𝐗𝐗𝐕
☽ ⋆ 𝐋 ⋆ ☾
Ich wünsche euch Frohe Weihnachten, wenn ihr es feiert! Euch und allen anderen ein paar wunderschöne ruhige Tage :)
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»Louis, mein Schatz, mein Liebling, komm rein! Oh Himmel, du Armer! Ich hätte dich ja vom Bus abgeholt, aber bei solchem Wetter traue ich mich immer nicht hinters Steuer, du kennst mich ja. Ach Süßer, komm rein! Warte, nicht- schüttel den Regenschirm aus! Nicht, dass du mir das ganze Wasser reinbringst. Ich habe vorhin erst gesaugt. Und Pattie nebenan hat wieder Schimmel im Erdgeschoss. Das würde mir jetzt noch fehlen, Schimmel. Nicht bei mir! Na komm, Louis, komm rein. Werd mir nicht krank. Das würde deine Mutter mir schön danken.«
Ich lehnte den Regenschirm neben die Haustür. »Hey, Nan.«
»Gib mir die Jacke, Louis. Und die Schuhe auch gleich.«
Ich zog die Jacke aus, die unter dem Regenschirm kaum nass geworden war, und streifte die Schuhe ab, die wirklich trieften.
»Als wärst du durch einen Ozean gelaufen, Louis! Der Herbst kommt doch immer schneller, als man denkt. Ist es ein bisschen heiterer in Manchester? Die großen Städte sind immer wärmer, habe ich gehört. Mit den ganzen Abgasen und all diese Sachen. Ob das stimmt, weiß ich ja nun auch nicht. Und Regen kommt auch in der Wärme! Der Sommer war eigentlich eine Schande, findest du nicht? Da sollte der Herbst doch etwas Anstand zeigen und uns ein bisschen vom Regen verschonen. Klappt ja doch nie!« Sie wanderte mit meinen Schuhen davon. Die Wärme des Hauses kribbelte auf meiner Klammheit. Es roch nach Mohnkuchen und ich zog meine Socken aus.
Meine Nan tauchte wieder vor mir auf. »Louis«, lächelte sie. »Sieh dich an. So ein hübscher Junge!« In weniger als zwei Monaten würde ich 22 sein. »Komm her.« Sie schloss mich in ihre warmen, vertrauten Arme. Ihr Parfüm war so süß, dass es auf meiner Zunge bitter wurde. Ich vermied es, ihre Bluse mit meinen tropfenden Socken zu berühren. Sie küsste meine Wangen, nochmal und nochmal, dann mein Ohr und mein Trommelfell platzte.
Ich löste mich von ihr. »Wie geht es dir, Nan?«
Sie strich mir eine feuchte Strähne aus der Stirn. »Ach, mein Liebling, alles wie immer. Ich bin gerade dabei, die Zimmer oben ein bisschen aufzuräumen. Und endlich mal einiges von dem ganzen alten Krempel wegzuschmeißen. Das ist ja nicht mehr auszuhalten. Vielleicht willst du mir ja ein bisschen helfen, wenn du jetzt hier bist, hm? Aber nur, wenn du willst! Du kannst dich auch einfach zurücklehnen und dich mal ausruhen. Das hast du bestimmt dringend nötig, nicht wahr? Du siehst müde aus, Louis. Kriegst du nicht viel Schlaf?«
Letzte Nacht nicht, nein. Ich hatte andere Prioritäten gehabt. »Es ist alles ein bisschen stressig zurzeit.«, bot ich ihr die sekundäre Wahrheit an.
»Ja, das kann ich mir vorstellen! Die erwarten sicher viel zu viel von euch! Komm mit, ich schneid dir ein Stück Kuchen ab. Musst du wieder so viel lesen?«
Ich setzte mich auf einen der Stühle. Natürlich standen schon zwei Gedecke ihres besten Kaffeegeschirrs auf der orangen Tischdecke. »Lesen, ja, aber vor allem viel schreiben. Das ist anstrengend und kostet Zeit. Und parallel über verschiedene Werke zu schreiben, kann verwirrend sein.«
Sie nickte ernst, als hätte sie auch ein Literaturstudium hinter sich. In Wahrheit galt der Großteil ihrer Aufmerksamkeit jetzt ihrem Kuchen. »Zum Glück bist du ja ein kluger Junge. Hast du wieder so viele Bücher mit hergebracht?«
»Nur ein paar.« Es war die Wahrheit. Ich bleib immerhin nur für das Wochenende.
