𝐗𝐗𝐗𝐈𝐈𝐈
☽ ⋆ 𝐋 ⋆ ☾
Fast wäre ich zu spät gewesen. Aber zu meiner Verteidigung; das Seminar war überzogen worden, hatte am anderen Ende des SAB stattgefunden und Zayn hatte mich noch in Planungen für heute Abend verwickeln wollen. Ich hatte mich losgerissen.
Fürs Focus E musste ich ein paar Treppen hochlaufen, immer unangenehm in Eile, der Rucksack auf meinem Rücken sprang mit jeder Stufe, das Wasser gluckerte verloren in meiner halbvollen Flasche. Auf geradem Flur lief ich noch schneller durch den Vormittagstrubel und war pünktlich.
Ich sah ihn nicht sofort. Der Raum war gut gefüllt zu dieser Produktivitätshochzeit, 10:30 Uhr. Ein Summen zog sich um die verstreuten Tische wie ein verirrter Frühlingstag. Danny saß weit hinten in einer Ecke, Blick und Finger träge verloren auf seinem Handydisplay. Ich begann den Slalom um Menschen und Plastikmöbel, um zu ihm zu gelangen.
»Hi.« So selbstverständlich wie möglich glitt ich auf einen der giftgrünen Stühle neben Danny. Jedes Gespräch mit ihm in der Uni, in tagesbelichteter Alltäglichkeit, nüchterner Öffentlichkeit, fühlte sich wie ein Trick an. Als würden die Wände um uns herum sich in wenigen Minuten als Pappkulissen herausstellen.
Scherzfrage: Was haben Daniel Pereira und Louis Tomlinson gemeinsam?
Grelle Bühnenscheinwerfer, verzerrte Statistengesichter, enttäuschte Kritiken.
Antwort: Gar nichts.
Was natürlich nicht stimmte. Und es traf mich hart, als Danny lächelnd aufsah. In einer Parallelwelt, in der wir nicht so betrunken und sexuell ausgehungert gewesen wären, hätten wir gute Freunde sein können. Er war einer dieser Menschen, die verdienterweise zufrieden mit sich selbst und einfach angenehme Gesellschaft waren. Aber die Chance hatten wir verpasst.
»Hey Louis.« Er rückte seinen Stuhl ein Stück ab, öffnete den Winkel zwischen unseren Beinen, um mich frontaler ansehen zu können. Auf dem Knie seiner schwarzen Jeans offenbarte sich ein zweifellos selbstbemalter Stoffflicken, der in bunten Formen seine Liebe für Yayoi Kusama widerspiegelte. Was ich natürlich nicht hätte zuordnen können, wäre ich nicht schon in den Genuss seines ehrlichen Schocks gekommen, als ich bei unserem ersten Kennenlernen nichts mit dem Namen anfangen konnte und er mir eine zehnminütige, wirre Einführung gegeben hatte, Vodka in seinem Atem, Bass explosiv um uns herum, grellrote Perücke auf seinem Handy, das er jetzt schwarz werden ließ.
Mit sehr aktivem Willen wandte ich den Blick von seinem Knie ab. »Tut mir leid, bin ich zu spät?«, erkundigte ich mich, wohl wissend, dass ich es nicht war.
Er checkte die Uhrzeit nicht. »Ich bin nur zu früh.«, beschwichtigte er. Dass er so früh am Morgen überhaupt schon existierte. Er war noch viel weniger ein Frühaufsteher als ich. »Du hattest einen Kurs bis jetzt..?«
»Zwei.« Unterstützend hob ich zwei Finger.
Einer der asymmetrischen Mundwinkel zuckte höher. »Shakespeare I und Shakespeare II?«
Ganz vielleicht hatte ich mich mehr als einmal bei ihm darüber aufgeregt, wie überrepräsentiert Shakespeare in diesem Studium war, einer der wenigen Kurse, die Pflicht für alle waren. Danny, der Weise, hatte die Essenz erkannt; Shakespeare lohnte sich nur für die pausenlosen Sexwitze. Dass er nebenbei die gesamte englische Sprache revolutioniert hatte, war nebensächlich. »Renaissance und GSK.«
»GSK?« Er hob eine Hand. Etwas weißes, krustiges warf sein Handgelenk in Falten und hatte sich unter seinen Nägeln festgesetzt. »Warte, lass mich raten! Das S für Shakespeare, selbstverständlich, daraus besteht euer ganzes Studium... Also...Größenwahn, Shakespeare und...K, was könnte... Größenwahn und Shakespeare in der Kirche.«
»Dicht dran. Den Kurs sollten sie auf jeden Fall einführen.«
Sein Handy leuchtete auf, aber er drehte es um, Display auf die Tischplatte. Wie es sich wohl anfühlen musste, beliebt zu sein..? »Ich wäre ein guter Professor.« Er hatte den Blick nicht von mir genommen. Ob er mich mit einer Version von mir verglich, die ihn meinen Namen stöhnen lassen hatte? »Wie heißt der Kurs? Seminar? Vorlesung?«
»Abwechselnd. Geschlecht, Sexualität und der Körper: Theorien und Historien.«
»Je länger, desto eindrucksvoller.«, zog er auf, aber nicht mich. »Hört sich eigentlich interessant an.«
Ich zuckte mit nur einer Schulter. »Ist es auch, meistens. Was hattest du?«
»An Uni? Nichts bisher. Um 12 geht es los.«
Er war so gelassen und in dieser Sekunde machte es mich unsicherer. »Du bist nur für mich hierher gekommen?«
»Ja. Nein. Ich habe noch ein bisschen vorgearbeitet. Die freien Zeiten für die Gestaltungsräume haben angefangen.« Die Rückstände auf seiner Haut mussten Ton sein, oder ein anderes Material.
