𝐗𝐗𝐈𝐗
Frohe Ostern, falls ihr feiert :) Wenn schon auf nichts anderes von meiner Seite; auf diese Kapitel könnt ihr zählen.
☽ ⋆ 𝐇 ⋆ ☾
Louis zeigte mir den Weg. Er nahm sein Fahrrad nicht mit. Für 4 Minuten und 20 Sekunden schwieg er. Sichtbar in seiner Gegenwart hatte ich ihn nie so lange schweigend erlebt. Er war in Gedanken, da war ich mir sicher. Denn der einzige Grund, der mir einfiel, wieso die Worte nicht aus ihm heraussprudelten, war, dass sie in ihm als Gedanken kochten.
Es war ungewohnt. Schon als Louis nicht mal fünf Jahre alt gewesen war, hatte er mich im Schall seiner Stimme eingehüllt. Ich zählte die Sekunden, die ich mit ihm verbrachte, nicht mehr. Stille war nichts Schlechtes. Sie verlängerte meine Erdentoleranz und schonte Louis' Stimmlippen. Aber es fühlte sich zu sehr an, als hätte Louis vergessen, wer er war. Als hätte ich ihm in Hemsworth nicht nur die Finger aufgelegt, sondern mein Vorhaben auch ausgeführt. Und als wäre ich dabei in seinem Frontallappen tiefer als in sein Kurzzeitgedächtnis vorgedrungen.
Bedrückender wurde seine Stille durch die Hintergründe. Was auch immer meine Worte in Hemsworth in ihm ausgelöst hatten, es war genug, um ihn zu geschlossenem Schweigen zu bringen. Es verunsicherte mich. Ich konnte das Haus mit dem Turm schon am Ende unserer Straße sehen. So groß meine Autoritäten über Louis' Körper in einigen Hinsichten sein mochten; seine Gedanken konnte ich nicht lesen.
Es war zu menschlich, aber ich hielt die Stille nicht mehr aus. »Es ist ein großes Haus.«, bemerkte ich behutsam.
Louis sah auf von dem Boden unter meinen Füßen und seinen Füßen, Socken, Schuhen. »Ja.« Sein Herz schlug weniger schnell als vor fünf Minuten. »Alan Turing hat dort gearbeitet, glaube ich. Nein, das müsste das andere Coupland Gebäude sein. Das erste. Hier rechts.« Er zeigte auf das Haus direkt neben uns. Es streckte sich in die Länge.
»Alan Turing?«
»Ja, die Tests zu künstlichen Intelligenzen hat er hier gemacht, wenn ich mich richtig erinnere. Großes Erbe. Aber in Manchester wurde er auch verhaftet, also stehen wir wieder neutral da.« Er verzog das Gesicht. Ich sah ihn nicht an, aber meine Wangen verrieten es mir. »›Wir.‹ Keine Ahnung, wieso ich mich gerade zu Manchester dazugezählt habe.«
Ich wollte meine letzte Frage wiederholen, aber ich wusste, dass es keine gute Idee wäre. Außerdem konnte ich es später selbst überprüfen. Mir war sehr bewusst, dass ich mir überlegen sollte, wie ich meine Worte in Hemsworth richten konnte, aber dafür musste ich wissen, wovon Louis ausging. Was er ahnte. Ich durfte nicht als erstes reden. Was würde ich tun, wenn er mir zölestisches Sein unterstellte? Mit welchen Lügen konnte ich eine Wahrheit vernichten? Die wievielte Lüge war zu viel?
»Naja, auf jeden Fall bin ich in der Hinsicht ganz froh, im 21. Jahrhundert zu leben.«, fuhr Louis fort. Wind schien seine Haare lebendig werden zu lassen. »Und wahrscheinlich auch in ungefähr allen anderen Hinsichten.«
»Einundzwanzigstes Jahrhundert?« Gedankenlesen wäre doch eine lohnenswerte Fähigkeit. Einundzwanzigstes Jahrhundert wovon? Nach welchen Maßstäben war das hier ein Einundzwanzigstes Jahrhundert? Es war Louis' erstes und gerade mal mein zweites. Das 45436382. der Erdgeschichte.
»Ja. Die Iron Lady liegt in der Vergangenheit. Und alle vor ihr. Auch wenn sie natürlich nicht Alan Turing umgebracht hat. Oder? Nicht, dass ich mich jetzt blamiere. Nein, das muss ja noch in den Vierzigern gewesen sein. Fünfziger? Vor ihrer Zeit, hoffe ich auf jeden Fall.« Louis' Augen waren zusammengekniffen, dann spannten sich seine Schultern an. »Stopp, wieso rede ich über Margaret Thatcher?«
»Ich weiß es nicht.«, bot ich an. Die Liste an Namen, die Louis mir offenbarte, wurde länger und länger. Würde ich eine glaubwürdigere Illusion eines Menschen werden, wenn ich Namen von vielen anderen Menschen aussprach? Vielleicht hätte ich mich darauf vorbereiten sollen. In diesem Moment konnte ich nicht auf die himmlischen Archive zugreifen, ohne dass Louis es erfuhr. Und ohne Zugriff auf die Archive kannte ich nicht genügend menschliche Namen, um viele zu erwähnen. Die meisten hatten direkt mit Louis zu tun. Und mir war bewusst, dass Louis von ›Harry, dem Menschen‹ nicht erwartete, dass er unaufgefordert über Johannah Tomlinson sprach.