»Irgendwann machst du dir noch den Rücken kaputt damit, Louis. Ich sag es dir. Wenn man jung ist, hält man sich immer für unverletzlich. Ich dachte in deinem Alter auch nicht, dass Altsein überhaupt Teil meiner Zukunft sein könnte. Aber hier sind wir! Sei bloß vorsichtig mit deinen Knochen.« Sie setzte das Messer an und zog einen perfekten Schnitt. »Wie war deine Fahrt?«
Ich rieb meine nackten Füße aneinander. »Die meiste Zeit habe ich geschlafen.« Bis Harry aufgetaucht war. Jetzt wirkte es schon wieder surreal. Vielleicht würde sich in 40 bis 50 Jahren herausstellen, dass ›Harry Harry‹ die ganze Zeit nichts als mein imaginärer Freund gewesen war. Ich traute es meinem Verstand fast zu. Aber selbst für meine Vorstellungskraft war Harry ein zu perfektes Konzept.
Nicht, dass irgendetwas an ihm tatsächlich perfekt für oder in meinem Leben wäre. Harry war eine Katastrophe für jede Etage meines Bewusstseins.
»Richtig so.« Mein Nan zog mir meinen Teller unter der Nase weg und platzierte gewissenhaft das Stück Kuchen darauf. »Und wie steht es so in Manchester? Alles gut?«
Konnte es mit Großeltern je eine wahrlich andere Antwort als ›Ja‹ auf diese Frage geben? Nicht für mich. »Ja, alles gut.«
»Louis! Du warst doch immer voll von Worten. Erzähl mir ein bisschen mehr!« Sie schob den Teller zurück. »Iss.«
Jetzt war ich also auch noch ein schlechter Enkel. ›Voll von Worten‹ war aus irgendeinem Grund ein Attribut von mir, das Menschen in meiner Gegenwart zuzufliegen schien. Aber waren nicht alle Menschen voll von Worten? Die Evolution hatte entschieden, dass Menschen in Worten dachten. Menscheninhalt waren ein paar vitale Organe, Nerven und Worte.
Und wirklich voll von Worten war ich nicht mehr gewesen, seit ich das Alter von acht Jahren überschritten hatte. Das schien besonders meine Nan schnell zu vergessen.
Ich wollte ihr trotzdem den Gefallen tun. Aber wie? Auf keinen Fall konnte ich mit ihr das gleiche Gespräch führen wie mit meiner Mum vorhin. Und darüber hinaus war mein Kopf leer. Bei bestem Willen konnte ich mich an nichts der letzten Wochen erinnern, das nicht ein Höllen-Halloween, perfekter Chaos-Harry, Unistress oder Besuche bei meiner Mum gewesen waren.
Ich nutzte den Kuchen, um ein bisschen Zeit zu schinden. Genüsslich kaute ich auf dem saftigen Teig herum. Mit vollem Mund wollte sie mich sowieso nicht sprechen sehen. Ich schluckte. »Sieht ganz so aus, als würde David Moyes Man U ruinieren.«, öffnete ich. Ich sah meiner Nan nicht ins Gesicht. »Es ist natürlich noch ein bisschen zu früh für richtige Prognosen, und der Oktober war okay, aber...Ferguson wird vermisst. Es gibt anscheinend großes Drama mit Rooney, und das kann er sich natürlich nicht leisten. Moyes soll sechs Jahre bleiben, das kann was werden. Am 2. spielen sie gegen Fulham. Die sollten sie eigentlich einfach besiegen können, aber im Moment scheint nichts so richtig sicher. Der 2. ist morgen! Naja, wir werden sehen.«
»Davon verstehe ich doch alles nichts.«, tadelte meine Nan. Sie hatte sich mir gegenüber gesetzt, ohne Kuchen.