Ich nickte, als hätte ich eine Ahnung von dem, was er erzählte. Das war es mit dem Uni-Smalltalk. Ein sicheres, aber schnell ausgeschöpftes Thema. Aber ich konnte ihn nicht einfach geradeheraus fragen, was es war, worüber er mit mir reden wollte, nachdem wir offiziell klargestellt hatten, dass wir nichts mehr voneinander wollten. Bei allerbestem Willen fiel mir nichts ein, was eine potentielle Erklärung für diese Situation sein sollte. Wollte er einen Gefallen, und wenn ja, was qualifizierte mich dafür? Dass ich etwas anderes studierte als er? Das ergab keinen Sinn, denn Danny könnte vermutlich so ungefähr jede beliebige Person anhalten und um Hilfe fragen – und sie überall erhalten. Also musste es Ich-spezifisch sein, richtig? Was gab es, worüber er mit mir kommunizieren musste?
»Hey, das Buch habe ich auch gelesen!«, durchbrach Danny die Stille, die ich über uns gebracht hatte. Seine Finger streckten sich nach dem Buch aus, was ich beim Hinsetzen auf den Tisch gelegt hatte. »Darf ich..?«
Ich nickte und sah zu, wie er mit dem Daumen die Seiten fächern ließ. Für eine Sekunde dachte ich, er hätte seine Fingernägel dunkel lackiert, aber dann realisierte ich, dass es ein heilender Bluterguss war, unter seinem Daumennagel gefangen wie ein verborgener See kränklicher Tinte. Natürlich hatte Danny ›The Swimming Pool Library‹ gelesen, einen der sexuell explizitesten Romane überhaupt. »Ja. Ich lese es für die Uni. GSK.«, berichtete ich. Zum Glück würde ich es heute beenden. Langsam nervte es mich, ständig darauf angesprochen zu werden.
»Unglaublich rassistisch, aber ich muss mir sofort vorstellen, wie es wäre, dich in einem Schwimmbecken kennengelernt zu haben.« Er lächelte auf die Seiten hinab und einer Erinnerung, die sich mit meinen Erfahrungen der letzten Tage abgleichen musste. »Oder in der Dusche.« Ein nach innen gerichtetes Lachen rollte von seiner Zunge und er tippte auf einen markierten Satz. »Sieht schön aus mit den bunten Farben.«
»Das ist nur Hochmut.«, versicherte ich.
Seine Augen sahen in diesem Licht fast schwarz aus, als er amüsiert von dem schlanken Buch aufsah. »Immer so bescheiden, Louis.« Er musste wissen, was für eine gewaltige Fehleinschätzung das war, aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Entschlossen schob er das Buch zurück auf den Tisch neben meinen Ellenbogen und räusperte sich minimal. »Du kannst dir bestimmt denken, worum es geht, Louis, oder?« Sanfter Ernst hatte sich unter seine Stimme gelegt, machte sie samtiger und härter zugleich.
Wozu lügen? »Ehrlich gesagt nicht wirklich.«, gab ich zu und für einen Moment kehrte die irrationalste meiner gestrigen Ängste in mein Bewusstsein zurück. Ich gewährte mir, Dannys Lippen anzusehen, um sie wieder zu verdrängen. Eine Sekunde lang.
»Oh«, in ehrlicher Überraschung fiel sein Mund zu einem runden O auf, dann fing er sich. »Ja, okay. Ich dachte, es ist ja das einzige offene Thema zwischen uns und deswegen...wie auch immer. Dann nochmal mit Einführung.« Er sah auf seine Hände hinab, oder meine Knie. Eine dunkle Strähne fiel hinter seinem Ohr hervor und auf seine Wange. Er sah wieder auf. »Vor einer Weile, vor Halloween, weißt du noch, als du mich angeschrieben hast..?
Und; oh fuck. Ich nickte vorsichtig mit einer bösen Vorahnung, um was es ging. Um wen.
»Ich habe nach deinem Freund- Deinem..? Harry Harry, ich habe gecheckt.«
»Danny, das hättest du nicht tun müssen«, fiel ich ihm so schnell wie möglich ins Wort. Wahrscheinlich hatte Danny sich große Mühe gemacht, um den Jungen aufzusuchen, zu dem es keine Handynummer gab. Fast war ich kurz amüsiert bei dem Gedanken daran, dass Danny vielleicht ein Treffen organisiert hatte – bei dem Harry mit Überraschung feststellen müsste, dass der Student, der nach ihm suchte, nur ich war. Wieso war mein Leben so ein Chaos? »Danke, wirklich, aber er... Ich habe ihn schon gefunden.«
»Ah, gut.« Er schien überrascht, aber froh für mich. Die lose Strähne wurde wieder hinters Ohr verbannt. Er trug zwei Silberringe, die er beim Sex, aber beim Schlafen nicht abnahm. »Dann hast du den Irrtum selbst schon aufgedeckt.« Ein reueloses Grinsen zuckte über seine Lippen. »Witzig. Wir haben uns also ganz umsonst heute hier getroffen.«
»Den Irrtum?« Mit jeder Sekunde fühlte ich mich unwohler, dass Danny und ich hier nur saßen, um über eine nicht anwesende Person zu reden. Dass diese nicht anwesende Person auch noch Harry war, machte die Sache ganz und gar nicht besser. »Das mit dem Handy?«
»Handy?« Sein Blick sprang zu dem umgedrehten Handy neben sich. »Nein. Den Studiengang.«
Es fühlte sich wichtig an, zu blinzeln. »Kunst?«
»Ja – beziehungsweise; nein. Du weißt es nicht, Louis?«
Ich setzte ein Lächeln auf, das so bitter schmeckte, wie es aussehen musste. »Was weiß ich nicht?«
Danny ließ die feinen Falten in seiner Stirn sichtbar werden. Ich hätte die Skepsis von seinem Gesicht pflücken können, so reif war sie. »Harry studiert nicht Kunst, Louis.«
Es war nicht möglich, ihm länger ins Gesicht zu sehen. Für einen einzigen Herzschlag spürte ich das Blutecho in meinem Hals. So viele Dinge wären besser gewesen, aber ich konnte nur eine Sache sagen.
»Doch.« Ich spürte, wie lächerlich es klang, als mein Mund noch resonierte.