Mir fiel trotzdem eine Frage ein, um ihn weiter reden zu lassen. »Was hast du in der Bibliothek getan, Louis?«
Luft hob mehr Strähnen seiner Haare an. Sechs Sekunden und er lächelte. »Mein Montag-Morgen-Kurs ist ausgefallen und ich habe es zu spät gesehen. Also habe ich die Chance genutzt, um einen Vortrag vorzubereiten, den ich nächste Woche halten muss.«
»Du musst einen Vortrag halten?«
»Ja. Müsst ihr keine Vorträge halten? Es ist Teil der Prüfungsleistung bei uns.« Er war zu entspannt.
»Du wirst gezwungen?«, versicherte ich mich.
Louis schien den Ernst der Lage wirklich nicht zu verstehen, denn jetzt lachte er. Es erleichterte meinen Brustkorb, zum ersten Mal heute. »Ja, so sollte ich es vielleicht ausdrücken. Es könnte aber schlimmer sein. Nur über ein Buch, das mir gefällt, und historische Kontexte und so weiter. Ich habe den Kurs eh erst Mittwoch, also habe ich noch eine Menge Zeit.«
»Was für ein Buch?«, fragte ich weiter, um noch auf der sicheren Seite zu bleiben. Außerdem war es Übung. Ich konnte eine fließendes Gespräch am Laufen halten.
Seine blauen Augen fanden meine und wieder lächelte er. »›The Swimming-Pool Library‹, Alan Hollinghurst. Kennst du es?«
Er sah aus, als erwartete er mehr als nur die Antwort. Ich schüttelte den Kopf, um seinen Glauben an mich zu stärken. »Nein.« Louis kannte so viele Bücher, ich kein einziges.
»Empfehlenswert. Meiner Meinung nach. Aber sehr polarisierend. Hier müssen wir rein.« Er ging weitere Schritte, jetzt viel schneller, dann zog er eine Tür auf. Er hielt sie, bis ich verstand, dass er sie hielt, um meine physische Erscheinung vor ihrer Mechanik zu schützen. Es gefiel mir nicht, ein Haus zu betreten, in dem Louis nicht auch war. Aber ich musste nur kurz warten, bis er mir folgte.
»So.«, sagte er, mit wanderndem Blick. Mir vermittelte das Wort nichts. »Ich muss mich eine Sekunde umsehen, dann geht es weiter.« Bereitwillig schenkte ich ihm jede Millisekunde, aber er brauchte länger als das. »Ah, ja.« Er zeigte auf ein Schild an der Wand. »Die Seminarräume sind in den oberen Stockwerken. Auf geht's.«
Er ging weiter. Ich sehnte mich zurück unter die Sicherheit von gasförmigen Molekülen über unseren Köpfen, bis die Erde schon keine Anziehungskräfte mehr auf uns ausüben könnte. Aber Louis schien sich wohl genug zu fühlen, um seine Jacke aufzumachen. Der Beutel rutschte ihm dabei von der Schulter, aber er fing ihn auf. Gesunde Reflexe.
»Hier die Treppe hoch.«, erklärte Louis, obwohl die Bewegung seiner Füße mir das schon signalisiert hatte. »Ich war einmal hier im ersten Semester. Campusrallye. Mein Team war das Schlechteste von allen.« Er lächelte, aber sein Herz schlug wieder schneller. Schneller, als die Treppen es rechtfertigen. »Habt ihr auch eine Rallye gemacht? In der ersten Woche?«
Die erste Woche. Noch eine Zeiteinheit von Louis, von der ich nicht sicher war, wie ich sie einteilen sollte. Ebenso wenig wusste ich, was eine Rallye war. Ob das bedeutete, dass ich noch nie eine gemacht hatte? Ich hätte ihm ehrlich geantwortet, unwissend, aber ich durfte ihm jetzt keinen Anlass geben, weiter an mir zu zweifeln. »Nein.«
»Glück gehabt. Ich dachte immer, da müssen alle durch.« Rallye wie ein Tunnel? »Vielleicht wollten sie euch nicht mit den schrecklichen Architekturen vergraulen. Das klang falsch. Hat Architektur einen Plural?«
Da war eine Frage, die ich beantworten konnte. »Ja.«
»Hm, na gut. Hier. Lass uns schauen, ob dieser frei ist.« Louis machte große Schritte auf eine geschlossene Tür zu. Nur ein bisschen Konzentration in meinen Fingerspitzen; der Raum hinter der Tür war leer – falls Louis das meinte. Natürlich ließ ich ihm trotzdem seine Augen, um das selbst herauszufinden.
Er legte eine Hand auf die Türklinke und drückte sie langsam und vorsichtig hinunter. Vielleicht streckte er Zeit, was natürlich unmöglich war. Wussten die Menschen das? Die Tür öffnete sich und Louis öffnete sie nicht schneller. Sein Kopf folgte jedem neuen Zentimeter neuen Sichtfeldes.
»Leer!«, verkündete er unangenehm laut, als wir beide alle Wände und leeren Stühle überblicken konnten. »Sehr gut. Dann ist er für uns.«
Es war wirklich ein ruhiger Ort. Sobald die Tür hinter mir zufiel, fand ich mich an dem leisesten irdischen Ort wieder, an dem ich je gewesen war. Leiser als Louis' Wohnung und Louis' Haus, leiser als das Krankenhaus. Für Erdenverhältnisse war es beinahe entspannend. Die Wände rauschten und die Außenwelt lebte, Louis' Herz schlug wieder schneller, aber meine Haut konnte Frieden finden.