»Zayn und ich wollen vielleicht zu einem Spiel im Dezember gehen. Vielleicht. Möchtest du keinen Kuchen?«
»Ich nehme mir später was. Backen allein macht immer so satt.« Sie nickte meinem Stück Kuchen ermutigend zu. »Wie geht es Zayn?«
Der Begehrteste. »Gut.«, lächelte ich. Und für meine Nan, und weil es mich selbst noch in Aufregung badete, packte ich dieses Mal etwas mehr aus. »Er ist in einer frischen Beziehung.«
»Nein! Wirklich? Wie schön, das freut mich aber! Sind sie ein hübsches Paar?« Als wären die Hochzeitseinladungen schon raus.
Ich verkniff mir das Lächeln. »Das wunderschönste Paar.«, bestätigte ich. Ich wusste, dass sie den Hauch von Ironie nicht heraushören konnte.
»Das macht mich aber glücklich für ihn!« Sie schlug die Hände zusammen. »Wie heißt...er? Sie?« Nach fast fairer Skepsis hatte meine Nan sich immer große Mühe gegeben. Zayn hatte sie ziemlich herausgefordert mit seiner Pansexualität.
»Niall.«, half ich ihr aus, bevor sie sich die Zunge verknoten konnte.
»Ach, wie schön! Ein irischer Junge.« Auch Niall war jetzt seit fast zwei Monaten 21. Aber meine Nan rechnete Volljährigkeit wahrscheinlich nicht vor dem 40. Lebensjahr an. Zumindest nicht in der Generation ihres Enkels. »Louis, du musst Zayn mal wieder mitbringen! Ich habe ihn so lange nicht gesehen. Frag ihn doch mal. Sag ihm, wie sehr ich mich freuen würde!« Zayn war schon seit einigen Jahren nicht mehr hier gewesen. Aber in unseren ersten paar Sommerferien hatten wir manchmal über eine Woche gemeinsam in Hemsworth verbracht. Gute alte Zeiten.
»Ich werde es ihm ausrichten.«
Sie nickte zufrieden. »Was ist mit dir, Louis? Gibt es da jemanden, den du gerne magst?« Verschwörerisch tätschelte sie meine Hand. »Mir kannst du es doch erzählen.«
Sofort schaufelte ich das nächste riesige Stück Kuchen in meinen Mund. Diese Wendung hätte ich definitiv kommen sehen sollen. Wieso hatte ich mit Zayn gestartet? Ich hätte ihn aufheben sollen, bis das Thema unausweichlich zur Sprache kommen würde. Und dann effektiv von mir ablenken.
Die Karte war verspielt.
Ich kaute demonstrativ mit so wenig wie möglich Speichel. Was sollte ich ihr erzählen? Dass es jemanden gab, der mir nicht aus dem Kopf gehen wollte, von dem ich aber nicht mal wusste, ob ich ihn wirklich auf diese Weise mochte? Oder dass ich letzte Nacht dreimal gekommen war, mit einem ganz anderen ›Jungen‹, wie sie sagen würde?
Fast hatte ich das Bedürfnis, ihr wirklich alles in den armseligen Details zu erzählen; nur, um ihr Gesicht zu sehen. Aber das konnte ich weder ihr noch mir antun.
Bis ich sprach, hatte ich doppelt geschluckt. »Nein.«, berichtete ich schließlich knapp. »Niemand im Moment.« Es hätte so eine schöne Lüge sein können.
Sie beugte sich weit genug über den Tisch, um mir durch die Haare zu streichen. »Keine Sorge, mein Schatz. Der Richtige wird kommen.« Sie lächelte, als wäre sie vernarrter in mich, als eine andere Person es jemals sein könnte. »So ein hübscher Junge.«, schloss sie wieder. Manchmal sehnte ich mich danach, mich selbst aus der Sicht meiner Nan oder Mum sehen zu können. Vielleicht wäre Narzissmus eine willkommene Abwechslung.
Wir sollten lieber wieder über Fußball reden. Aber ich musste einen anderen Ausweg finden. »Der Kuchen schmeckt sehr gut!«, verkündete ich also.
