𝐗𝐋𝐕𝐈𝐈𝐈

☽ ⋆ 𝐇 ⋆ ☾

Es war kompliziert mit Louis. Obwohl er die Supervision so einfach akzeptiert hatte und sein Herz mittlerweile nach ein paar Minuten mit mir nur noch ein bisschen schneller schlug, machte er es mir schwer.
Er hatte nie Zeit für mich. Sein Verbot, ihn in die Gesellschaft anderer Menschen begleiten zu dürfen, gefiel mir gar nicht. Auch wenn ich seine Begründungen verstand; Vertrauen und Lügen.

Ich respektierte seine Bitte, obwohl sie gegen meine Bestimmung verstieß, primär aus zwei Gründen: Er half mir ehrlich und ambitioniert bei der für ihn bestimmten Aufgabe; mich für die Augen der Menschen mehr ihren Erwartungen anzupassen. Außerdem schien er dadurch auch genau daran zu arbeiten; mich kompatibel für die Bekanntschaft seiner ihm emotional verbundenen Menschen zu machen.

Ich konnte nur hoffen, dass er für diese Anpassung nicht mehr allzu viel Zeit benötigen würde. Denn auch wenn ich mit meiner wenigen Zeit auf der Erde direkt nach der Anordnung zur Supervision bisher durchgekommen war, würde dieser Zustand womöglich nicht mehr lange anhalten.

Die letzten Tage hatte nur Liam sich danach erkundigt, wie meine Aufenthalte abgelaufen waren. Mit einer Stimme wie immer, als wäre es pures persönliches Interesse in ihm. Ich wusste nicht, wie sehr er verpflichtet war, offizielle Rückerstattung einzuholen. Und was ich noch viel weniger wusste; wann und wie eingegriffen werden würde, wenn ich meinen Auftrag nicht gut oder ausreichend erledigte. Ich wollte die Maßnahmen, wie auch immer sie aussehen könnten, nicht erleben.

So hatte ich eine Maßnahme getroffen, um die Maßnahmen vorzubeugen. Ich hatte Louis im Schlaf besucht. Sobald er in den ersten Tiefschlaf verfiel, war ich an seiner Seite gewesen. Wirres Haar zeichnete das Kissen wie Blitze einen Nachthimmel, er lag auf dem Bauch, atmete ruhig mit aufgedunsenen Lippen. Ich war lange nicht mehr während seines Schlafes auf der Erde gewesen und als ich vor seinem Bett kniete, erinnerte ich mich an Regeln. Je näher ich ihm physisch war, desto stärker wog sein Schlaf in meinen Knochen. Es war verlockend, mich zu ihm zu legen, die Augen zu schließen, und zum ersten Mal seit vielen Jahren zu schlafen, wie, als ich noch jünger und kleiner gewesen war.

Schlaf war wie ein tiefer Schatten, eine mächtige Pause, dunkelste Wolken am Horizont und die Grenze zur Nacht nicht erkennbar. Engel waren nicht auf ihn angewiesen und er war für uns nicht erstrebenswert. Schlaf schluckte Zeit wie ein hungriger Blauwal, Stunde um Stunde um Stunde um Stunde, und so hatte ich wie alle anderen gelernt, den hypnotisierenden Wellen aus Louis' Hirnelektrizität zu widerstehen. Aber es war schwieriger, wenn ich ihm so nah war. Der langsame Schlag seines Herzens echote lauter und länger, der warme Atem zog Schleifen um mein Gesicht und beschlug die Fenster.

Ich verbrachte die Nacht mit ihm, beobachtete das Leben seiner Augen unter ihren Lidern, Härchen seiner Wangen und die Teile seines Beines, die sich immer wieder unter der Decke hervorkämpften. Als meine eigene Beherrschung schwächelte, mein Bewusstsein dunkler und schwerer wurde, lenkte ich mich ab, indem ich Louis' Wohnung ein bisschen inspizierte.