Und Danny war verwirrt. Vielleicht so verwirrt, wie ich es war. Ich sah es in dem asymmetrischen Kopfschütteln, das mich ihn wieder ansehen ließ. »Nein, Louis. Oder zumindest nicht hier. Wie gesagt; ich habe gecheckt.«
Gecheckt, gecheckt. »Gecheckt?« Schon jetzt wusste ich, dass ich die Antwort nicht hören wollte. Was auch immer es war; es würde mich heute Abend nicht nach Hause gehen lassen wollen.
»Ja. Es gibt Immatrikulationslisten. Du hast gesagt, er sei Ersti.«, erinnerte er mich vorsichtig. »Aber er steht nicht drauf, Louis. Kein Harry Harry. Niemand, der Harry mit Vor- oder Nachnamen heißt. Auch keine Henrys, kein Harold, kein Harrison, was auch immer. Ich dachte, vielleicht hättest du dich im Semester geirrt. Ein Missverständnis – zwischen uns beiden, zwischen ihm und dir... Aber er ist nirgendwo. Weder Bachelor noch Master. Nicht in Kunst. Wir haben eine Gruppe, fast alle von uns, vor allem für die Abschlussprojekte, Beziehungen und so weiter, ich habe gefragt; keine Rückmeldungen. Niemand hat von ihm gehört. Vielleicht ist er an der MMU. Ich weiß es nicht.«
Ich hörte das Summen der Lampen. Wieso durfte Licht Geräusche machen? Wieso war alles eine Lüge? Wer kontrollierte meine Zunge? »Nein. Nicht die MMU. Hier.«, widersprach ich. »Im SAB, hier ist er immer. Er ist Stipendiat. Vielleicht stehen die nicht auf den Listen.«
Die dunklen Augenbrauen zogen sich zusammen. Ich weigerte mich, Mitleid daraus zu lesen. Danny neigte den Kopf minimal zur linken Seite. »Hier werden keine Kunststipendien angeboten, Louis. Sonst hätte ich mich beworben. Die finanzielle Unterstützung könnte ich gebrauchen.«
Vor nicht mal einer halben Stunde hatten wir die Definition von Naivität nachgeschlagen, aber ich konnte mich nicht mehr erinnern. Geschlecht, Sexualität und der Körper: Wo lag der Unterschied zwischen Naivität und Unschuld? Nach welchem der beiden war William Beckwith in einem dunklen, pornographischen Kino auf der Suche? Ich sollte Danny fragen; er hatte das verdammte Buch gelesen. Und darüber hinaus schien er ja auch alles andere zu wissen, was es zu wissen gab. Eines der größten Bruchstücke, die ich über Harry wusste; falsch.
»Bist du dir sicher?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort kannte, und erhoffte ein Nein.
»Ja.«
Harry hatte die Bibliothek nicht betreten können, weil er keine Chipkarte hatte. Alle Studenten hatten eine Chipkarte.
»Es tut mir leid, Louis.« Es war offensichtlich, wie unwohl Danny sich fühlte. Seine Kiefermuskeln verrieten ihn. »Aber es ist nicht schlimm, oder? Du hast ihn doch gefunden..?«
Ich fühlte mich wie ein Idiot, weil ich ein Idiot war. Ich hatte Harry gefunden. Er war verschwunden und hatte sich dann finden lassen. Finden und in meine Wohnung schleppen lassen. Finden und sich glauben lassen. Ich nickte steif. Danny musste mich für dämlich halten und richtig liegen.
Sein Kopf schnellte zur Seite, als das verstoßene Handy auf der Tischoberfläche laut zu vibrieren begann wie ein wütendes Insekt. Er drehte es um. 𝗣𝗮𝗽𝗮𝗶, verkündete der Anruf. Dannys Daumen schwebte über dem roten Hörer, aber er hatte die Zeitumrechnung mal erwähnt. In Brasilien musste es jetzt ziemlich früh sein. Keine gewöhnliche Anrufzeit. Bevor er wegdrücken konnte, sagte ich: »Geh ran.«
Es war widerwillig, aber Danny stand auf und drückte sich das Handy gegens Ohr. Ich musste kein Portugiesisch verstehen, um zu wissen, dass er den Anrufer – seinen Vater? – mit sanfter Bestimmung abwimmelte und auf später verschob. Als wäre dieses Gespräch hier wichtig. Kaum zwei Meter von mir entfernt drehte Danny sich Telefonat-hypnotisiert langsam um seine eigene Achse, Blick auf seine verfärbten Sneaker, Stimme weich und vertraut, bewusst leise, Ring- und Mittelfinger seiner linken Hand waren doch lackiert, und er wusste anscheinend alles über Harry. Oder vielleicht nicht alles, aber das einzige, was zählte.
Ich versuchte, mich an den Moment zu erinnern, in dem Harry mir erzählt hatte, dass er Kunst studierte. So wenig wie mit der Naivitätsdefinition war es mir möglich. Alles in mir sträubte sich dagegen, Danny zu glauben, bis auf meine Vernunft. Es musste wahr sein. Danny würde mir keine halbsicheren Ermittlungsergebnisse abliefern – die ich nicht mal von ihm verlangt hatte. Und wenn die Kunstfakultät wirklich keine Stipendien ausstellte...
Nach nicht mal anderthalb Minuten hatte Danny es geschafft, die Person am anderen Ende der Leitung abzuwürgen. Mit entschuldigendem Lächeln kehrte er zu mir zurück und ließ das Handy dieses Mal in einem beigen Stoffhaufen neben seinem Stuhl verschwinden.
»Alles gut?«, fragte ich substanzlos.