Meine Nan hob die Augenbrauen. In ihrem Rücken hing ein Kalender, den ich vor vielen Jahren selbst gebastelt hatte. Natürlich war er schon auf November umgeschlagen. »Ja? Da bin ich ja froh. Ich habe ein bisschen zu lange gerührt, aber das Mehl wollte einfach nicht aufhören zu klumpen.«
»Er schmeckt nach genau der richtigen Rührzeit.«, versicherte ich. Was nicht viel wert war. Kochen mochte ich die Hälfte der Zeit auf die Reihe kriegen, aber Backen? Ein Mysterium.
»Dann iss mal schön auf, Louis. Du siehst wirklich müde aus.« Vielleicht doch lieber aus der Sicht meiner Mum. »Willst du dich ein bisschen hinlegen? Oder soll ich dir ein warmes Bad einlassen?«
Die Enden meines Herzens schmolzen. Ich hatte kein Bad mehr genommen seit...seit einer sehr langen Zeit. Wahrscheinlich war das letzte Mal hier gewesen. Meine Nan hatte eine wunderbare Badewanne.
Aber nicht jetzt. So anstrengend es auch sein konnte, mich mit meiner Nan zu unterhalten; im Moment war es besser, als in meinen Gedanken allein zu sein. Und sobald ich erstmal Fuß in eine Badewanne setzte, konnte ich für nichts mehr garantieren. Heißes Wasser verflüssigte meine Gedanken wie Blut. Gedankenschlösser auf Schaumbergen. Keine gute Idee gerade.
»Vielleicht später. Oder morgen.« Ich balancierte das letzte Stück Kuchen auf der Gabel vor meinem Mund. »Soll das Wetter so bleiben?«
Sie winkte mit einer Hand ab. »Was weiß ich denn... Ich habe aufgehört, mir den Wetterbericht anzusehen. Stimmt doch sowieso alles nicht. Der Regen kommt eben, wenn er kommt. Aber ich hoffe doch sehr, dass es sich morgen ein bisschen auflockert. Oder wenigstens Sonntag. Ich hatte an die Haw Park Woods gedacht. Was hältst du davon?«
»Klingt gut. Wollen wir jetzt ein bisschen aufräumen oben?« Ich schob meinen leeren Teller in die Tischmitte. »Den ganzen alten Krempel aussortieren.«
Sie hob beide Hände. »Du brauchst wirklich nicht zu helfen, Louis. Ruh dich ruhig ein bisschen aus. So ein anstrengender Tag.«
Ich schob vorsichtig den Stuhl vom Tisch ab und stand auf. »Ich würde gerne helfen, Nan.«
Unsicher, ob sie mich lassen sollte, erhob auch sie sich. Bevor ich ihr zuvorkommen konnte, schnappte sie sich meinen Teller und trug ihn hinüber zur Spülmaschine. »Na dann komm.«, räumte sie ein. »Aber verurteile mich nicht nach der Unordnung da oben! Das ist jetzt nur alles zum Aufräumen so. Und nicht zu sentimental sein, Louis! Hörst du?«
»Verstanden!«, garantierte ich. Ich und sentimental? Niemals. »Was soll ich tun?«
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Ich hatte darauf gehofft, Fotos durchgehen zu können – und sehr wohl sentimental zu werden. Aber sie war schon entschlossen, die Fotos unangetastet zu lassen. Was ich gut fand, weil sie die wertvollen Erinnerungen nicht einfach in der Mülltonne begraben würde, aber es bedeutete auch, dass ich mich nicht mit den Fotos beschäftigen konnte, ohne aktiv untätig beim Aufräumen zu sein. Zumindest konnte ich das nicht von Anfang an tun.
Ich startete im alten Büro meines verstorbenen Großvaters. Aber ich hatte schnell genug von batteriebetriebenem Elektroschrott und Schreibutensilien. Mit einem teils vorwurfsvollen, teils amüsiertem Seitenblick meiner Nan widmete ich mich verfrüht dem Bücherregal.
»Sei großzügig!«, mahnte sie, obwohl ihr sehr bewusst war, dass ich wahrscheinlich kein einziges Buch aussortieren würde. »Und such dir aus, was du mitnehmen möchtest. Bedien dich!«
»Ich kann dich nicht all deiner guten Bücher berauben!«, protestierte ich – mit falschen Intentionen. »Dann gäbe es gar nichts, was ich lesen kann, wenn ich herkomme.« Als wäre ich so oft hier.
