𝐗𝐕𝐈

𝐋 ⋆

»Wenn ich das nicht mal ›typisch Louis‹ nennen würde...«

Ich öffnete die Augen. Die schwindende Schwärze färbte die weiße Decke grau. »Was?«, fragend blinzelte ich zu Zayn hinüber. Sein Blick auf die Decke war keiner; ein aufgeschlagenes Buch lag über seinem Gesicht.

Um Millimeter schob sich der Buchrücken höher nach oben. Eindeutiges Grinsen. »Dass du mit der tollen Auswahl an Kaffee für das Café wirbst und dann Tee trinkst. Typisch Louis. Kein Wunder, dass Harry nichts getrunken hat. Vermutlich ist sein Geschmack einfach nur besser als deiner und er wollte Kaffee. Aber du hast ihn mit deinem Ekel-Tee verschreckt.«

Empört stützte ich mich auf meinen Ellenbogen. Meine Matratze war nicht allzu weich, sie gab kaum unter dem Gewicht nach. »Wieso tust du jetzt so, Z? Du magst Tee!«

»Ja.« Seine Stimme war gedämpft von dem Papier, gegen das er sprach. »Aber nicht mehr als Kaffee. Und ich würde es Harry nicht verübeln, wenn er Tee gar nicht ausstehen kann.«

»Er hat schon abgelehnt, bevor er überhaupt wusste, was ich trinke! Deine Theorie ergibt also absolut keinen Sinn.«, stellte ich – zugegeben etwas trotzig – klar.

»Mhm.«, brummte Zayn in einer hübsch ironischen Tonlage, obwohl er natürlich wusste, dass ich Recht hatte. »Aber mal im Ernst, Lou«, endlich nahm er das Buch doch von seinem Gesicht. ›Civilisations and Its Discontents‹. Ihh. »Denkst du, Harry hasst dich insgeheim? Ist er so verwirrend oder bist du nur verwirrt? Lässt du dich verwirren?«

Ich zuckte unbeholfen mit den Schultern und mein Arm unter mir knickte weg. Mit dumpfem Knall landete mein Kopf zurück auf dem Kissen. »Das ist das Problem; ich weiß es nicht.«

Ich musste Zayn nicht ansehen, um zu wissen, dass ihn diese Antwort nicht befriedigte. Mich befriedigte sie ja auch nicht. »Okay. Aber...wenn du ganz tief in dich hineinhörst-«

»Du hörst dich an wie meine Mum.«

»Wenn du ganz tief in dich hineinhörst«, wiederholte er überspitzt, aber trotzdem in vollem Ernst der Intention, »zu welchem Schluss kommst du dann? Zu welchem Gefühl? Was möchte Harry?«

Zischend ließ ich warme Luft langsam zwischen meinen zusammengepressten Lippen herausströmen. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich denke...ich weiß nicht. Es ist so schwer, ihn einzuschätzen. Die meiste Zeit glaube ich schon, dass er das mit dem Kennenlernen ernst meint. Dass er es wirklich will. Aber...keine Ahnung, nichts passiert. Er redet und lächelt, aber vor allem schweigt er. Schweigen ist so viel schwerer zu deuten.«

»Hmmm.«, summte Zayn nachdenklich. Ich schloss wieder die Augen. »Schweigt er, weil er dir zuhört? Oder weil er nichts zu sagen hat?«

Kannte ich die Antwort auf diese Frage? »Er hört mir viel zu, glaube ich. Oder zumindest tut er so, als würden die Sachen, die ich erzähle, ihn interessieren. Ehrlich gesagt rede ich sehr viel um Harry herum. Mehr als in vielen anderen Situationen.«

»Weil du kompensierst? Oder weil du dich wohl fühlst?«

Ich versuchte, mich in Harrys Gegenwart zurückzuversetzen. Harry direkt neben mir auf einer Bank, gegenüber im Café, Schulter an Schulter im Seminarraum, barfuß im Wind der Bushaltestelle. Der Blick grüngesprenkelter Augen auf dem Rücken meiner Nase. »Beides. Ich versuche, sein Schweigen zu kompensieren. Manchmal, aber manchmal auch nicht. Ich fühle mich auch wohl..? Nicht immer, aber viel, denke ich. Er ist ruhig.«