»Ja.«, versicherte er, aber schüttelte den Kopf. »Nichts Wildes.« Er sah mir in die Augen und plötzlich war ich mir sicher, dass ich todmüde aussehen musste – obwohl ich die letzten Nächte überraschend gut geschlafen hatte. Danny hatte bereits diverse Körperteile gegen mein Gesicht gepresst, aber jetzt wollte ich mich vor ihm verstecken. War das Licht ein schmeichelhaftes? »Louis«, fuhr er behutsam fort, »Ich wollte nichts sagen, das...das du nicht wusstest oder das so aus dem Nichts kommt. Ich wollte mich nicht in etwas einmischen, das mich nichts angeht. Ich kenne Harry nicht und ich kann und möchte keine Aussagen über ihn treffen – ich dachte nur, weil du ja seine Nummer oder so wolltest, dass ich wirklich helfen könnte und... Ich weiß nicht. Ich wollte helfen.«
»Du hast geholfen.«, versicherte ich schnell, obwohl ich nicht sicher war, wie sehr das stimmte. Wieso hatte ich nicht überzeugender getan, als wären das keine Neuigkeiten für mich? »Danke, Danny.«
Er sah mich immer noch an, als gäbe es da etwas zu sehen, als sollte er sich weiter entschuldigen oder diese Situation so aufschlüsseln, dass sie okay war. Aber ich konnte ihm nichts entgegen bringen, nicht, ohne Harry zu verraten. Ganz abgesehen davon, dass es schon ein einziges Chaos war, dass Danny, mein Four-Night-Stand, überhaupt von Harrys Existenz wusste – nur, weil ich zu einem einsamen Zeitpunkt davon ausgegangen war, dass es keinen anderen Ausgang geben könnte, als dass ich Harry küssen musste. In diesem Moment erschien es mir wie die dystopischste Utopie jemals. Harry küssen.
Aber Glück im Unglück im Unglück im Glück; Danny war wie immer taktvoll und fähig, soziale Interaktionen bestmöglich zu lesen. Er faltete die Hände im Schoß, lächelte ermutigend, gab mir ein paar Sekunden, ihn an seinem Plan zu hindern, und als ich das nicht tat, stand er auf. »Na dann, Louis. Danke, dass du gekommen bist.«
In besserer Verfassung hätte ich einen Witz gemacht, der uns sogar beide zum Schmunzeln gebracht hätte. Jetzt war es nicht mal eine Option. Ich stand auch auf. »Danke für deine Recherche.«
»Natürlich. Immer, Louis.« Danny sammelte seine Sachen zusammen, ich griff nach Hollinghurst und meinem Rucksack. »Bist du durch mit deinen Kursen?«, fragte er weiter, als wir uns zurück zwischen Tischen und Menschen hindurchschlängelten.
»Ja. Jetzt geht es in die Bibliothek.«, berichtete ich und realisierte meinen Fehler zu spät. Ich hatte die Wahrheit gesagt. Wenn Danny auch auf dem Weg in die Bibliothek war, würden wir noch für mindestens fünf Minuten steife Konversation ohne Sprungbrett aufrecht erhalten müssen. »Und du?«
»Fleißig.«, kommentierte er großzügig. »Ja, ich habe noch zwei Kurse. Aber der erste ist auch erst in einer halben Stunde oder so, also entspannt. Grüß die Bibliothek von mir, ich bin wirklich niemals dort. Es ist eigentlich unangenehm. Zähle ich überhaupt als Student?«
»Du machst wahrscheinlich hundertmal bedeutsamere Dinge, indem du kreativ bist und Neues erschaffst. Was bringt es der Welt, wenn ich stundenlang in der Bibliothek sitze und das Gleiche über jahrhundertealte Bücher sage, was schon seit Jahrhunderten gesagt wird?«
»Du willst Lehrer werden.«, erinnerte Danny und hatte sogar jetzt recht. Es gab diese Menschen.
»Ja. Damit ich dann Kindern beibringen kann, das Gleiche über jahrhundertealte Bücher zu sagen, was schon seit Jahrhunderten gesagt wird.«, erwiderte ich bitter.
Danny lachte. Ich war so überrascht, dass ich erst dachte, er würde sich über mich lustig machen. Aber das Grinsen glitt nur langsam in ein müdes Lächeln über, das dann schließlich auch in seine sanfteste Form schwand. Er nickte minimal, wie eine Bestätigung. »Bis bald, Louis.«
Ich bemühte mich, das Lächeln zu erwidern. »Bis bald, Danny.« Bis wann? Wann würden wir wohl das nächste Mal miteinander reden? Würden wir jemals wieder miteinander reden?
»Viel Glück beim Lesen, Schreiben, Denken!«, wünschte er und machte schon Schritte nach hinten, weg von mir, auf in optimistischere Teile seines Tages.
»Dir auch.«, sagte ich mit Willen zu ebenbürtigem Optimismus. Das Zitat vom Dalai Lama war unendlich fern.
»Danke!« Es war fast ein Ruf, leichtfertig und einfach, und mit mir zugewandtem Rücken. »Tschüss Louis!«
»Tschüss.«, hauchte ich nicht mehr laut genug. Ein Cover roter Badeshorts brannte sich in meine Handfläche. Dannys Hinterkopf entfernte sich wie ein Abspann. Ich blieb stehen, treue Kamera. Er hatte längere Beine als ich und war schnell hinter der nächsten Ecke verschwunden. Ich wollte seufzen, aber atmete nur aus.
Das Ende des Flurs war eine weiße Wand, zwei Plakate bewarben eine Lesung und eine Hilfshotline. Ich wartete und hoffte, dass Harry aus einem der Seitengänge auftauchen würde, sich zwischen den Postern materialisieren, aus den Lüftungsschächten klettern. Dass er lächeln würde, hier sein, weil er hier studierte. Ein Missverständnis. Eine glückliche Aufklärung.
Aber ich war es gewohnt, dass meine Wünsche sich nicht erfüllten.
✩
»Zwiebeln, Louis!« Zayn wedelte mahnend mit einem Kochlöffel in meine Richtung und sah tadelnd das rissige Schneidebrett unter meinen Fingern an, auf dem ich gewissenhaft Tomate in zerlaufende Würfel geschnitten hatte.