Sie sah so einfach durch meine Fassade, wie ich den fünfzigsten schreibunfähigen Kugelschreiber in die sich füllende Plastiktüte entsorgt hatte. »Sei nicht albern, Louis. Du bringst sowieso immer deine eigenen Bücher mit. Len würde sich freuen, wenn du ein paar mitnimmst. Er hätte sich über die ganze Sache mit deinem Studium gefreut. Greif einfach zu, wenn du etwas Gutes siehst.«
Len, Grandad, war jetzt seit fast sieben Jahren tot und meine Nan hatte recht; wahrscheinlich hätte ihn die Wahl meines Studiums zu Freudensprüngen veranlasst. Lehrer am Ende oder nicht.
Er hatte viel mit mir gelesen, viel mit meiner Mum, sogar einige Male mit uns beiden. Meine Nan war mehr die Geschichtenerzählerin gewesen. Ohne Bücher auf dem Schoß hatte sie mir Fusionen von Märchen und Fabeln erzählt, bis mein Bauch von den lachenden Korrekturen wehtat. Sie war nie besonders gut darin gewesen, mich schläfrig zu machen. Wenn man davon absah, dass bei kleinen Kindern auf Euphorie nur Energielosigkeit folgen konnte.
Ich arbeitete mich also durch die Bücher, Titel für Titel, Autor für Autor, Seite für Seite, Einband für Einband. Mein Grandad hatte sehr viel pragmatischer gelesen, als ich es je wollen würde. Eine betäubende Menge Autobiografien, besonders politische, mehrere Bände Fotografiesammlungen von Eisenbahnloks, Nietzsche, Nietzsche, Nietzsche, Übersetzungen russischer Kriegsromane und die ein oder andere mittlerweile antike Gebrauchsanweisung für Computer aus den Neunzigern. An den meisten war ich eher mäßig interessiert, aber ich nahm trotzdem jedes der Bücher in die Hand. Checkte die Erscheinungsjahre, Seitenzahlen, Layouts und Kapitelnamen.
Nur eine einzige Gedichtsammlung fiel in meine Hände und es überraschte mich nicht, dass es Philip Larkins Werke waren. Pragmatisch war ein passendes Urteil gewesen. Es war Zufall, dass ich ›This Be The Verse‹ aufschlug, aber nicht, dass ich es las. Noch nie hatte es mich so befriedigt wie in diesem Moment, im Haus meiner Großeltern. Ich überprüfte, ob ich ›Deceptions‹ in dem 1950-bis-1960-Abschnitt fand, knickte die Ecke um und legte es auf den kleinen Stapel von Büchern, die für mich bestimmt waren.
So ging es weiter, bis meine Hände nach Wärme, alten Seiten wie Hautschuppen und Schimmel rochen. Es brauchte nicht viel Vorstellungskraft, um mir einzubilden, dass sie klebten und juckten. Also grub ich mich aus den toten Worten und schlängelte mich im Flur durch Kleiderstapel bis ins Bad. Ich ging auf Toilette und wusch mir die Hände erst mit fester, dann mit flüssiger Seife. Warum meine Nan beides stehen hatte, war mir ein Rätsel.
Als ich wieder in den Flur zurücktrat, war die Atmosphäre sogar für mich zu schwer. Regen trommelte gegen die Scheiben, gefolgt von dem Donner eines Gewitters, das sich aus meinem Verstand gelöst haben musste. Die Glühbirnen spendeten nur spärliches Licht, antik und gelb und geschluckt von den prunkvollen Lampenschirmen, die meine Nan liebte. Die Luft war Staub und Partikel von feuchten Erinnerungen, an die sich niemand erinnern konnte oder jemals wieder würde. Vielleicht lief die Zeit ein bisschen zu langsam. Konnte ein Haushalt über Jahrzehnte so unverändert bleiben und sich nicht von dem allgemeinen Lauf der Zeit abspalten?