Louis durchbrach die Echostille, wie es seine Bestimmung war. Er zog einen Stuhl zurück und setzte sich. Mit seinen Waden schob er einen zweiten Stuhl zurück und sah mich an. »Setzt du dich hin..?«
Er sah auf die freie Sitzfläche und ich wusste nicht, ob er ein Ja erwartete. »Ja.«, sagte ich; es war die richtige Entscheidung. Er lächelte. Sein Herz schlug schneller, noch schneller. Ich ignorierte 28 Stühle und setzte mich auf den, der Louis' gegenüberstand. Unsere Knie waren neun Zentimeter voneinander entfernt. Rechts von uns stand ein Tisch, weiß, um das Holz zu tarnen. Louis legte die Hände auf seinen Knien ab und die Finger waren noch näher als neun Zentimeter.
»Okay.« Louis atmete aus. »Harry. Also. Nicht weiter hinauszögern. Wir wollen beide reden. Über das gleiche, natürlich. Ich will gerne etwas sagen, aber...möchtest du anfangen?«
Sollte ich das vielleicht tun? Mir fiel kein plausibler Grund dafür ein. Um effektiv deeskalieren zu können, musste ich erst wissen, was er dachte. Seine Version meiner Fehler hören. »Bitte sprich du zuerst, Louis.«, bat ich.
Er nickte. Hände wurden zu Fäusten, die sich sanft wieder auf seinen Knien platzierten. Ich schloss sein Herz aus, um die Reizflut einzudämmen. Dass er nervös war, spürte ich auch in den Molekülen seiner Atemluft zwischen uns. »Gut. Ich zuerst.« Er krümmte seine Zehen. Ich legte schon vorsorglich meine Hände auf den Beinen ab, Handflächen nach oben, um sein Vertrauen zu gewinnen. »Harry, ja, du weißt, worum es geht. Ich möchte als erstes sagen, dass... Es gibt hier sicher Grenzen, die ich überschreiten könnte. Und das möchte ich nicht und du musst nichts ertragen, das du nicht ertragen willst. ›Ertragen‹ ist kein gutes Wort hier. Nicht wichtig. Ich will einfach sagen; stopp mich, wenn ich zu weit gehe. Ich werde bestimmt nicht gut rüberbringen, was ich sagen will, jetzt schon nicht mehr, das musst du mir irgendwie verzeihen. Vielleicht kannst du trotzdem versuchen, mir zuzuhören.«
»Ich höre zu.«, versicherte ich.
Zitternde Wimpern vor blauen Augen. Seine Pupillen waren weit. »Danke. Danke, Harry. Okay. Dann los. Mhm. Das Wochenende, es geht darum, was du am Wochenende gesagt hast. Nicht darum, was du gesagt hast natürlich, sondern dass...die Wahrheit hinter allem. Weil...ich bin dankbar, dass du– ist das okay? Dankbarkeit? Ich bin nicht wirklich in der Position dafür, oder? Naja, ich glaube, es ist gut, dass ich es weiß. Und dabei soll es nicht um mich gehen. Es ist gut, dass irgendwer es weiß. Wissen es andere Menschen? Harry? Dass du keine Wohnung hast? Warte, nein.« Er hob die linke Hand, als würde er mich am Aufstehen hindern wollen. Das hatte ich nicht vorgehabt.
»Ich wollte keine Fragen stellen, Harry.«, fuhr er fort. »Tut mir leid. Darum geht es nicht. Wirklich, das habe ich mir vorgenommen. Auch noch ein paar andere Sachen. Als wir in Hemsworth- nachdem du es erzählt hattest...ich habe bereut, nichts Besseres gesagt zu haben. Und ich habe lange nachgedacht. Wirklich lange. Du sollst wissen, dass ich die Dinge ernst meine, die ich sage. Jetzt. Ich will dich nicht bevormunden. Oder mich dir aufdrängen. Ich will keine unangenehme Situation für dich schaffen und dabei habe ich ganz sicher nicht mal eine Ahnung, wovon ich rede. Ich will- ›ich will, ich will, ich will‹. Das ist wahrscheinlich mal wieder Spiegel des eigentlich Problems. Nein. Stopp.«
Eine seiner Hände fuhr ihm über das Gesicht, durch die Haare, über den Nacken. »Tut mir leid. Es geht hier nicht um Wörtlichkeiten. Nicht alles ist verwurzelt in Sprache und- egal. Nicht wichtig jetzt. Ich bin so dumm. Es tut mir wirklich leid, Harry. Ich bin nervös.« Keine Lüge. Das mit der Dummheit schon. Oder vielleicht eher eine Fehleinschätzung. War es Dummheit, die eigene Intelligenz nicht zu erkennen?
Ich teilte die Frage nicht mit Louis. Sein Kehlkopf zitterte in Erwartung seiner nächsten Worte. Nur mit Schweigen würde ich die gesuchten Antworten erhalten. »Ich habe viel nachgedacht. Ich habe bereut, dich gehen lassen zu haben. Nicht, dass ich dich hätte halten sollen. Du bist dein eigener Mensch! Das meinte ich; ich habe Angst, dich von einem privilegierten Standpunkt aus zu bemitleiden. Harry, ich will dir nicht deine Autonomie nehmen. Ich hoffe, du verstehst mich gleich nicht falsch. Ich möchte helfen. Ohne sagen zu wollen, dass du abhängig von fremder Hilfe wärst!«. Er sah nicht glücklich aus. Ich wollte ihn wieder glücklich sehen. Würde all seine Sorge darauf hinauslaufen, dass er mir vorwarf, wie fremd ich der Erde war?