»Wenn ich mitkoche«, ich verfrachtete die Tomaten in die große Plastikschüssel und griff brav nach den beiden bereit gelegten Zwiebeln, »musst du auch erwarten, dass ich in meinem eigenen Interesse handele.«
Zayn hatte mir wieder den Rücken zugewandt. »Es wäre in deinem eigenen Interesse, wenn ich es schaffe, die Sauce zu kochen, damit wir auch ein richtiges Essen haben. Du wärst derjenige mit den lauteren Beschwerden, wenn wir trockene Nudeln mit Salat essen müssten.«
»Hey«, protestierte ich, während ich mit den trockenen Zwiebelschalen kämpfte. »Dieser Salat ist mein Baby. Er wird köstlich.«
»Zwiebeln, Louis!«
»Ja-ha! Was denkst du denn, was ich hier gerade mache?«
»Was auch immer es ist; mach es schneller! Das Öl ist heiß.«
Ich setzte den ersten gut kalkulierten Mittelschnitt durch die Zwiebel. »Dann hättest du es noch nicht warm machen sollen. Wieso bin ich hier der Schuldige?«
Zayn drehte an einem knackenden Herdschalter. »Weil du die Zwiebeln hättest schneiden sollen. Die müssen als erstes rein.«
Konjunktiv und Plusquamperfekt; dreist. »Ich bin verantwortlich für den Salat.«
»Du bist verantwortlich für das Messer und das Brettchen.«
»Das Messer ist stumpf.«, berichtete ich mit startend nasaler Stimme. Die Zwiebeln taten ihre Wirkung.
»Ich beende das Gespräch an dieser Stelle.«, verkündete Zayn. »Du vergisst manchmal einfach, dass du einundzwanzig und kein quengelndes Kleinkind bist. Und beeil dich mit den Zwiebeln.«
»Du bist so grausam.«
»Das macht die besten Chefköche aus.«
Darauf konnte ich nichts erwidern, also schnitt ich still weiter. Ein paar Sekunden später musste ich meine brennenden Augen in meinem Ärmel verstecken. Leidend atmete ich durch den Mund. Dann riss ich mich zusammen. Zwiebeln schneiden war wie Pflaster abreißen; lieber schnell und tapfer, als langsam und qualvoll. Mein Blick fiel auf meinen Ärmel. Den ganzen Tag lang hatte ich nicht mehr bemerkt, dass mein rechter Ärmel noch immer hochgekrempelt war, von dem Moment heute Morgen, als er mir dank meiner Unfähigkeit, Harry um Hilfe zu bitten, ins Wasser gerutscht war. Schnell rollte ich ihn wieder zu voller Länge aus. Der Stoff behielt die Steifheit nach Nässe.
»Hier.« Ich drückte mich vom Stuhl auf und gesellte mich zu Zayn am Herd, das Brett mit den Zwiebelwürfeln präsentierend.
»Danke Louis.« Zayn schabte das Produkt meiner Arbeit in die schwarze Pfanne, in der das Öl sofort zu brutzeln anfing.
Ich wusch mir mit zusammengekniffenen Augen die Hände. Die Wimpern meiner unteren Augenlider waren schwer von Tränen, die nicht fallen wollten. Ich wusste nicht, ob Blinzeln oder nicht Blinzeln schlimmer war. Ich blinzelte.
»Wann kommt Niall?«, fragte ich, obwohl es mindestens das dritte Mal heute Abend war. Irgendwie hatte ich bisher immer in den falschen Momenten weggehört – oder einfach ein schreckliches Kurzzeitgedächtnis. »Bevor du etwas Gemeines sagst; ich weiß selbst, dass ich das schon gefragt habe.«
»Macht es dir Spaß, mir nicht zuzuhören?«
»Du bist ein bisschen angespannt heute.«, sagte ich sanft und halb im Scherz. »Und du liest Carver.«, bemerkte ich mit Blick auf das dünne, abgegriffene Buch, das auf einem der Stühle lag. Zayn kehrte immer wieder zu den Raymond Carver Kurzgeschichten zurück, wenn er nicht mehr denken konnte und eine Pause brauchte.
Zayn seufzte. »Uni war anstrengend. Und morgen muss ich eine doppelte Schicht arbeiten.«
»Wirklich?« Ich setzte mich zurück an den Tisch. Die Pilze und Knoblauch hatten wir zum Glück schon vorbereitet, also konnte ich mich jetzt wirklich dem Salat widmen. »Schafft du das überhaupt mit Text und Theorie?«
»Ich muss schwänzen.«
»Wieso musst du die Doppelschicht nehmen?«
»Irgendwer ist krank. Und noch irgendwer.«
»Kannst du nicht einfach Nein sagen?«, erkundigte ich mich und wusste ganz genau, dass die Frage naiv war.
»Ja, zusammen mit dem Einreichen meiner Kündigung. Ich muss arbeiten, Louis. Und die letzten beiden Kurse ausfallen lassen.« Das Ölbrutzeln wurde stumpf, als er einen Berg Pilze in der Pfanne ertränkte. »Aber es soll nicht regnen.«
»Gut.«, steuerte ich bei und fühlte mich dämlich, weil ich ihn nicht besser unterstützen konnte. Eine halbe Gurke schwamm im Tomatenwasser auf meinem Brett. »Wann kommt Niall?«
»Nachher irgendwann eigentlich.« Zayn machte Konzentrationspausen zwischen Überraschungssilben, weil er mit variierendem Ellenbogenwinkel die Pilzmasse umrühren musste.
Das Messer schnitt durch die Gurke wie Butter, trotz fehlender Schärfe. »Er ist gut darin, sich vor dem Kochen zu drücken.«
»Er hat ein Tutorium mittwochs. Deswegen kommt er später nach.«
»Oh«, war mein Beitrag. »Quälerei. So spät noch Tutorien.«
»Das ist der Unterschied zwischen uns und den Naturwissenschaftlern. War deine Uni okay? Warte- nein, du hattest ja Schluss nach unseren gemeinsamen Kursen.«
»Ich war in der Bibliothek.«
»Dafür hatte ich heute keine Zeit. Ich kann mir eigentlich auch nicht leisten, Carver zu lesen. Wie jedes Semester habe ich mich wieder überheblich mit meiner Pflichtlektüre verzettelt.« Das Schaben vom Kochlöffel um den Pfannenrand wurde langsam meditativ.