Ich gab auf und ließ meine Nan alleine. Mit schweren Füßen kontrollierte mein Gewicht mehr den Weg die Treppe hinunter, als mein Gehirn es gekonnt hätte. Unten waren die Lichter aus und ich war dankbar dafür. Ich war ein Geist, oder ein Kissen, als ich mich auf das Sofa im Wohnzimmer fallen ließ. Der Schlaf musste unter meiner Schädeldecke gelauert haben, getarnt als der Schatten meiner verflogenen Kopfschmerzen. Ich hatte wirklich nicht viel geschlafen letzte Nacht. Sobald die Augen zu waren, hatte mein Bewusstsein die Realität schon verloren.
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Als ich aufwachte, bedeckte eine Decke mich bis zu den Schultern. Die behütende Wärme wäre fast zu warm gewesen. Hinter mir, hinter Wänden, klapperte Geschirr. Wie lange hatte ich geschlafen?
Mit Angst davor, von Visuellem erschlagen zu werden, nutzte ich meine Ohren als Augen. In surrealer Stille lauschte ich nach dem Regen. Absenz war Mord meiner stabilsten Konstante. Eine neue Welt war geboren.
Ich öffnete die Augen. In der Ecke brannte eine kleine Stehlampe. Der Fernseher lief ohne Ton. Irgendein Untersender der BBC. Nachrichten, oder eine ähnlich informative Sendung. Die Fensterscheiben ruhten feucht. Der Regen hatte wirklich aufgehört.
Ich wollte aufstehen und die gläserne Tür zum Garten öffnen, um die ertrunkene Erde zu riechen. Aber gleichzeitig wollte ich keinen einzigen Muskel rühren. Mein Atem kitzelte meine Hand auf dem Polster. Ging mein Leben weiter von hier aus? Was kam nach Schlaf?
Ich hörte meine Nan in der Küche vor sich hin murmeln. Und fühlte mich schlecht für sie. Wieso hatte ich dieses Wochenende ausgewählt, um sie zu besuchen? Ich hätte mir denken können, dass ich eine sündhafte Halloweenparty ausgleichen werden müsste – wenn auch unvorhersehbar gewesen sein mochte, wie sündhaft.
Wie war es möglich, dass ich am selben Wochenende wie Harry in die irrelevante Kleinstadt Hemsworth fuhr? Vielleicht hatte er sich nach der Qual von gestern gedacht, dass er für eine Weile raus musste. Sachen packen und los geht's. Nur, dass er den Schritt mit dem Packen übersprungen hatte.
Vielleicht hatte Harry recht. Das Universum hatte keine Emotionen. Ich legte mir die fatalen Folgen meines Handelns schön selbst zurecht.
Ich streckte einen Arm zum niedrigen Couchtisch aus und erreichte die Fernbedingung. Der Ton des Fernsehers sprang an und ich hoffte, dass er stärker als meine Selbstvorwürfe war. Naive Hoffnung. Der Elizabeth Tower ragte schwer in schwindelnde Höhen auf, Symbol einer Nation, eines Königreiches..? In Wahrheit selbst überragt von der Hälfte aller Häuser der Hauptstadt. Stein auf Stein.
Eine männliche Stimme berichtete etwas Aktuelles, über das Bauwerk von Jahrhunderten hinweg. Ich hörte zu, trotz London, trotz mächtiger Zeit, aber die Worte wollten mich nicht erreichen. Ich erhöhte die Lautstärke.
»Louis, Schatz«, ertönte die Stimme meiner Nan, aus der Küche und dann nicht mehr, »du bist wach!«
Ich überstreckte meinen Kopf, sah sie hinter mir, ein Lächeln verkehrt herum. »Ja«, war alles, was ich dazu zu sagen hatte. Mir fiel mehr ein. »Tut mir leid, dass ich dich alleine gelassen habe oben. Ich wollte mich nicht vor dem Aufräumen drücken.« Eigentlich war genau das mein Ziel gewesen. Ich hatte eine Pause gebraucht.
Sie winkte ab. »Das macht doch alles nichts. Du musst ja wirklich sehr müde gewesen sein. Na, Hauptsache, du kannst heute Abend dann auch noch einschlafen.«
Ja. Unter Einbeziehung einer Menge Faktoren könnte das eine Herausforderung werden. »Wie spät ist es?« Wo hatte ich meinen Rucksack gelassen? Ich brauchte mein Handy.
