunt und erschrocken schaut er mich an. Kratzt sich am Kopf. Ringt mit sich.
Ich hatte also recht!
„O.K., pass auf. Es ist in Ordnung, wenn du mir das nicht sagen willst. Wirklich. Du wirst deine Gründe haben, und eines Tages werde ich es vielleicht erfahren. Aber ich möchte dir trotzdem sagen, warum ich weiß, dass etwas nicht stimmt, damit du nicht darüber nachgrübeln musst. Ich kenn dich doch!"
Langsam nickt er, ziemlich verwirrt.
„Ganz einfach: Mauri."
Fragenzeichen im Gesicht.
„Mauri hat sich heute vor allem um Jimin gekümmert wie in den Tagen zuvor. Er hat euch alle begrüßt und begutachtet – und dann nicht mehr beachtet. Aber als Jimin 'Lie' getanzt hat, ist Mauri zu Jeongguk gegangen. Ich denke, du ahnst nach dem allgemeinen Gespräch eine Weile vorher, worum es dann abends bei uns beiden ging. Und bei 'Serendipity' ist er auf deinen Schoß geklettert. Er ist von seinem Charakter her ein sogenannter Wächter. Sowas tut er nur, wenn er eine Spannung, eine Unsicherheit oder Trauer spürt. Und er spürt alles! Irgendwas schwingt also bei dir mit, was du nicht sagen kannst. Außerdem habe ich alle beobachtet. Jin fängt an, Antworten zu finden, Guk fängt an, seine Gefühle zu finden, auch wenn er sich schwer damit tut, Yoongi findet allmählich zurück in die Ruhe, Hobi findet aus der Angst, Tae findet in der neuen Aufgabe Erfüllung und Jimin hat hier sein Inneres Kind und seine Stimme wieder gefunden. Denen allen geht es wieder gut. Also könntest du dich eigentlich entspannt zurücklehnen und sagen: 'das hätten wir hingekriegt!' Tust du aber nicht. Da ist also etwas Neues ... Und Mauri hat es gezeigt."
Namjoon hebt die Hand, um mich zu bremsen.
„Du hast vollkommen recht. Bei mir schwingt eine Spannung mit, die aus ziemlichem Gefühlschaos rekrutiert. Und – ja, ich werde dir natürlich so bald wie möglich davon erzählen. Aber im Moment muss ich da alleine durch. Jin und Yoongi wissen Bescheid."
Ich atme auf.
„Das ist gut! Nicht alleine bleiben ist doch eine unserer Lehren aus den letzten Wochen."
Aufmerksam beobachte ich ihn, während wir wieder in Schweigen verfallen.
Auwei, ich glaube, ich habe da grade was angepiekst, was er heute gerne verdrängt hätte ...
„Na, komm schon her."
Ich lege mir ein Kissen auf den Schoss und ziehe ihn an der Schulter zu mir. Da laufen schon die ersten Tränen.
„Vergiss einfach mal, dass du der starke, rationale Kim Nam Jun bist, der nicht weinen darf. Lass dich fallen."
Und so legt er sich selbst aufs Sofa, seinen Kopf auf das Kissen und seine unbekannte Trauer oder Sorge in meine Hände. Ich spüre, wie müde er ist, wie erschöpft. Und er scheint zu frieren. Mit einem unterdrückten Grinsen lege ich meine gelbe Decke über ihn. Das entlockt sogar ihm ein Lächeln. Plötzlich fängt er an zu erzählen – von der Kirche oberhalb der spanischen Treppe in Rom, vom Singen, von dem Mönch, der erst mit gesungen hat und sie dann segnen wollte. Dass sie alle diesen Segen abgelehnt haben und warum. Und dann verblüfft er mich.
„Tina? ... Könntest ... kannst du ... mich segnen für das, was vor mir liegt? Auch, wenn du gar nicht weißt, was?"
Ich nicke sofort, zum Zeichen, dass ich verstanden habe. Dann denke ich nach.
„Segen ist die spürbare Gegenwart Gottes in unserem Leben. Gott will dich berühren und begleiten. Er will dich fühlen lassen, dass er an deiner Seite ist. Dass er weiß und versteht. Er will dich durch diese Berührung stärken für das, was vor dir liegt. Möchtest du das?"
Namjoon hat mit geschlossenen Augen aufmerksam zugehört. Er nickt.