Meine Stimme verlor sich in Zayns ausbleibender Antwort. Er dachte nach, das wusste ich. Er hatte dieselben fehlerhaften Angewohnheiten wie ich, auch das war mir bewusst. Aber weder Harry noch ich waren zu analysierende Charaktere aus einer hübschen Geschichte mit festgelegten Enden und netzsicherer Vergangenheit. Aktion, Reaktion. Niemand, der die Strippen zog.

»Also...denkst du«, meldete Zayn sich schließlich doch zurück, »dass er die Sachen spielt? Oder wirklich so empfindet? Sind die Dinge, die du ihm erzählst, interessant für ihn? Findet er Stille angenehm?«

Mir entwich ein leises Lachen, rau im Hals. »Ich wünschte, du würdest ihn kennen, Zayn! Du musst einfach nur sein Gesicht sehen, dann... Alles, was er macht, wirkt echt. Er hat ein Gesicht zum Vertrauen. Das Wort sollte ich nicht benutzen, aber weißt du, wie er aussieht? Unschuldig. Alles an ihm kommt mir echt vor, aber das kann es nicht sein. Denn auch seine Ironie erkenne ich nicht. Ich kann ihn einfach nicht lesen!«

»Kritische Aussage als Literaturstudent.«

»Fuck, ich weiß!« Kraftlos schlug ich mir die Hände vors Gesicht, dabei waren meine Augen nicht mal geöffnet. Ich seufzte. »Das macht mich alles verrückt.«

Blind tröstend suchte Zayns Hand nach mir. Eher unsanft tätschelte er meinen Hüftknochen. »Eine Frage hätte ich noch.«, erklärte er leise und stellte die Trost spendende Geste ein. Er wartete auf meine Erlaubnis.

»Ja?«, gab ich sie ihm also.

»Ich stelle die Frage ohne Urteil, okay, Louis? Keine Wertung. Verstanden?«

»Ja.«

Zayn schwieg noch kurz, formulierte in seinem Kopf. Ich hörte ihn atmen. »Der soziale Kontakt ›Harry‹ hört sich ein bisschen holprig an.«, begann Zayn. »Deswegen will ich wissen – keine Wertung! – warum du so investiert bist? Magst du ihn? Seine Art? Oder bleibst du dran, weil er gut aussieht? Wofür? Sein Aussehen, das dir den Kopf ein bisschen verdreht hat? Oder die Gespräche?«

Ich rollte mich auf die Seite. Als würden sie durch die Schwerkraft und nicht meine Muskeln kontrolliert werden, fielen meine Arme vor mir ins Kissen. Ich öffnete die Augen, aber Zayn lag noch immer auf dem Rücken, Decke im Visier. »Ich weiß es nicht.«, wiederholte ich missmutig zum zu häufigsten Mal. »Wie gesagt; du müsstest ihn sehen. Dann würdest du es verstehen, glaube ich. Sein Aussehen ist definitiv ein Faktor. Man kann ihn nicht nicht ansehen. Aber ich glaube, es geht nicht einzig und allein um das Visuelle. Er ist ein wenig...seltsam, ja. Ungewöhnlich. Und manchmal ist das ein bisschen unangenehm. Aber oft ist es, ich weiß nicht, ähm, verlockend..?« Ich bemühte mich, die Mimik von Zayns Profil im Blick zu behalten. »Es ergibt keinen Sinn. Ich verstehe ihn nicht. Aber er redet, und ich will mehr.«

Zayn lächelte. »Süß. Ich bin gespannt, was passiert.«

»Ich auch.«, gab ich zu.