»Ich auch. Ich muss mich wirklich ranhalten.«
»Hast du ›Small Island‹ schon durch?«
»Nein. Ich will erst Romantik schreiben. Das fertig kriegen.«
»Können wir das vielleicht zusammen machen?«
»Ja. Aber wollen wir aufhören, über Uni zu reden?«
»Nichts lieber als das.«, stimmte Zayn zu und versank daraufhin wieder in Stille. Er begann zu würzen. Das Mahlen der Gewürzmühlen ergänzte die rhythmische Gewalt meines Messers. Die Gurke ging schnell. Oliven trennte ich nach grün und schwarz. Zayn mochte beide, ich keine und Niall angeblich nur die Schwarzen. Was Oliven in einem Salat zu suchen hatten, wusste ich nicht. Aber sie machten Zayn glücklich. Das reichte manchmal als Überwindung, mich mit ihrem Geruch beim Schneiden abzufinden. Und der Gefahr, meine Fingernägel aus Versehen um ein paar Millimeter zu kürzen.
Zayn warf mir einen Schulterblick zu. »Mir ist heute Ardie über den Weg gelaufen.«
»Was?«, fragte ich und musste sofort die Aufregung aus meiner Stimme nehmen. »Wo?«
»In der Schlange im Lime.« Er bemühte sich, nicht auf die gescheiterte Gelassenheit in meiner Stimme zu reagieren, ich hörte es ihm an. »Heute Mittag. Er stand hinter mir.«
»Bitte sag, dass ihr nicht miteinander geredet habt.«
Zayn schielte wieder zu mir hinüber, lächelte nach Vergebung suchend, aber nicht reuevoll. So ein Heuchler. »Er war nett. Auch ein bisschen im Stress. Wir haben beide das gleiche Sandwich bestellt.«
»Du hast auf ihn gewartet?«
»Nein. Wir haben vorher unsere Bestellungen besprochen.«
»Klingt nach unnatürlichem, unangenehmem Smalltalk.«, stellte ich fest und wusste nicht, ob mich das erleichterte oder noch mehr besorgte. Ich durfte nicht nachfragen, worüber sie genau gesprochen hatten. Ardie und Zayn hatten eigentlich keinerlei Berührungspunkte, außer mich. Und auch das war ein sehr dünner Draht.
»Er jobbt anscheinend in einem der Klinikgebäude, irgendwas Logistisches. Ich musste die ganze Zeit auf sein Namensschild starren. Bernard. Ich wusste nicht, dass er so heißt.«
»Wie sollte er sonst heißen?«
Zayn zuckte die Schultern. »Arden, keine Ahnung. Er ist so... Ich weiß nicht, der Name ist abstrakt für ihn. Es war wirklich schwer, mich zu beherrschen und ihn nicht Bernard zu nennen.«
»Wenn er erst herausfindet, dass du mit vollem Namen Zaynard heißt.«
Zayns Körper verlor an Spannung. Enttäuschung, Missfallen. »Das war überhaupt nicht lustig, Louis. Nicht mal ein bisschen. Dein Humor hat gerade beträchtlich-«
»Ja, ja, ja, ja, ja; ich hab's erst beim Aussprechen gemerkt.«, verteidigte ich mich. »Ich nehme es zurück.«
»Gut. Dann kann ich dir ja jetzt mitteilen, was Ardie über dich erzählt hat.«
Eine Olive litt. Meine Würde auch. »Oh Gott.«
»Ja, keine Sorge. Es war beiläufig. Ich glaube, er hätte dich nicht erwähnt, wenn er dich nicht gesehen hätte.«
»Er hat mich gesehen?« Ich versuchte wirklich, wirklich mich aufs Schneiden zu konzentrieren – und beiläufig zu klingen. Ich hatte Ardie eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Er studierte aber auch unter keiner der humanistischen Fakultäten.
»Heute.« Und zum ersten Mal drehte Zayn sich vollständig um, Kochlöffel in der Hand. Ich traute mich nicht, wegzusehen. »Zusammen mit Danny. Im Focus E. Louis?« Seine Augenbrauen fragten: ›Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?‹
Rein gar nichts. »Wieso war Ardie im SAB?«
»Louis, nicht ablenken. Du weißt, ich mag Danny. Wer nicht? Aber du musst dich entscheiden! Du tust dir selbst Unrecht, wenn du-«
»Fuck, Zayn, wir hatten keinen exhibitionistischen Sex im Focus E. Wir haben geredet.« Ich schabte betont entschlossen die Oliven in kleine Schälchen und nahm jetzt den hellen Salatkopf in Angriff. Es gab nichts, das wir auswerten mussten.
»Ihr habt euch verabredet. Danny wäre nicht zufällig dort.«, stellte Zayn den Fakt klar, den ich nicht abstreiten konnte. Also musste es eine Form der Wahrheit sein. Ohne Harry zu hintergehen.
»Wir waren nur ein paar Minuten da. Hätte Ardie gewartet, wüsste er das.«
»Hättest du es mir noch erzählt?«
Ich runzelte die Stirn. »Ist das von Bedeutung?«
»Nein. Ich bin nur verwirrt.« Zayn musste sich augenscheinlich widerwillig wieder zum Herd umdrehen. »Wieso habt ihr euch getroffen?«
»Also zuallererst; Danny hat mich angeschrieben. Er war Initiator.«
»Du musst wirklich gut im Bett sein, Louis.«
»Oh, halt den Mund. Es hatte nichts mit Sex zu tun. Oder uns.« Im engeren Sinne.
»Nein? Trefft ihr euch neuerdings einfach so? Um über eure vielen überschneidenden Interessen zu reden? Werdet ihr jetzt Freunde?«
»Wieso klingst du so hämisch, Zayn?«
»Weil du nicht weißt, worauf du dich schon wieder einlässt.«, erklärte er nüchtern.