Ich ließ mich langsam auf Luft über die Möbel tragen; der Schrank, der Tisch mit den Kerzen, zum Schluss Louis' Bett. Zentimeter trennten uns, aber seine Wärme griff nach mir in Schwaden. Sein Sog war so groß, dass ich wieder ein bisschen Abstand gewinnen musste. Auf dem Boden standen Schüsseln, leer bis auf Fett, das ich sogar aus der Luft schmecken konnte. Zwei Gläser waren daneben verlassen worden, winzigste Lachen dunkel und sauer. Zwei Gabeln. Ich war nicht fließend verständig genug, um die Szene zu begreifen.

Ich blieb glatte sechs Stunden und als ich in den Himmel zurückkehrte, wusste ich sofort, dass es eine gute Idee gewesen war. Sechsstündige Supervision befriedigte und bestätigte. Ich nahm meine Aufgabe ernst. Zufrieden widmete ich mich den himmlischen Archiven.

Weitere 9 Stunden und 43 Minuten später kehrte ich zu Louis zurück. Es war absurd und ich brauchte eine Weile, um das Gefühl zu begreifen, aber ich war ein bisschen nervös. Unruhig hoffte ich, dass Louis mich nicht direkt wieder wegschicken würde. Gestern war er auf mehreren physischen und psychischen Ebenen so angespannt gewesen, dass es mir gar nicht gefallen hatte, ihn direkt wieder zu verlassen. Aber diese Autonomie hatte ich ihm garantiert und wollte sie erhalten. Auch wenn ich sehr enttäuscht gewesen war, nicht Louis' Großmutter und Zayn, seinen besten Freund, kennenlernen zu dürfen.

Unweigerlich und über Stunden hinweg hatte ich mich gefragt, wie gut ich ihn damit wirklich verstehen konnte. Wäre ich auch so vorsichtig, wenn er mich fragen würde, ob ich ihm Liam vorstellte? Nicht, dass Liam mein bester Freund war. Oder meine Großmutter.

Aber Louis hatte nicht gefordert, Liam kennenzulernen. Also war das kein Problem, das mich beschäftigen musste.

Louis war in seiner Wohnung. Weil er mich darum gebeten hatte und ich weitere Schockzustände vermeiden wollte, würde ich mich heute in dem Raum, der seine Küche war, materialisieren. Auch wenn ich mir nicht ganz sicher war, wie meine Ankünfte ihn so sehr erschrecken konnten, wenn er doch wusste, dass ich ein Engel war.

Es war mittlerweile eine sehr einfache Übung, Louis' Herz in meiner Reise zu folgen. Die Erdatmosphäre fing mich auf wie weiches Moos. Natürlich wog sie noch schwerer auf meine Muskeln  als der Himmel, und würde es immer tun, aber inzwischen war ich auch hierin geübt. Dass ich es sechs Stunden neben einem schlafenden Louis aushielt, bewies das.

Louis' Wohnung war nicht sehr warm. Das war nicht ungewöhnlich, aber es gefiel mir nicht. Kälte kostete Louis ständig Energie.
Die Küche sah aus wie meistens. Glatte Fliesen an den Wänden und ein leerer Tisch. Letzte Nacht hatte hier noch metallenes Geschirr gestanden. Ein Topf und ein größerer, flacher, schwarzer Topf mit Stiel – den Namen hatte ich vor langer Zeit gelernt, aber ich erinnerte mich nicht mehr.

Ich verließ die Küche mit Schritten, auch wenn es in Louis' Gegenwart nicht mehr nötig wäre. Aber es wäre unklug, zu regelmäßig auf die Bewegung zu verzichten. Es gab Engel, die nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten im Himmel verlernt hatten, ihr Beine zu nutzen wie die Menschen es taten. Nicht zwangsweise ein Defizit, aber beim Wiedererlernen des Laufens war oft sichtbar, dass es sich nicht um natürliche Läufer handelte. Und mit meinem Ziel, als Mensch durchzugehen, konnte ich mir das nicht leisten. Also fleißig Schritt für Schritt, auch wenn ich äußerst selten überhaupt in Kontakt mit dem Boden kam. Ein oder zwei Millimeter schützten mich fast immer davor. Die Erde band und zog, das tat sie auch stark genug, ohne, dass ich sie berührte.