»Bring ihn doch mal mit, mittwochs! Ich kann Niall einladen, falls es das unkomplizierter macht.«

Der harte Buchrücken von Zayns Lektüre stoch unangenehm in meine Schläfe. »Er ist nicht mein Date. Wir haben ungefähr dreimal miteinander geredet.«

»Ihr wart heute im Café! Und außerdem will er Leute kennenlernen. Niall und ich sind Leute!«

Ich zuckte mit den Schultern, so gut das auf der Seite liegend ging. »Ich bin nicht sicher, ob es das besser machen würde.«

Jetzt drehte Zayn sich auch auf die Seite. Sein verständnisvolles Lächeln spiegelte sich zu einem Ganzen. »Vielleicht werden wir es ja mal herausfinden.«

»Er ist zweiundzwanzig, Zayn.«

Zayn lachte überrascht. »Zweiundzwanzig? Perfekt!«

Ich nickte, denn er hatte Recht. Zweiundzwanzig war perfekt. Ein bisschen älter als ich. Vielleicht war Harry sein Alter unangenehm und deswegen hatte er die Frage so stockend beantwortet. Immerhin sah er wirklich eher jünger-

»Warte!« Aufgeregt stützte ich mich wieder auf meinen Unterarm.

»Was?«, fragte Zayn grinsend.

»Er weiß nicht, wie alt ich bin!«

Zayn grinste noch immer, stirnrunzelnd. »Dann sag's ihm.«

»Nein! Das meine ich nicht! Ich habe ihn nach seinem Alter gefragt und er hat es nach meinem definiert. Dabei wusste er nicht, wie alt ich bin!« Meine Gedanken überschlugen sich, ich verstand nichts. »Er wusste nicht, wie alt ich bin, aber er hat gesagt, dass er älter als ich ist.«

»Dann wusste er doch, wie alt du bist.«, stellte Zayn amüsiert fest. »Vielleicht hat er dich vorher ein bisschen gestalkt. Auf deinen zahlreichen Social-Media-Profilen zum Beispiel.«

Demonstrativ verdrehte ich die Augen. Ich hatte kein einziges Social-Media-Profil. Es sei denn, Harry hatte meinen antiken Instagramaccount gefunden, auf dem ich mit 14 versucht hatte, einen erfolgreichen Bücherclub zu gründen. b00kc!ub_91. Eher unwahrscheinlich.

Und, ach ja; Harry besaß nicht mal ein Handy. Wohl nicht der Typ für Cyberstalking.

»Vielleicht habe ich es auch mal erwähnt. Beim ersten Treffen bestimmt. Keine Ahnung. Es wird- Au!« Ich hatte mich wieder in das Kissen fallen lassen, aber war dieses Mal hart auf der Kante von Zayns Buch gelandet. »Aua.« Ich warf das Buch in Richtung Fußende. Es landete irgendwo zwischen Zayns und meinen Schienbeinen. »Wieso müsst ihr überhaupt Freud lesen? So ein Verbrechen.«

Schadenfroh zog Zayn eine Augenbraue hoch. »Damit wir ihn widerlegen können.« Er verdrehte die Augen. »Aber fang bloß nicht damit an. Ich könnte auch durchdrehen.«

Ich nickte grimmig. »So ein Arschloch.«

»Manchmal habe ich das Bedürfnis, laut zu schreien, wenn ich seine Thesen lese.«

»So ein Arschloch.«, wiederholte ich wahrheitsgemäß.

»Ja!«, sagte Zayn so laut, dass ein warmer Luftschwall mein Gesicht traf. »Ich will nicht mit meiner Mutter schlafen! Sehe ich so aus? Und ich will auch nicht meinen Vater umbringen! Geht's noch? Ich hasse es, wenn Narzissten von sich selbst auf die gesamte Welt schließen! Und dann auch noch wie wissenschaftliche Götter behandelt werden!« Zayn redete sich in Rage. Ich wollte ihn auf die Nase küssen, nur um ihn zu ärgern. Stattdessen lehnte ich mich die wenigen Zentimeter vor und verpasste ihm eine sanfte Kopfnuss mit meiner Stirn.