»Ich bin so schlecht hier drin, Harry, es tut mir leid. Dabei geht es nicht mal um mich. Also nochmal. Ich habe viel nachgedacht. Sehr viel. Sehr, sehr viel. Decken angestarrt und nachgedacht. Und ich weiß nicht, was das Richtige ist. Denken hilft nicht. Ich habe nicht die Ressourcen, um zu wissen, was man in...so einer Situation tun sollte. Dann wollte ich googeln, aber es hätte sich falsch angefühlt. Weil ich einfach mit dir reden sollte, oder? Du bist es, um den es geht. Du kannst mir sagen, was das Richtige ist. Fliege?« Louis' blaue Augen akkommodierten auf ein kleines Insekt zwischen unseren Köpfen. Das Brummen stellte die kleinste Art von Haaren in meinem Körper auf. Also doch Leben hinter der Tür. Vielleicht war sie mit uns hineingekommen.
»Ich dachte immer, zu dieser Jahreszeit gäbe es keine Fliegen mehr.« Er hob seine Hand und die Fliege entfernte sich von uns. »Gibt es das? Saisonale Tiere?«
»Ja.«
Er runzelte die Stirn. »Wirklich? Aber wie funktioniert das dann mit der Fortpflan- Nicht wichtig.« Er ließ die Hand wieder sinken. »Nicht, worauf ich hinaus wollte. Zurück zum Thema.«
Ich wollte der Fliege hinterhersehen, dem kleinen physikalischen Wunder, aber Louis war in dieser Sekunde wichtiger für das Los himmlischen und irdischen Lebens. Ich nickte. Zurück zum Thema.
Louis' Rachen wurde langsam trocken. Er schluckte. »Wo- ich weiß, wo ich war. Wenn es um dich geht, und ich nicht weiß, was das Richtige ist, muss ich kommunizieren. Mit dir. Hör zu, Harry; ich werde dir sagen, was das Fazit all meiner Gedanken war. Ich weiß nicht, ob es nicht vielleicht genau falsch ist, und ich weiß nicht, wie es klingen wird, aber bitte versuch... Ich meine das auf die ehrlichste und am wenigsten unangemessene Weise und ich werde es jetzt einfach sagen; Harry, ich möchte dir gerne anbieten, bei mir, in meiner Wohnung, bei mir zu...schlafen. Zu sein. Zu...leben? Ich weiß nicht. Es geht nur... Ich hatte noch nie größeren Kontakt zu einer Person wie dir, die...keine richtige Wohnsituation hat..? Oder zumindest nicht so, dass ich es auch wusste. Und ich will nicht tun, als wäre ich der große Retter, ich will einfach...ich kann nicht mit dem Wissen leben, dass du ohne ein Dach über dem Kopf schläfst und ich das weiß und selber sicher und geborgen und...ja, all diese Sachen bin. Ich weiß nicht, ob das erwünscht ist, deswegen musst du die Wahrheit sagen, aber ich möchte, dass du weißt, dass ich helfen möchte. Die ganzen Einzelheiten habe ich mir noch nicht überlegt, aber darum geht es auch nicht. Es ist möglich. Es wäre möglich. Ich habe Platz und dann könnten wir immer noch weiter überlegen. Aber ich werde keine Fragen stellen, wenn du das nicht willst. Und ich würde natürlich auch niemand anderem davon erzählen. Versprochen. Du musst mir auch nicht sofort antworten. Lass dir Zeit. Ich bin hier. Und ich weiß nicht...ich weiß nicht, wo du schläfst, aber du verdienst ein Dach. Und einen warmen Wasseranschluss. Ich habe diese Dinge und ich möchte teilen, wenn es dir helfen kann. Bitte tu, was am besten für dich ist.«
Louis' Schultern waren schwer, aber sein Kopf war schwerer. Er sah auf seine Knie hinab und ich wusste, was er gesagt hatte, und die Fliege flog einen Kreis hinter Louis' Rücken. Er wollte, dass ich bei ihm wohnte.
Meine Flügel wollten aus meinem Brustkorb bersten. Die Schulterblätter zerbrechen wie Eis und die Luft umarmen wie das kleine Insekt. Wo war Liam, wenn ich ihn brauchte?
»Es ist wirklich...« Louis hatte den Kopf wieder angehoben, den Blick noch lange nicht. »Du musst gar nichts, Harry. Es müsste nichts...Zwingendes sein. Wenn du Uni hast, kannst du dort sein. Also hier. Und wenn du das Gefühl hast, du brauchst einen geschützten Ort...nachts, abends, jederzeit; dann könntest du... Ich kann dich nicht alleine in dieser Welt lassen, wenn ich die Möglichkeit habe, dir zu helfen. Du brauchst dir keine Gedanken über mich zu machen. Das hier ist mein Angebot und ich kann dich einfach nur bitten, dich zu deinem Besten zu entscheiden. Ich weiß, die Welt ist nicht so schwarz und weiß, aber systemische Ungerechtigkeit existiert und- ich klinge so heuchlerisch. Das muss ich dir alles nicht erklären. Bitte denk wirklich über dieses Angebot nach, Harry. Du warst in meiner Wohnung. Wir könnten Platz finden. Es würde funktionieren. Wenn du das möchtest.«
Mögen. Was für ein Konzept. Louis sagte: ›Wohn bei mir.‹, Louis sagte: ›Triff eine Entscheidung allein nach deinen emotionalen Bedürfnissen.‹, Louis sagte: ›Du hast die Wahl.‹
Aber er verdächtigte nicht, dass ich nicht menschlich war. Ich war sicher. Alle waren sicher. Das Problem hatte sich gelöst – indem es seine Inexistenz bewiesen hatte. Louis glaubte mir, dass ich ohne Haus und Wohnung lebte, ohne meine irdische Zugehörigkeit anzuzweifeln, trotz aller Statistiken und Bedenken.