»Hat Ardie das gesagt?«
»Nein! Wieso sollte Ardie-«
»Es ging nicht um uns, Zayn! Ich werde nicht mehr mit Danny schlafen. Und ich werde mich auch nicht in ihn verlieben. Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen.« Der nicht gut abgetropfte Salat machte alles noch nasser. Es frustrierte mich.
»Worüber habt ihr geredet?«
Ihm ins Gesicht lügen, auch wenn es sein Rücken war, kam nicht wirklich in Frage. Außerdem hatte ich keine Notlüge parat. »Weißt du noch, als ich Danny letztens angerufen habe, um ihn nach Harry zu fragen?« Allein Harrys Namen zu sagen, fühlte sich wie Verrat an.
»Weil sie beide Kunststudenten sind? Damit du ihn wiederfindest?«, erinnerte Zayn sich offenbar problemlos. Wir hatten diesen charakterschwachen Moment meinerseits aber auch intensiv diskutiert.
»Ja. Danny wollte mir sagen, dass er ihn nicht gefunden hat. Heute. Und das war's.« Es war keine Lüge. Der Schritt, den ich jetzt gehen konnte, ohne Harry zu hintergehen.
»Aber du... Du hast ihn doch seitdem wiedergesehen, oder..? War Halloween davor oder danach?«
Danach. »Ja. Ich habe ihn diese Woche schon gesehen.« Das ein oder andere Mal womöglich.
»Ist Harry...«, Zayn überlegte, es war Vorsicht, und er rührte die Pilze weiter gewissenhaft um. »Ist Harry noch aktuell?«
Ich hatte das Thema ›Harry‹ die letzte Woche erfolgreich gemieden und Zayn hatte es nicht angesprochen. Das letzte, was er wusste, war, dass wir uns kurz in Hemsworth gesehen hatten – aber keinen Informationsschnipsel mehr. Mit ›Aktuell‹ spielte er natürlich auf halb-diplomatische Weise darauf an, dass ich mich definitiv zu Harry hingezogen gefühlt hatte. Hatte. Hatte! Vergangenheitsform.
Auch das hatten wir zwar nie besonders explizit besprochen, aber Zayn kannte mich gut genug. Über optische Präferenzen hinaus. Und das war der Grund, wieso ich schlecht Nein sagen konnte. Er würde es mir entweder nicht abkaufen und mich dann noch intensiver aufziehen oder es vielleicht sogar doch glauben, und es deswegen offen mit mir auswerten wollen, jetzt, wo es vorüber war.
Also zuckte ich mit den Schultern. Zayn konnte mich nicht sehen. »Hmm«, summte ich unschlüssig.
Zayn drehte sich wieder um, mehr als eine Frage auf dem Gesicht. »›Hmm‹?«
Ich zuckte nochmal mit den Schultern. »Er hat auf jeden Fall kein Interesse.«, sprach ich eine Wahrheit aus, die ich mir bis zu diesem Moment noch nicht offen eingestanden hatte. Frustration war warm in meiner Brust, als mir klar wurde, wie schlecht ich diesen Fakt verkraftete. Aber selbst wenn ›Harry und ich‹, was auch immer das bedeuten sollte, nicht von Anfang an unter einem schlechten Stern gestanden hätte, wäre es sehr kritisch, wenn ich auch jetzt mit ihm bei mir zuhause noch irgendeine Art von Gefühlen für ihn entwickeln würde. Es wäre irgendeine Art von Helferkomplex und nichts anderes.
»Aber du willst ihn trotzdem noch sehen..?«, fragte Zayn behutsam, doch es war ehrliches Interesse. »Anfreunden ist auch okay?«
»Hey!«, erklang Nialls immer vertrautere Stimme mit dem Echo der zufallenden Tür. Zayn schloss sie nicht mehr ab, wenn er ihn erwartete. Und seine Mitbewohner waren mittwochs häufig nicht da – Dank gebührte an dieser Stelle mir.
»Hey.«, sagte Niall wieder, als er aus dem kurzen, engen Flur den Kopf herausstreckte. Er verschwand erneut, um sich Jacke und Schuhe auszuziehen.
Zayns vielsagender Blick lag noch immer auf mir, aber ich konnte nicht all die vielen Dinge entziffern und wir wussten beide gleich gut, dass er jetzt nicht weiter nachhaken würde. Nicht wegen Niall – Niall hatte schon von Harry gehört – aber irgendwie doch wegen Niall. Er war die Chance auf ein leichteres Gespräch und diese Chance sollten wir nicht schleifen lassen. Da waren wir uns einig. Keine Worte notwendig.
Ich schnippelte stumm weiter und genoss das gnädige Geräusch, das entstand, als Zayn die kalte Sahne zu den Pilzen goss. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern.
»Es riecht sehr gut!«, erkannte Niall wohlwollend an, als er endgültig zu uns stieß. »Hi Louis.« Er trat zu mir an den Tisch und streifte kurz mit den Fingern meine Stuhllehne, aber er schien nicht zu erwarten, dass ich aufstand. Wir waren noch nicht an einem Punkt, an dem wir uns selbstverständlich umarmten. Und meine Finger waren mit einem Messer beschäftigt.
»Hey!« Hoffentlich überzeugend lächelte ich in sein Gesicht auf. Ich konnte es mir immer noch nicht so richtig merken, wenn ich es nicht direkt vor mir hatte. Vielleicht lag es daran, dass er so grundlegend anders aussah als Zayn, den ich immer bei mir trug. Nialls Gesicht war weich und gnädig und besonnen und dominiert durch blaue Augen und ein Bett blonder Haare. Zayns Gegensatz auf vielen Ebenen. Ich sah Niall trotzdem gerne an, er entfloh mir nur in Abwesenheit.