„Ja, das brauche ich jetzt. Ich möchte fühlen, dass es etwas gibt, das größer und stärker ist als das Durcheinander in mir drin."
Ein Lied taucht in mir auf. Ich habe es schon lange nicht mehr gesungen. Es ist ein kleiner, schlichter Kehrvers auf den bekannten irischen Reisesegen. Hoffentlich erinnere ich alles...
„May the road rise to meet you,
may the wind be always at your back,
may the sun shine warm upon your face.
The rain fall soft upon your fields
and until we meet again,
may God hold you in the hollow of his hand!"
Dabei streiche ich ihm ruhig und gleichmäßig über den verspannten Rücken. Wieder laufen stille Tränen. Er greift nach meiner anderen Hand, hält sie ganz fest, während ich das Lied noch ein paarmal wiederhole. Bis er schließlich mit einfällt in die freundlichen Worte und die sanfte Melodie. Am Ende mache ich ihm das Segenszeichen auf die Stirn, und er wirkt, als würde er meinen Fingern jede einzelne Nervenzelle seines Körper entgegenstrecken, um ja das Gefühl ganz in sich aufnehmen zu können.
„Kim Nam Jun, ich segne dich im Namen Gottes, der dich geschaffen hat und liebt. Gott will dich stärken und anleiten, die nächsten Schritte in deinem Leben mutig zu gehen, sensibel hinzuspüren und liebend zu handeln. Er will über dich wachen, damit dir nichts geschieht. Was auch immer dir begegnen wird, sei gewiss, dass ER dich begleitet."
Eine Weile schweigen wir, während der Moment in uns nachhallt. Allmählich versiegen seine Tränen, er atmet freier und entspannt sich.
„Namjoon?"
Er klappt die Augen auf.
„Hm?"
Ich muss lächeln.
Das hatten wir doch grade schon mal.
„Wie war das für dich heute, das Singen mit Heike?"
Entspannt und gestärkt richtet er sich wieder auf.
„Irre! Einfach irre!"
Er lacht.
„Jedenfalls kann ich nun nie wieder behaupten, dass ich nicht singen kann."
Gespielt verzweifelt wirft er die Hände in die Luft.
„Aus, vorbei – mein ganzes Image ist dahin!"
In unserem Gelächter löst sich die ganze Spannung auf, und das tut uns beiden gut.
„Und ich habe auf einmal richtig Lust bekommen zu singen!"
Da juckt mich ein kleiner Teufel.
„Na, dann kannst du ja mit Tae tauschen. Er darf endlich nach Herzenslust rappen, und du wechselst in die Singer-Line."
Mit Panik in den Augen und einem breiten Grinsen schaut er mich an.
„Um Himmels Willen, bloß nicht! ... Der Ärmste! Er wollte das immer so sehr! Und er hat all unsere Parts immer geübt bis zum Abwinken. Aber er schafft einfach das Tempo nicht. Und seine Stärken liegen doch auch ganz wo anders. Denk nur an 'Singularity'. Mit den Füßen ist er dreimal schneller als ich mit der Zunge. DAS kann ich nun definitiv nicht ersetzen."
Heftig schüttele ich den Kopf.
„Nö, bitte nicht! Das ist und bleibt sein Song. Aber faszinierend finde ich es schon, wie sehr ihr mit der neuen Scheibe alle Neuland betretet. Jeder von euch macht irgendwas zum ersten Mal. Der Knaller wird allerdings sein, dass Yoongi solo tanzt und singt. Das wird alle umhauen."
Inzwischen geht es auf Mitternacht zu. Namjoon gähnt, und Gähnen ist definitiv ansteckend ... Wieder müssen wir beide lachen. Wie von selbst finden unsere Stirnen aneinander und verbinden uns ganz tief drinnen. Noch einmal drückt er meine Hand, steht wortlos auf und geht. Wir brauchen keine Worte. Nur ein deutsches „gute Nacht" murmelt er noch von der Tür her. Und bekommt ein „bis morgen früh!" von mir zurück. Dann bin ich allein. Allein mit meinen Gedanken an einen gereiften Jimin, an einen aufgewühlten Jeongguk, an die bevorstehenden Abschiede und an ein Rätsel um Namjoon, das ich mittragen werde, bis es sich lösen wird. Was und wann auch immer das sein wird ...
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18.2.2019 - 6.6.2019 - 1.11.2019
11.4.2020
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