»Du kannst es auch ohne Verpflichtung ausprobieren.«, meldete Louis sich zurück. »Sowieso alles ohne Verpflichtungen natürlich! Aber du kannst gerne- Komm heute Abend, heute Nachmittag, komm zu mir. Nicht, dass es um mich gehen würde, aber ich würde dich gerne in Sicherheit wissen. In Geborgenheit. Ist das ein Menschenrecht? Naja. Harry, ich würde dir gerne gewähren, was die Gesellschaft dir verwehrt...weil ich kann und sollte und will. Bitte versuch es. Für dich. Ich bin dankbar dafür, dass du dich mir anvertraut hast und ich hätte dich nicht gehen lassen sollen. Ich verstehe, wenn du mir nicht vertrauen kannst. Aber ich werde nichts tun. Ungefragt. Ich hätte dich gerne bei mir. Lass mich helfen – auf die Weise, auf die ich es kann.«
Das Chaos war überwältigend. Aber es schützte uns. Louis sollte lieber an irdisches Chaos glauben, als verarbeiten zu müssen, dass es ein balanciertes Verhältnis zwischen Himmel und Erde gab. Zumindest laut Liam.
Louis glaubte die Lügen – und dafür hatte ich sie nicht mal aussprechen müssen. Sein Gehirn und die Geheimnisse des Systems hatten mir die komplizierteste Arbeit abgenommen.
Aber ich durfte nicht naiv genug sein, der Statistik zu vertrauen. Passivität stützte sich auf Glück. Und Glück war ein Faktor, von dessen Abhängigkeit ich mich weiter fern halten sollte als von vielen anderen.
Es gab Regeln. Wurden die Regeln befolgt, musste niemand sich der grausamen Willkür von Glück und Pech übergeben. Einfach. Regel Nummer 1: Immer alle Regeln befolgen.
Aber wie minimierte ich die Einflüsse von Pech und Glück am effektivsten? Wie konnte es so kompliziert sein, Schutzengel und Prinz zu sein? Was konnte ich tun?
Würde ich Louis' Angebot jetzt ablehnen, hätte ich das Problem neu erschaffen. Ich müsste vor der nächsten Begegnung wieder zittern – und die Weltengrenzen mit mir.
Aber Louis komplett auszuschließen, war keine Option. Das Gleichgewicht war zu fragil. Und Liam hatte recht; ich wurde unruhig, wenn ich Louis länger nicht sah. Vor allem, wenn wir unsicher auseinandergegangen waren. Trotz Warnung vor all den Risiken hatte ich eine Beziehung zu Louis aufgebaut – und jetzt würde ich die Konsequenzen tragen müssen.
Aber das konnte nicht bedeuten, dass die beste Lösung war, mit Louis zu wohnen.
Oder?
›Wohnen‹ war ein menschliches Konzept. Ich gehörte in den Himmel. Dort existierte ich. Und ich konnte auf der Erde verweilen – mittlerweile möglicherweise schon Stunden am Stück. Aber der Himmel war mein Zuhause. Das war nicht, was für Louis ›wohnen‹ bedeutete, aber es war eine Wahrheit meiner Realität.
Bei Louis zu wohnen, würde ein paar tägliche Stunden Erde bedeuten. Es würde bedeuten, dass ich herausfinden müsste, wie man sich wirklich verhielt, wenn man Kunst studierte. Und dass ein großer Teil meiner Zeit im Himmel mit Louis' Schlaf verschwimmen würde wie Wolken, die sich vor die Sonne schoben. Es würde bedeuten, dass ich Leeds kennen musste, ganz nach Liams Erwartung. Es würde bedeuten, dass ich Liam die Konsequenzen der Missachtung seiner Ratschläge ungeschönt präsentieren würde. Es wäre das Ende der Unsichtbarkeit.
Und es würde bedeuten, dass ich Louis wirklich kennenlernen würde. Dass ich ein guter Schutzengel wäre.
Konnte ich Louis' Angebot als Möglichkeit betrachten, Himmel und Erde, Kontrolle und Schutz, Engel und Louis fest zu koordinieren? Eine Chance, mir Halt zu geben? Ein paar Stunden auf der Erde, jeden Tag, hervorragendes Training, dann zurück in den Himmel? Ein Muster, Orientierung?
Balance?
Louis wollte mich nicht ansehen, als könnte das seine ausgesprochenen Worte modulieren. Sein Kehlkopf war weich. Er wollte helfen. Ich brauchte keinen Ort zum Wohnen oder Schlafen. Aber was, wenn er mir die Hilfe anbot, die das Universum verlangte? War ich fließend genug in der Sprache alles Großen, um die Zeichen richtig zu deuten?
Durfte ich überhaupt Nein sagen?
Es war mein Herz, das mich zum Prinz machte, und mein Herz, das mich an Louis band. Sie waren in mir, Himmel und Erde. Vielleicht wusste Louis als erstes, welche Antwort die richtige war.