»Hey.«, sagte Zayn sanft. »Auf dich trifft zumindest die halbe These zu, nicht wahr? Du würdest deinen Vater schon gerne umbringen, oder?« Der Anflug eines Grinsens zuckte in seinen Augenwinkeln. Es war verrückt, dass seine Mimik mir so vertraut wie sein Geruch war.

»Zayn, du bist der Schlimmste.«

»Nicht schlimmer als Freud!«

»Nein. Aber ich will meinen Dad nicht umbringen...« Ich presste die Lippen aufeinander. »Nur manchmal vielleicht.«

»Der werte Herr Doktor würde dir dafür auf die Schulter klopfen.«, erklärte Zayn anerkennend.

»Der werte Herr Doktor hat als Kind ein wenig zu oft Sophokles vorgelesen bekommen.«

Zayn nickte ernst, unsere Exmatrikulation rückte mit jedem Wort näher. Natürlich würden wir es nicht verdienen. »Was denkst du, haben seine Eltern zu den Hypothesen gesagt?«, fragte Zayn mit ehrlicher Neugier. Als hätte ich das beantworten können.

»Sie werden geweint haben.«

»Um diejenigen, die ihn im Englische-Literatur-und-Geschichte-Studium hundert Jahre später lesen müssen?«, fragte Zayn selbstmitleidig.

»Ja, genau die.«, bestätigte ich. »Sexistisches Arschloch.«

Und wieder lachte Zayn. So viel Lachen heute. »Du gibst mir gerade so viel gutes Material für meine Hausarbeit zu dem Thema.«

»Mhm.«, lächelte ich zufrieden. »Ich bin eben genial.«

»Zweifellos.« Mit wackelnden Fingern angelte Zayn nach dem dünnen Buch. Als er es zu greifen bekam, hielt er es triumphierend hoch. »Da ist es! So, Louis. Wir müssen los. Ich weiß nicht genau, wie spät es ist, aber wahrscheinlich sind wir schon zu spät. Die anderen sollen nicht auf uns warten müssen.«

Nur ein ganz bisschen widerwillig hievte ich mein Gewicht ins Sitzen. »Und wir wollen doch gute Teampartner sein.«

»Natürlich.«, versicherte Zayn und stützte sich dynamischer als ich auf. Die wenig abgegriffene Freud-Ausgabe presste er auch im Stehen noch so dicht an seinen Oberkörper, als wäre sein Leben von den durchscheinbaren Seiten abhängig. Dabei würden wir jetzt die nächsten zwei Stunden damit verbringen, ›Angels in America‹ mit unserer Gruppe zu diskutieren. Es war mein erster richtiger Tagespunkt – wenn man davon absah, dass Zayn und ich uns bei mir getroffen hatten, um unsere Fahrt nach Leeds übermorgen zu organisieren...und nur auf dem Bett rumgelegen hatten. Aber danach folgten noch ein paar weitere Tagespunkte. Nicht der entspannteste Freitag.

Ich musste nicht viel zusammensammeln. Mein Rucksack war leicht, das gab mir Mut. Ich lehnte an der Wand, als ich auf Zayn und seine Schuhe wartete. Mit seinen weinroten Docs brauchte er zum Schnüren ungefähr zwanzigmal so lange wie ich.

Ich räusperte mich leise. »Um nochmal auf eben zurüclzukommen«, setzte ich an und wartete darauf, dass Zayn zu mir aufsah. Aber sein Blick war auf die Kunst seiner Finger fixiert. »Ich will meinen Vater nicht umbringen. Wirklich nicht.«

Zayn nickte, natürlich. »Ich weiß.«, sagte er ruhig. Dann zwinkerte er mir zu. »Du wartest lieber auf die Revolution, nicht wahr?«

Ungläubig schüttelte ich den Kopf. »Ja.« Ich würde Zayn niemals verlieren dürfen. »Nieder mit dem Kapitalismus.«

Zayn grinste, stand wieder zu voller Größe auf. Geübt knöpfte er seinen Mantel zu. »Dann tut jemand anderes es für dich.«

Ich nickte; ein Abnicken seines Kommentars, der Füllung meines Rucksacks, meiner Wohnung, unseres Aufbruchs. »Wie praktisch.«

Keine halbe Minute später war die Tür zu und wir auf dem Weg zum Campus.