»Sieben bald. Gut, dass ich das Essen wieder aufwärmen kann!«
Langsam setzte ich mich auf. Nur mein Verstand protestierte. Meine Nan nickte zufrieden. »Tut mir leid, dass ich die Essenspläne über den Haufen geworfen habe.«
»Jetzt hör schon auf, dich für alles zu entschuldigen. Mach mal ein bisschen Platz für deine arme Nan!« Ohne weitere Vorwarnung rutschte sie neben mich auf das Sofa. »Du hast mir schön den Platz vorgewärmt, Louis!«, grinste sie.
Ich bot ihr eine Ecke meiner Decke an, aber sie schüttelte den Kopf. »Hast du schon gegessen?«, fragte ich weiter.
»Nein. Aber ich war bisher auch noch nicht besonders hungrig. Ich hatte ja noch den Kuchen vorhin. Schwerer, als ich dachte.«
»Er ist sehr lecker.«
»Danke, Louis. Ich bin froh, dass er dir schmeckt.«
Dann konnte ich nur noch schweigen. Mein Backwissen – oder das über angenehme soziale Interaktionen – war nicht ausreichend, um den Kuchen-Smalltalk weiterzuführen. Dafür hörte ich endlich, was der Fernseher sagte. Er schien ebenso die Aufmerksamkeit meiner Nan zu erregen. Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu erkennen, wieso.
Big Ben war verschwunden, ersetzt durch eine namenlose Wand. Ein Mann stand davor, nicht nur eine Stimme, dafür eine neue, mit Mikrofon im Gesicht. Aquamarinblaue Augen.
Meine Nan lehnte sich vor und schaltete den Fernseher aus. Ihr ganzes Leben lang hatte sie konservativ gewählt, bis sie aus persönlichen Gründen auf die Labor Party umgestiegen war. Besser so als gar nicht. Tory-Allergien hatten noch niemandem geschadet.
»Hässliche Krawatte.«, murmelte sie, als wäre es eine persönliche Beleidigung. Ich lachte leise, bis ich Dannys Gesicht vor meinem schweben sah. So viele Probleme, wie ich mit dem Binden gehabt hatte, waren bei Dannys Versuchen, sie wieder zu lösen, entstanden. Unabsichtlich war das der Punkt gewesen, an dem ich mich auf seine Vorlieben eingelassen hatte.
Das Lachen blieb mir im Hals stecken, wie die Luft letzte Nacht. Vielleicht war es gut so. Es hatte keinen Grund zum Lachen gegeben.
Ich räusperte mich leise, um das Unwohlsein aus meiner Kehle zu vertreiben. Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, wie durstig ich eigentlich war. Wann hatte ich zuletzt etwas getrunken? Hatte der Regen meinen Wasserhaushalt hypnotisiert? Es gab so viel Wasser auf der Erde und es war nicht genug.
Langsam rappelte ich mich auf. Meine Beine waren etwas fremd, aber das Blut arbeitete. »Bleib sitzen, Nan!«, bestand ich. »Ich habe nur Durst. Möchtest du auch etwas zu trinken?«
Natürlich stand sie trotzdem auf. Sie strich ihre faltenfreie Hose glatt. »Du hättest doch was sagen können, Louis. Ich bringe dir etwas, wenn du durstig bist. Was möchtest du trinken? Wasser? Tee? Ich habe Saft gekauft. Da müsstest du mal mit in die Küche kommen, dann kannst du dir etwas aussuchen. Ich mache dann gleich das Essen warm.«
Instinktiv wollte ich ihr versichern, dass ich mit Wasser zufrieden war, aber zum Glück hielt ich mich zurück. »Ich helfe dir.«, beschloss ich stattdessen, mit meinem besten Nachdruck.
Er schien bei ihr anzukommen. Sie lächelte. »Na gut. Dann komm mal mit!« Und schon waren wir auf den Weg in die Küche. Ich hatte zwei Stunden im Bus geschlafen, und jetzt nochmal zwei auf dem Sofa meiner Nan. Ich sollte mich ein bisschen bewegen und mein Gehirn in kontrollierter Umgebung etwas ankurbeln.