Es war Mut oder Naivität oder wahrscheinlich existierte ein ›Oder‹ niemals wirklich – Ambivalenz war die Grundlage alles Existierenden. Aber ich blinzelte. Ich ließ Louis' Reize wieder in mir aufblühen. Ich nickte. »Ich möchte.« Und weil es ein Schritt in die neue Richtung und es Louis war, der vor mir saß, fügte ich hinzu: »Mögen. Was für ein Konzept.« Es war eine meiner ungefilterten Wahrheiten. Die ich eigentlich für mich behalten sollte. Aber vielleicht gab es einen Ort zwischen Louis' Unwissenheit und meinen vagen Geheimnissen, an dem ich ehrlich existieren konnte.
Louis' Augenbrauen hoben sich synchron. Er atmete aus, weil sein Zwerchfell es ihm wieder erlaubte. Erleichterung. »Konzept, ja. Ich weiß nicht, was- Danke, Harry, dass du mir die Chance gibst und dir die Chance gibst und, ich glaube, das ist das Richtige.«
Das Richtige. Die Hoffnung, dass ich mir seinen Dank verdienen würde, türmte sich in zentrale Säulen.
Flach fand Louis' Handfläche die Tischplatte neben uns. Kraftverlagerung und sein Schwerpunkt rollte nach oben, als er aufstand. Mein Blick folgte ihm, aber sein Gesicht knitterte. Er setzte sich wieder. »Ah, ich weiß nicht, was ich tue. Ich bin nervös. Ich will dich nicht nervös machen. Bitte werde nicht nervös. Doch, natürlich«, wieder rannen vier Finger durch seine gesunden Haare, »du hast ein Recht auf Nervosität. Sei nervös, wenn es das ist, was du fühlst. Was rede ich? Ich bin nervös, fuck.«
Mein Körper zuckte und es machte mir größere Angst als das Wort aus Louis' Mund. Muskeln sollten nicht auf meine Emotionen reagieren, das war es nicht, was sie taten. Und es gab nur eine Erklärung dafür.
Louis entging die Menschlichkeit nicht. »Fuck, das wollte ich nicht sa- oh nein. Tut mir leid, Harry! Du magst kein Fluchen. Oh Hilfe. Ich habe den Verstand verloren.«
Was konnte ich tun, um seine Stimme ungehört zu machen? Nichts. Nur auf den Rest eingehen. Ich sah ihn ernst an. »Du hast nicht den Verstand verloren.«
Er lachte, aber es war kein echtes Lachen. Dafür war es zu schrill und angespannt. »Du hast recht. Ich bin nur nervös. Wort des Tages. Emotion des Tages. Du hast Ja gesagt. Okay. Von vorne. Logistiken. Kann ich über Logistiken reden, Harry? Hat Logistik einen Plu- nicht wichtig. Kann ich über Logistik reden, Harry?«
Ich verstand ihn nicht. Aber ab jetzt würde ich täglich so viel Zeit mit ihm verbringen, dass ich es irgendwann tun würde. »Ich glaube, du kannst.«
Die Fliege erregte wieder meine Aufmerksamkeit, als sie die Luft hinter Louis' Kopf in verschiedenste Schwingungen versetzte. Ihr gestand Louis die Flügel zu, ohne seinen Herzschlag minimal zu beschleunigen – meine würde er niemals sehen dürfen. Ein Planet der Paradoxe. Moleküle nahmen nicht an Gewicht, aber Effekt zu. Ich brauchte den Himmel.
»Ich kann, ja, natürlich.«, redete Louis weiter. Würde er für den Rest seines Lebens Dinge zu sagen haben? »Also; Logistik. Nichts Spezifisches, weil... Ich möchte dich nicht überrumpeln und das ist jetzt alles nicht notwendig. Es ist auch nicht so, als hätte ich jedes Detail schon perfekt- Nochmal von vorne.« Becken und Oberschenkel balancierten sich neu aus. »Ich habe noch Kurse, ein bisschen länger heute leider. Anwesenheitspflicht und wenig Fehltermine; ich kann leider nicht- Du hast bestimmt auch noch Uni später, oder? Naja, ich würde vorschlagen, wir treffen uns an meiner Wohnung. Oder du kommst einfach, wenn du soweit bist und ich lasse dich rein. Aber ich kann nach MMM frühestens...ähm, ich denke, so 17 Uhr zuhause sein, das würde ich schaffen. Vorher nicht. Ab 17 Uhr könntest du da sein, okay? Einfach klingeln und ich...ich mache auf.« Mit einem ›Phhhhhhhhh‹ atmete er durch Schneidezähne und Lippen aus. »Ja, das hört sich gut an. Wow, das ist alles ein bisschen...es ist ungewohnt für mich, Harry. Es tut mir wirklich so leid, wenn ich mich dumm benehme. Ich bin wirklich nervös, aber ich gebe mir Mühe, und ich weiß, ich bin nicht derjenige von uns, der es hier schwer hat- es geht nicht um mich. Du kannst heute ab 17 Uhr da sein. Es wird nicht perfekt sein, aber ich glaube, dass das wird. Ich bin mir sicher. Das wird. Wir kriegen das hin. Nicht, dass du irgendwas machen müsstest! Mach dir keine Sorgen. Ab 17 Uhr. Bei mir. Oder später, wie es dir passt. Ja? Einfach klingeln.«
»Ja.«, bestätigte ich den kleinen Teil an Information, den ich begriffen hatte. Ab 17 Uhr bei Louis' Wohnung. Ein Termin auf der Erde, mein zweiter nach Halloween – dieser hier würde besser ausgehen müssen. Ein zweites Halloween konnte weder ich noch jemand anderes sich leisten. An Halloween war mein Körper mir entflohen und was Louis gesehen hatte, war mein Zwang zurück zur Erde gewesen. In der Korrektur meines Fehlers war mir der nächste unterlaufen und was Louis gehört hatte, war mein erneuter Zwang zur Erde gewesen. Was ich ihm jetzt versicherte – Zeit, Zuwendung – um meinen Fehler zu korrigieren, musste funktionieren. Es musste. Was wäre sonst meine nächste leichtsinnige Maßnahme? Mehr würde ich ihm nicht geben dürfen. Es musste funktionieren. Harry, der Kunststudent ohne Wohnung. In Louis' Wohnung.