Sein Gesicht zu sehen, war wie das Erinnern an einen Traum, den man eigentlich vergessen hatte. Wenn man im warmen Schleier des Vergessens aufwachte und ein paar Stunden später, ausgelöst durch eine Bewegung oder ein Wort oder nichts, erschlagen wurde von der Erinnerung. Mitsamt all der Atmosphäre und Farbe des Traumes, für ein paar Sekunden real in der wachen Welt. So war es, Harrys Gesicht über dem spitzenbesetzten Kragen seines Kleides inmitten des Samuel-Alexander-Buildings zu sehen, nachdem ich Zayn vor ein paar Stunden einfach nicht hatte erklären können, was diese Gesamtkomposition von Haut und Knochen und Augen und Lippen und Haaren für eine Kraft hatte.

Fast hätte ich gelacht. Das Schicksal schien sich dagegen zu sträuben, Zayn und Harry einander begegnen zu lassen.
Aber vielleicht hatte mein bester Freund recht; vielleicht müsste ich in dieser Situation die Rolle des Schicksals übernehmen.

»Harry!« Nicht, dass ich ihn hätte rufen müssen. Sein Blick lag bereits geduldig auf mir. Er saß mit geradem Rücken und im Schoß gefalteten Händen auf einer Bank schräg gegenüber dem Hörsaal. Natürlich steuerte ich auf ihn zu.

»Hallo Louis.«, lächelte er. Ob er ein anderes Kleidungsstück besaß oder nur dasselbe Kleid in mehrfacher Ausführung? Minimalismus und uniforme Kleidung auf einem neuen Höhepunkt. Gekoppelt mit Gesellschaftskritik wahrscheinlich. Ich sollte mich mit ihm darüber unterhalten, es war ein interessantes Thema.

»Hi.« Fast ohne zu zögern, rutschte ich neben ihm auf die Bank. Das Gespräch mit Zayn schien mir Kraft zu geben. »Hast du gewartet?«, fragte ich so neutral wie möglich, aber vermutlich war es nicht schwer, meine Neugier herauszuhören.

»Ja.«, bestätigte Harry zufrieden. Von der Seite brachen seine Locken noch mehr Regeln. Ich konnte nicht anders, als an die Sache mit dem Alter zu denken. Harry wusste, wie alt ich war, Harry wusste, wie und wann ich meine Vorlesungen hatte.

»Harry..?«, erkundigte ich mich vorsichtig. »Du wusstest, wo ich meinen Kurs habe?«

»Ich wusste, dass du in dem Raum bist.« Er streckte einen Fuß aus. Ich spürte meine Augen groß werden, als er mit einem Zeh in Richtung der halboffenen Hörsaalstür deutete.

»Du«, zwang ich mich zu sagen – und den Blick abzuwenden, »hast mich reingehen sehen?«

Er neigte seinen Kopf leicht zur Seite, nickte dann. »Ja.«

»Okay! Super.« Ich war nicht erleichtert, aber...vielleicht doch. Er hatte mich gesehen und deswegen gewusst, wo ich war. »Moment. Das heißt, du hast sechzig Minuten lang auf mich gewartet?«

Die grünen Augen verengten sich zu Schlitzen – wieso? und er nickte wieder. Und wahrscheinlich waren genau das die Zeichen, gegen deren Anerkennung ich mich bisher gesträubt hatte. Harry wartete 60 Minuten alleine auf einer Bank, nur um mich abzupassen? Er platzte in meinen Shakespeare-Kurs, damit er sich neben mich setzen konnte? Solange ich mir ausredete, dass das schon an gruselig grenzte, sollte ich mich davon überzeugen können, dass er meine Gesellschaft genoss.

»Wie geht es dir, Harry?«, fragte ich in der Hoffnung, so die Skepsis von seinem Gesicht zu wischen.