Die Muskeln von Louis' Rücken spannten in meinem Hals. Seine Knie beugten stark, er saß an dem Tisch, von dem aus ein Fenster in Helligkeit den Blick auf ein anderes Haus erlaubte, im Dunkeln aber nur Louis' Spiegelbild beschützte. Weil die Vorderseite seines Kopfes mehr Sinne beherbergte, mir aber sein Hinterkopf zugewandt war, nahm er mich nicht wahr.

»Hallo Louis.«, sagte ich also.

Die angespannten Muskeln zuckten und sein Kopf flog zu mir herum. »Uff. Harry.«

Ich lächelte. Er hatte sich erschrocken, aber weniger als die letzten drei Male. »Ich bin vorsätzlich in der Küche angekommen.«

Louis hob die Augenbrauen. »Ja? Toll.«, sagte seine Zunge, obwohl er gar nicht wirkte, als würde er es so toll finden. »Es ist echt unfair, dass du mir so auflauern kannst, aber ich dir nicht. Ich würde mich gerne revanchieren. Damit du mal merkst, wie das ist. Was du mir hier antust.«

»Das ist schwierig.«, stimmte ich zu. In vermutlich allen Fällen würde Louis' Präsenz mir immer bewusst sein.

»Trotzdem schön, dass du hier bist.«, seufzte er und dieses Mal war es leichter, ihm zu glauben. »Aber kann ich das hier vielleicht kurz noch fertig machen? Ein Absatz, mehr nicht, aber ich kann jetzt nicht aufhören. Ich bin mitten im Gedanken. Sonst hasse ich mich später dafür.«

Das klang nicht gut. Und ich wollte ihn sowieso niemals von seiner Arbeit abhalten. »Mach das. Ich warte.«

Louis nickte mit Augen voller Erleichterung oder Dankbarkeit und wandte sich wieder von mir ab. Ich setzte mich auf den Boden, auch wenn ich mich lieber zu Louis gesetzt hätte. Er war warm in dem kalten Raum und ich wollte ihm zusehen. Vom Boden aus verbarg der Stuhl seinen Rücken bis zu seinen Schultern. Vielleicht sollte ich mich höher setzen.

Ich setzte mich auf den Schrank. Von hier oben sah ich einen abstrakten Teil von Louis' rechtem Gesicht, die Nase in einem ungewohnten Winkel abgeschnitten. Vor ihm stand der Gegenstand, den ich schon ein paar Mal gesehen hatte; unten gesprenkelt mit Buchstaben, oben hell erleuchtet. Seine Finger machten Insektengeräusche auf den Buchstaben. Ich wollte fragen, aber mehr wollte ich ihn ungestört lassen.

So wartete ich geduldig, bis Louis das Gerät zuklappte, mit einem dumpfen Ton. »Fertig.«, sagte er und drehte sich wieder um. Sein Blick wanderte über den Boden, zu tief.

»Hier.«, meldete ich mich hilfsbereit.