»Gut.« Louis lächelte, aber noch immer nicht ohne Anspannung. Sein Lächeln fiel wieder. »Und noch eine Frage, Harry.« Er blinzelte, weil er es nie hatte lernen müssen. »Hast du Redebedarf? Möchtest du über irgendwas sprechen? Mir erzählen, was oder wieso oder...wie? Du musst nicht, natürlich nicht. Aber würde es dir irgendwie helfen? Du kannst mir alles erzählen, immer. Jetzt? Willst du etwas mit mir teilen? Ich höre zu.«
Seine Lippen anzustarren, half nicht. »Das war mehr als eine Frage.«
Louis öffnete den Mund, aber ich zuckte als erstes zusammen, als plötzlich schwere Wassertropfen gegen die drei breiten Fenster prasselten. Wir drehten unsere Köpfe. Der Regen wollte Krater schlagen, aber scheiterte in Flüssen wie Tränen. So laute Geräusche dank ein bisschen Schwerkraft. Leben auf der Erde.
»Erst der Wind, dann der Regen.«, sagte Louis. Ich lächelte über die Rekonstruktion. Und atmete ihm wieder ins Gesicht. »Ja, viele Fragen. Beschränkt; Hast du Redebedarf? Ich habe gerade wirklich ein bisschen aggressiv geklungen. Das wollte ich nicht.«
Natürlich hatte ich Redebedarf. Ich wollte Louis so viele Dinge erklären, alles, die Wahrheit. Aber dadurch schirmte ihn meine Existenz ab wie ein permanenter Schatten. So würde es nicht funktionieren. »Ich habe keinen Redebedarf.« Meine Zunge litt, aber ich durfte die Lüge nicht einmal bereuen.
»Alles klar.«, sagte er sanft. »Und ich will nicht aufdringlich sein, aber wenn das jemals anders sein sollte, dann höre ich zu.«
Zeit war nicht der Faktor, den er sich erhoffte. Sie lag schwer auf meinen Schultern und ohne tatsächliches Gewicht schwerer auf seinen. Bevor die Lasten mein Bewusstsein wirklich benebeln konnten und ich den nächsten Fehler begehen konnte, sollte ich eingreifen. Ich hatte mich innerhalb der letzten Stunde dreimal de- und wieder materlialisiert. Auch meine Atome verziehen nicht unendlich viel.
»Louis, ich muss dich verlassen. Jetzt. Ich werde dich heute Abend sehen. Und du wirst mich sehen können.«
Louis nickte, aber die Haut unter seinen Augen zuckte über den Fragen seiner Muskeln. »Ja. Okay.« Sein Lieblingswort. »Danke, Harry.« Er stand auf. Ich tat es ihm gleich. »Dann lass uns gehen.«
Ich gewährte seinem Imperativ, indem ich meine Beine in Bewegung setzte. Sie waren langsamer und ungelenker, als wäre mein Körperschwerpunkt bis in meine Waden gewandert. Ich hatte mich dem Boden nie näher gefühlt. Dabei mussten wir auch noch 16 Stufen hinabsteigen.
Louis wies den Weg, vielleicht weil er schneller war. Die Strecke wäre mir gelungen. Und wieder war Louis still. Hatte er sich verändert oder war es das Maß meiner Fehler? Die Decke über unseren Köpfen war weiß und die Luftströme in Louis' Nase zirkulierten gleichmäßig. Wie wäre es, beides zu sein; Wahrnehmung materieller Sinneszellen und Macht abstrakter Elemente?
Ich ließ Louis den Vorsprung und schummelte bei den letzten Stufen. Es schien unmöglich, dass Louis nicht nur nicht müde, sondern sogar immer noch überdurchschnittlich adrenalisiert war. Fairness nahm sich aus, wenn die Wahrnehmung nur in eine Richtung der inexistenten Skala funktionierte.
An der großen Tür holte ich wieder auf. Louis ließ mich. Und öffnete die Tür. Nasser Wind schlug uns entgegen. Ich war vorbereitet. Louis nicht. Er atmete eine panische Menge an Sauerstoff ein und trat zwei Schritte zurück.
»Wow. Ganz vergessen.«, bemerkte er und zog sich Stoff seiner Jacke vom Nacken aus über den Kopf. Es würde seine Haare schützen, aber unmöglich sein Gesicht. Was war an den toten Zellen so schützenswert? Er warf mir einen Blick zu. »Harry.«, sagte er, als wäre ich nicht seit Minuten in seiner Gesellschaft. »Du hast...ich habe leider keinen Regenschirm mit.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte oder wieso er mir das erzählte. Also lächelte ich einfach in der Hoffnung, dass Louis mich so alleine lassen würde. Ich musste in den Himmel.
»Möchtest du kurz warten? Vielleicht ist es gleich besser. Ich weiß ja nicht, wann du- Hast du jetzt einen Kurs?«
Einen Kurs? Nord-Nord-West direkt in den Himmel. Natürlich nicht. Warten wollte ich allerdings. Aber ohne Louis. »Du kannst gehen. Ich warte.«
»Ich warte mit dir.«, widersprach er sofort. Seine Jacke raschelte, als er den Blick vom Regen riss und mir zuwandte.