Und es funktionierte. »Gut!«, versicherte er strahlend. »Ich war in Cornwall. Wie geht es dir, Louis?«

»Warte.« Ich hob alarmiert eine Hand. »Du warst in Cornwall?«

»Ja.«

»Ehrlich?« Ich versuchte, mich an die genaue Wortwahl von gestern zu erinnern. Hatte ich so überzeugend geklungen? »Wow. Wann?«

»Heute.« Er lächelte mühelos.

»Was?« Log er? Woran konnte ich seine Lügen erkennen? Wo war die Anleitung für diesen Jungen? »Ehrlich?!«

»Ja!«, versicherte Harry mit mehr Nachdruck. »Du hast davon erzählt. Cornwall; dort wo deine Familie gelebt hat.«

»Hey, wow.« Es gab nicht viele passendere Wörter. »Cool..? Wie hat es dir gefallen?«

»Gut!« Harry drehte sich mir ein Stückchen weiter zu. »Sie hatten ein sehr schönes Haus.«

»Sie- was?« Meine Familie? »Du meinst- oh. Haha.« Es war ein Scherz, natürlich, und wieder hatte ich den Absprung verpasst. Wieso passierte mir das bei Harrys Humor so oft? Ich lieferte ihm doch die Vorlagen dafür. Es half nicht, dass er niemand war, der über seine eigenen Witze lachte. Den Rest seiner Persönlichkeit in Betracht gezogen, hätte ich ihn eigentlich als so einen Menschen eingeschätzt. Glockenhelles Kichern, bevor er die Pointe überhaupt über die Lippen gebracht hatte. Aber nein. Harry lieferte Humor trocken ab.

»Heißt das, du hast freitags keine Veranstaltungen? Vormittags? Den ganzen Tag?«, erkundigte ich mich weiter. Wieso war ich nicht spontan genug, mich morgens in einen Bus an einen Ort zu setzen, der mir in zwei Sätzen empfohlen worden war?

»Nein. Wir hatten Zeit.«

»Wir?«, fragte ich mit deutlich zu viel Neugier in der Stimme. Ich zwang mich zu einem höflichen Lächeln. In all unseren bisherigen Gesprächen hatte es sich für mich nicht so angehört, als hätte er hier in Manchester eine Person, mit der er ungeplante Tagesausflüge machen würde.

»Liam und ich.«

»Liam?« Ich hatte den Namen schon mal aus Harrys Mund gehört. Oder?

»Ja, mein M-«

»Mentor!«, fiel es mir wieder ein. »Dein Mentor! Tut mir leid, ich wollte dich nicht unterbrechen. Ich war nur kurz stolz, dass ich mich erinnern konnte. Ich vergesse manchmal, dass du ein Genie bist. Stipendiat; wow.« Zur Demonstration meiner Anerkennung schob ich meine Unterlippe leicht vor und nickte langsam. ›Wow‹ sollte für den Rest des Tages aus meinem Wortschatz gelöscht werden. »Ich habe dich schon gefragt, ob du Niall Horan kennst, oder?«

»Ja.«, bestätigte er und vor meinem inneren Auge wandte ich ihm den Rücken zu, um eine Säule anzustarren. »Ich kenne ihn nicht. Noch nicht. Wenn du willst, kann ich-«

»Nein, nicht so wichtig. Tut mir leid. Das heißt dann bestimmt, dass du nicht in St. Anselm's Hall wohnst, nicht wahr?«

Harry blinzelte, es fiel mir auf. Ich blinzelte auch. Er hatte hübsche Wimpern. Ich auch. Obwohl ich mein Leben in Zayns Schatten verbracht hatte, wusste ich das. »Nein. Dort wohne ich nicht.«

»Apropos wohnen«, motivierte ich meine Zunge, sich schneller als meine Unsicherheiten zu bewegen. »Ich habe eine Frage, aber bitte sag Nein, wenn du nicht magst Harry, oder keine Zeit hast! Kein Druck. Wirklich. Okay?«

»Ja.« Harry nickte geduldig. Mein Mund kribbelte. »Was ist die Frage, Louis?«

»Ähm«, oh wunderschönes Parkett, »Hättest du vielleicht Lust, mit zu mir zu kommen? Also meiner Wohnung. Für eine Weile? Wir könnten Tee trinken. Oder Kaffee! Was du lieber magst. Einfach ein bisschen...quatschen? Wenn du Lust hast.« Erleichtert atmete ich gezogen aus. Sehr mutig. War gar nicht so schlimm.