»Was gibt es?«, erkundigte ich mich, zum zweiten Mal heute.
»Rindereintopf. Mit Rotwein. Nur für dich, mein Schatz.« Sie streckte ihre Hand aus und drückte meine. Ich lächelte dankbar. Appetit machte meinen Mund noch trockener. Niemand kochte zarteres Rindfleisch als meine Nan. Ihre Suppen mit Wein hatten mich schon immer schwach gemacht.
Die Küche glänzte wie meistens. Der Tisch war gedeckt. Ein Radio plänkelte ein Lied, das aus der Jugend meiner Nan stammen könnte. Sie zog einen Stuhl für mich zurück und ich kam ihrer Bitte nach. »Was kann ich helfen?«
Sie stand schon am Herd. »Eigentlich gibt es nichts mehr zu tun, Louis. Das Essen ist fertig, ich muss es nur noch aufwärmen.«
Ich stand auf und holte zwei hohe Gläser aus einem der minzfarbenen Schränke. »Was möchtest du trinken?«, erkundigte ich mich.
Sie nahm den Topfdeckel ab, der Geruch erreichte mich erst, als er wieder zu war. »Würdest du mir einen Kräutertee kochen, mein Liebling?«
Ich machte die Frage zur rhetorischen, indem ich ihr nicht antwortete. Der Wasserkocher war fast leer und ich füllte ihn fast voll. Ich war schlecht im Mengenschätzen. Mit der schärfsten Drehung nach rechts, lieferte der Wasserhahn mir schließlich auch kaltes Wasser. Ich trank zwei volle Gläser aus dem Stand. Und noch ein halbes. Dann füllte ich auch ihres auf und platzierte die Gläser auf dem Tisch.
Während sie im Topf rührte, beim nächsten Lied die Lautstärke des Radios lauter drehte, bereitete ich passiv ihren Tee vor. Kräutertee, den man ohne Milch oder Zucker trank. Nicht mal Zitrone. Absurd, wenn ich zu hart darüber nachdachte. Es war wie Rindereintopf meiner Nan ohne Rotwein und Rindfleisch. Ohne Salz. Mehr Zutaten konnte ich nicht benennen.
Kräuter waren höchstens gut in Cocktails. Aber das war vielleicht etwas kontrovers nach gestern Abend.
Nicht an gestern Abend denken. Nicht an gestern Abend denken. Hemsworth hätte unschuldig und langweilig genug sein sollen, um mir eine Chance zu geben, mich nicht mal in das Alkoholchaos von gestern hineinversetzen zu können.
Dann hatte Harry neben mir im Bus gestanden.
Was für ein Verbrechen an meinem gesunden Menschenverstand.
»Hinsetzen, Louis, wir können essen!«, verkündete meine Nan. Mit ihren Alte-Menschen-Armen trug sie den Topf zum Tisch. Es gelang mir, mich über meine Egozentrik hinwegzusetzen und Platz zu nehmen. Sie füllte unsere Teller.
Was auch immer dieses Wochenende überschatten wollte, war bereits passiert. Jetzt war es vorbei. Wenn schon nicht mir, dann schuldete ich meiner Nan zumindest ein bisschen Vernunft. Ich konnte es schaffen. Mich auf das Hier und Jetzt konzentrieren.
»Guten Appetit, Louis. Lass es dir schmecken!«
Ich sah auf die goldbraune Suppe hinab. Der saure Geruch des Weins wollte mich um den Finger wickeln. Tat es auch.
»Danke, Nan.« Ich erzwang ein Lächeln. »Guten Appetit.«
✩✩✩✩✩✩✩
Zu dem Zeitpunkt, an dem ich das Kapitel beende, ist es gerade öffentlich zugängliches Wissen geworden, dass Louis keine baked beans mag (ja, es ist der 7.9.)
Zuallererst; ????!?!???!???!!??
Und außerdem bedeutet das, dass ich den Rest des Aufenthalts bei Louis' Nan doch nochmal ein bisschen überdenken muss :(
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