»Nein, Louis.« Dieses Mal schüttelte ich den Kopf. Wenn er schon die Worte seiner Sprache ignorierte, half das vielleicht. »Bitte geh. Ich möchte bleiben. Alleine.«
Es war zögerlich und suchend, aber er nickte. »Okay. Ja. Tut mir leid.« Er richtete den Stoff über seinem Kopf. »Gut. Du bleibst. Wir sehen uns ja.« Er ersetzte den Fuß zum Halten der Tür mit seinen Fingern. Seine Augen sahen größer aus, wenn Haare und Hals nicht mehr sichtbar waren. »Ich kann nichts mehr für dich tun?«
Nichts, außer zu gehen. »Nein.«
Wieder nickte er. Seinen Beutel drückte er schützend an sich. »Gut. Ich hoffe, du kommst trocken hier weg nachher. Danke, Harry. Für heute Abend. Und die Ehrlichkeit.«
Das Universum war selten ironisch. Dafür zynisch. Ich erzwang ein weiteres Lächeln und das Blähen meiner Lungenflügel. Wieder gab es nichts für mich zu sagen.
»Tschüss, Harry.«, sagte Louis endlich. »Hab einen guten Tag.«
Er trat einen Schritt nach hinten, hinaus in den Regen. Wie auf Lotus explodierten die Tropfen gnadenlos über seinem Kopf, vereinten sich neu. Ich öffnete den Mund, auch wenn ich wusste, dass Louis mich nicht klar hören würde. »Tschüss, Louis.«
Er hob eine Hand, meine wirkte tonnenschwer. Dann wandte er sich ab. Sein Rücken war ein Wasserfall. Ich stolperte zurück weiter und weiter hinein ins Haus. Ich hatte nicht die Zeit, Louis im Regen verschwinden zu sehen.
✩
Es regnete nicht mehr, als ich zur Erde zurückkehrte. Nach 17 Uhr, wie Louis gesagt hatte. Auch der Wind hatte nachgelassen, er war jetzt sanft und stumm, wie Louis nach seiner Geburt. Bevor er seine Stimme zum ersten Mal in meiner Gegenwart erhoben hatte.
Das Haus war so hoch und mächtig wie die letzten beiden Male. Louis' Präsenz waberte warm über mir. Ich stand vor einem Rätsel.
Ich hatte Louis' Haus nur einmal betreten und dabei hatte er die große Tür zur sauerstoffarmen Innenwelt mit einem Schlüssel geöffnet. Ich hatte aber keinen Schlüssel. Und ich wusste, was Louis gesagt hatte. ›Einfach klingeln.‹ Aber es gab auch keine Glocke – oder irgendwelche anderen metallischen oder gläsernen Hilfsmittel, mit denen ich ein klingelndes Geräusch hätte erzeugen können. Ich konnte ihn nicht auf die erforderte Weise erreichen. Alles, was das Haus mir bot, waren Steine über Steine über Steine, eine Platte gesprenkelt mit untereinandergereihten Wörtern und die große, schlanke Tür mit Knauf und Schlüsselloch. Versuchsweise drückte ich gegen den Knauf. Das Opfer des Metalles gegen meine Haut zahlte sich aus. Die Tür schwang auf, konnte nie richtig zu gewesen sein. Ich trat über die Türschwelle. Es fühlte sich an wie ein Sieg.
Im Haus war es dunkel. Die scheinbare Lichtmagie von Louis' Fingern hinter meinem Rücken hatte ich noch nicht vergessen, aber ohne ihn traute ich mich keine Wagnisse. Ich erinnerte mich ebenso an den Aufbau des Hauses. Die Eingangstür fiel zu und das Geräusch verriet mir, dass die nächste Person ohne Schlüssel nicht hineinkommen würde.
Nicht allzu unsicher fand ich in der schweren Dunkelheit die Treppe. Stufe nach Stufe nach Stufe nach Stufe, bis meine Beine den Abstand verstanden hatten. Die erste Drehung war holprig, die zweite schon besser.
Mein Innenohr weigerte sich, mir Sicherheit in der Tür zu geben, die Louis' Wohnung offenbarte. Es war ein hoffnungsvoller Versuch, als ich eine Stelle fand, der ich am meisten Erfolg zurechnete. Ich hob den linken Arm, schwer von dem erdenlastigen Tag, und meine Knöchel trafen das Holz der Tür.
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Begleichung zweier Schulden:
1. Ich (und ihr?) schulde Livingforfandoms ein immer währendes Dankeschön für mehr als das, aber in diesem Kapitel spezifisch nützlichste grammatikalische Hilfe, was diese Sprache angeht, die kein Labyrinth sein sollte, aber es immer bleiben wird. Dankeschön, das Kapitel ist Deines, bis du es nicht mehr haben willst (beispielsweise wegen der wahrscheinlich unglaublich vielen anderen Grammatikfehler, die ich noch drin habe). Danke :)
2. Ich schulde ebenso eine Entschuldigung an Livingforfandoms für egozentrische öffentliche Danksagungen unter einem Kapitel, das eine große Herausforderung für mich war, offensichtlich, und unter weit mehr als Grammatikfehlern leidet. Ich hoffe, die offizielle Assoziation kränkt dich nicht. Ich habe dir immerhin vorenthalten, welchem größeren Chaos du deine Intelligenz zuschreiben würdest. Verzeih mir.
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