Und zum Glück strahlte Harry wieder. »Ich würde gerne mit zu deiner Wohnung gehen, Louis!«

Ich musste sanft lachen, das hatte Erleichterung so an sich. »Super! Ich meine, ich freue mich. Du bist durch mit deinen Kursen heute? Ach nein, du hast ja keine! Darum beneide ich dich wirklich. Wahrscheinlich habt ihr viel Zeit zum Selbststudium und so, oder? Zum Erschaffen und kreativ sein?« Ich stand auf, um uns den ersten Schritt zu erlauben. Und vielleicht, weil ich Angst hatte, dass er seine Meinung sonst wieder ändern würde.

Glücklicherweise kopierte er meine Bewegung und ich drehte mich in Richtung der Treppen. »Das waren viele Fragen auf einmal.«, stellte Harry hörbar überfordert fest. »Ich weiß nicht, ob ich sie alle beantworten kann.«

»Nicht schlimm.«, konnte ich ihm sorglos versichern. »War nicht so wichtig. Bist du bereit? Du hast keine Jacke, nehme ich an?«

»Ich bin bereit. Und ich habe keine Jacke.«, bestätigte er und erklomm in mühelosen Schritten die Treppe.

»Na dann.« Ich zog den langen Reißverschluss bis zu meinem Hals hinauf. »Also; es gibt zwei Möglichkeiten. Die erste- warte. Es sei denn, du bist mit dem Fahrrad hier..?«

Wie erwartet schüttelte Harry den Kopf.

»Nein? Das dachte ich auch. Also, dann gibt es zwei Möglichkeiten. Wir könnten laufen. Es ist nicht weit. Sollten nicht mehr als 20 Minuten sein, wenn wir nicht trödeln. Mein Fahrrad könnte ich schieben.« Ich machte eine kurze Pause, um ihn den Vorschlag verarbeiten zu lassen. »Alternativ, wenn du keine Lust auf Laufen hast; Bahn und Fahrrad. Oder Bus eher. Ich würde Fahrrad fahren und du könntest den Bus nehmen. Da darf ich mit meinem Fahrrad leider nicht rein, dann würden wir uns vor meiner Wohnung treffen.« Noch mal zwei Sekunden Überdenkzeit. »Wofür bist du?«

Überraschenderweise kannte Harry seine Antwort sofort. »Ich möchte das, was schneller geht.«

»Hm, okay.« Ich steuerte die Flügeltüren des Ausgangs an. »Also Laufen dauert sehr wahrscheinlich länger. Mit dem Fahrrad bin ich natürlich super schnell; 6 Minuten oder so, aber für dich kommt es ein bisschen darauf an, wann dein Bus kommt.«

»Ich werde schnell sein mit dem Bus.«, garantierte Harry so selbstbewusst, wie man nur in seinen ersten Wochen Manchester sein konnte. Busse und Bahnen konnten sehr unzuverlässig sein.

Ich grinste. »Wenn du meinst. Also wie gesagt werde ich ziemlich sicher als erstes da sein. Ich warte dann auf dich. Wenn du willst, gebe ich dir meine Adresse auf Google Maps- nein, doch nicht. Kein Handy, schon wieder vergessen. Soll ich sie dir aufschreiben oder kannst du es dir merken?«

»Ich kann es mir merken.«, versicherte er.