Zayn ging es sehr sicher anders. Niall küsste nichts als die Luft hinter Zayns Ohr zur Begrüßung und ich sah extra nur halb hin. Aber Zayns Lächeln von Vertrautheit würde ihn bei allem gut gepflegten Hass gegenüber öffentlichen Liebesbekundungen trotzdem immer verraten. Für diesen Moment behielten sie die meisten der potentiellen Worte zwischen ihnen für sich. Auch das würde Zayn nicht zugeben, aber ich konnte quasi sehen, wie er sich verliebte. Richtige, echte Liebe. Ich wollte ihn glücklicher sehen als das letzte Mal, an dem das passiert war. Und mit Niall waren meine Hoffnungen da nicht niedrig.
Sie tauschten ein paar leise Worte aus, denen ich keine Aufmerksamkeit schenkte. Die umständlichen Salatblätter waren fast alle gebändigt und geschnitten. Dann nur noch Apfel und Paprika und mein Job hier war erledigt. Dressings werteten Salate nicht auf.
»Was kann ich helfen?«, fragte Niall irgendwann wieder in gemeinsamer Lautstärke. Er war von Zayn weggetreten, fragte uns beide mit wechselndem Blick.
»Nichts.«, sagte Zayn mit Schulterzucken. »Die Sauce ist quasi fast fertig, und die Nudeln kommen gleich ins Wasser. Käse habe ich schon gerieben.«
»Ich brauche auch keine Hilfe. Danke, Niall. Setz dich hin. Ruh dich aus. Ist ja wirklich ziemlich unverschämt, dass ihr so späte Tutorien habt.« Ich warf ihm einen mitfühlenden Blick zu.
Er setzte sich zu mir an den Tisch. Er hatte sich ein Glas Wasser organisiert. »Wir haben einen noch späteren Kurs. Der fängt erst 21 Uhr an. Wenn wir mit den Newtonteleskopen arbeiten dürfen.«
»Ihr seht euch die Sterne an?«, fragte ich ein wenig ungläubig. Das klang wie ein romantisiertes, antikes Studium. Ich konnte mir vorstellen, wie Niall und sein Kurs mit leuchtenden Augen und Federkielen in den Händen gemeinsam in den Nachthimmel starrten. Andererseits war Manchester auch renommiert für seine Astrophysik.
»Den Mond.«, berichtigte Niall. »Die Sterne kommen erst nächstes Jahr. Aber nur im Winter. Im Sommer sind die Kurse nachmittags. Auswertung. Es würde sowieso zu spät dunkel werden.«
»Hört sich ziemlich cool an.«, gestand ich.
»Ist es.«, bestätigte Niall. Er sah friedlich aus. Entspannt. Es war mittlerweile nicht mehr ungewohnt, ihn hier bei Zayn zu sehen. Auch mittwochs nicht. »Wie geht es dir, Louis?«, erkundigte er sich.
Ich transferierte die Salatblätter in die große, sich füllende Schüssel. »Gut. Ja. Uni ist ein bisschen dominierend, aber in ein paar Wochen wird es mehr, also kann ich mich nicht beschweren. Ganz gut.« Wieder keine Lüge, nur ließ es aus, was zurzeit nicht mit Uni zu tun hatte; was fast ausschließlich aus verwirrenden Gedanken über Harry bestand. »Und dir?«
Er zog einen Fuß auf die Sitzfläche und hielt das Knie gegen seine Brust. »Auch gut. Nicht so stressig, glaube ich. Wir müssen nicht so viel lesen wie ihr.« Auch er beschränkte sich auf Uni. Und was ihn in seiner Freizeit gerade dominierte, wusste ich auch ziemlich genau.
Zayn lachte amüsiert vom Herd aus. Niall schien ihm die akuten Sorgen über morgen genommen zu haben. Mit einer Packung Nudeln in der Hand gestikulierte Zayn zu Niall hinüber. »Sehr rücksichtsvoll von dir. Du hast zehnmal mehr zu tun als wir. Und zwanzigmal mehr Druck. Und das gilt schon für mich. Louis hat natürlich am wenigsten zu tun.«
»Hey!«, protestierte ich den wahren Fakt. »Beweist nur, dass ich mehr Voraussicht als ihr beide hatte.«
»Okay, genug über Uni geredet!«, verkündete Zayn mit Endgültigkeit. »Ich erlege eine Sperre über den Rest des Abends.« Schon die dritte Sperre heute. Erst Uni, dann Harry, dann wieder Uni. Ich konnte mich nicht beschweren. »Ich mache jetzt diesen Wein für die Sauce auf und dann trinke ich darauf, dass wir die Mitte des Novembers erreicht haben. Und die Mitte der Woche. Wer ist dabei?«
»Ich«, sagte ich schneller, als ich denken konnte, und überraschte mich selbst. Die letzte Sache, die ich jetzt tun sollte, war, mich zu betrinken. In wenigen Stunden war es wieder meine Hauptmission, Harry sich so wohl wie möglich fühlen zu lassen. Oder auch nicht. Danny hatte immerhin für ein paar neue Erkenntnisse gesorgt.
Aber das würde ich schon schaffen.
»Ist der Wein nicht zum Ablöschen?«, fragte Niall skeptisch, aber vorwurfslos. »Vor der Sahne?«
»Ja, naja, habe ich vergessen. Jetzt ist auch ein guter Moment!« Mit angespannten Schultermuskeln befreite Zayn den Korken aus der Flasche. Großzügig gluckerte der helle Wein in die Pfanne.
Niall war aufgestanden und angelte ein Wein-, ein Sekt- und ein Brandyglas aus dem Schrank nahe Zayns Kopf. Die wunderbare Wohnheimausstattung. Er nahm Zayn die offene Flasche ab und reihte seine Ausbeute vor mir auf dem Tisch auf. Ich schnitt den Apfel schief, während ich beobachtete, wie die Flasche sich leerte.
Das Brandyglas war am vollsten. Niall lächelte und schob es mir direkt unter die Nase. Ich hatte nichts Gutes zu sagen. Wenig geduldig wartete ich, bis die anderen beiden auch bereit waren. Mein Magen knurrte. Zayn sagte einen improvisierten, unangenehmen Trinkspruch übers Ablöschen auf.
Ich trank mein halbes Glas aus, noch bevor er fertig war.
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