»Klar.«, lachte ich etwas verunsichert. »Stipendiat und alles. Großartiges Gedächtnis wahrscheinlich. Ich war sehr beeindruckt von Picasso und seinen hundert Vornamen.«

»Vierzehn Namen.«, berichtigte er. Sogar nach über einer Woche erinnerte er sich noch daran; wirklich ein gutes Gedächtnis also. Obwohl; vielleicht war er auch nur beeindruckt gewesen, dass seine Internetrecherche so viele Namen ergeben hatte und hatte sie gezählt. Jetzt würde ich mir wahrscheinlich auch für den Rest meines Lebens merken, dass Picasso vierzehn Namen hatte.

»Vierzehn, na gut. Das sind auch genug.« Die feuchte Luft traf uns wie ein Schleier. Vielleicht war das mit dem Bus doch keine schlechte Idee; die tiefhängenden, grauen Wolken versprachen mehr als nur ein paar kleine Tropfen. »63 Bloom Street. Dritter Stock. Naja, das ist ja nicht so wichtig, ich werde vor dem Haus auf dich warten. Du kannst von der Oxford Road Station einfach zur Hart Street fahren, das ist quasi direkt vor meiner Haustür. Nicht mal umsteigen. Denkst du, das kriegst du hin?«

»Ja.«, bestätigte er. Er klang so überzeugt von dem Erfolg des Planes, dass auch ich meine Zweifel verlor.

»Okay! Sehr gut.« Ich blieb auf dem hellen Pflaster stehen und warf einen Blick in Richtung der sich leerenden Fahrradständer. »Dann hole ich mein Fahrrad und fahre los. Ich würde sagen, du gehst jetzt schon, damit du nicht einen Bus verpasst, nur, weil du auf mich wartest. Ja? Fährst du manchmal von Oxford Road? Das ist da, wo wir letztens zusammen hingegangen sind. Letzten Freitag sogar, vor einer Woche! In die Richtung einfach, dann rechts. Findest du das?«

»Ja, kein Problem.«

»Na dann ist ja alles geregelt, oder? Müssen wir noch irgendetwas klären?«, fragte ich, aber machte noch einen Schritt zurück.

»Nein, Louis. Wir werden uns vor deiner Wohnung treffen.«

Ich nickte bestätigend. »Genau. Okay. Gut. Dann bis gleich, Harry, ja? Ich hoffe, du findest alles. Wenn nicht, ruf mich einfach- nein, ah. Nicht anrufen; du hast kein Handy. Es wird schon alles klappen. Wir sehen uns in ein paar Minuten. Bis dann!« Mit einem sanften Winken aus meinem rechten Handgelenk machte ich noch mehr Schritte rückwärts.

Harry lächelte. »Bis dann.« Und auch er drehte sich um und lief los. Aufregung tanzte durch meinen Bauch, als ich mich abwandte, um mein Fahrrad zu holen. Ich war mutig gewesen und der Mut hatte sich ausgezahlt. Das Gespräch mit Zayn war definitiv nicht unbeteiligt an diesem Verlauf gewesen. Und jetzt waren Harry und ich auf dem Weg zu meiner Wohnung! Es war Ewigkeiten her, seit ich jemanden zu mir eingeladen hatte, der nicht Zayn war. Naja, zumindest ein paar Wochen.

Ich warf einen Blick über die Schulter. Harry war schnell. Ich drehte mich nicht weg, als auch er sich nochmal zu mir umdrehte. Erst als er sich wieder abgewandt hatte, kramte auch ich meinen Fahrradschlüssel hervor. Wenn ich schnell fuhr, wäre ich sehr wahrscheinlich mindestens zehn Minuten vor Harry bei mir. Dann würde ich es noch schaffen, ein kurzes Power-Aufräumen durchzuziehen, um ihn trotzdem wie angekündigt unten zu erwarten. Also los.

Als ich mich wieder umdrehte, war Harry verschwunden. Weißes Kleid und nackte Knöchel verschluckt von dem Grau des Himmels und der Gehwegplatten. Auf dem Weg, um mich an meiner Wohnung zu treffen.

✩✩✩✩✩✩✩

happy pride süße Engel <3

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top