Louis' Finger umklammerten seine Stuhllehne, als er zu mir aufsah. »Und dabei sollte man denken, ein Schutzengel würde irgendeine Vorbildfunktion haben.«

Ich streckte die Beine über die Kante des Schrankes aus, meine Fersen streiften wirklich das kühle Holz. »Was?«

Louis schüttelte den Kopf, aber er grinste. »Solltest du nicht verantwortungsvolles Verhalten demonstrieren? In meinem Interesse? Und nicht auf meinen Kleiderschrank klettern.«

»Ich bin nicht geklettert.«, erklärte ich, und irgendwo in meinen Erinnerungen war da der kleine Louis, etwas älter als vier Jahre, mit einem Grinsen über sein ganzes Gesicht und einem Grashalm zwischen den Fingern. »Außerdem weiß ich, dass du weißt, dass ich ein Engel bin und wir nicht die gleichen Fähigkeiten und Sicherheiten besitzen. Du würdest mir nicht auf den Schrank folgen, nur weil ich hier sitze.«

Louis' Blick fiel wieder auf den falsch gemaserten Boden, er zuckte mit den Schultern. Er zuckte immer mit den Schultern. »Ich würde eigentlich schon gerne.«, sagte er und sah wieder zu mir auf.

Ich war verwirrt und war mir sicher, dass mein Gesicht es zeigte. Ich war nicht auf Mimik angewiesen, aber Louis lehrte mich, immer weiter die Kontrolle zu verlieren. »Du würdest mir gerne auf den Schrank folgen?«

Wieder zuckte er mit seinen Schultern. »Ich würde gerne...«, er hob seine Hände mit den Handflächen zum Boden gerichtet, als wäre das eine Erklärung, »nochmal...mit deiner Hilfe...«

Und dann wusste ich, was er sagte. Einfach so. Wie Louis konnte ich heraushören, was er sagte, ohne, dass er es in Worten sagte. Zufrieden mit mir selbst lächelte ich – direkt noch ein Zeichen von Louis' Einfluss. »Du möchtest hier hoch schweben?«

»Ja.«, bestätigte er und senkte schnell die Hände.

Das Lächeln wurde gnadenloser, aber meine Wangen wollten sich nicht beschweren. Ich hatte ihn richtig verstanden. Ich linderte das Lächeln etwas. »Es ist dort unten sicherer für dich, Louis.«

Er blinzelte, neigte den Kopf ein Stück. »Es kann nicht so gefährlich sein, wenn du bei mir bist, oder?«

Ich ließ meine Beine schaukeln, vor und zurück, immer wieder sanft gegen die Schranktür. Dann drückte ich mich ab und sank auf den Boden. Louis' Augen folgten mir groß. Ich streckte ihm eine Hand entgegen und Louis stand so schnell auf, dass es mich überraschte.

»Danke Harry!« Es klang so ehrlich und fast verletzlich, dass das Wissen wie klares Wasser in mein Bewusstsein sickerte; es war kein Kompromiss oder etwas, dass ich um Louis' Willen tat. Ich wollte es auch.

»Gib mir deine Hände.«, dirigierte ich und bot meine eigenen an. Louis stand vor mir und sein Herz schlug schneller, sein Atem ging flacher. Sein Blick schien sich nicht zwischen meinen Händen und meinem Gesicht entscheiden zu können. Er legte seine Handflächen auf meine, genau gleichzeitig ließ er sie hinabsinken, als könnte er sonst einen vorschnellen magischen Reflex auslösen. Bei der Vorstellung musste ich wieder lächeln. Musste. Wie ein Sklave meines Körpers.

Es war nicht so leicht, wie es für Louis aussehen musste. Es war keine mechanische Kraft, die ich aufbringen musste, wie wenn ich ihn mit meinen Flügeln mitgenommen hätte. Es war Magie, die ich finden musste, und sie ließ sich nicht mit dem Maß vergleichen, das ich brauchte, um mich selbst über den Boden zu tragen. Louis wusste nicht, wie viel schwerer er war als ich. Er trug die irdische Atmosphäre in sich.

Finger an der Schläfe halfen bei magischen Herausforderungen, aber hierbei half es ebenso, Louis zu berühren. Je mehr seiner Haut auf meiner lag, desto leichter war es, sein Gewicht zu unterstützen. Würde ich ihn jemals über eine lange Strecke auf diese Weise transportieren müssen, wäre es unumgänglich, einen Weg zu finden, ihn eng zu umarmen und um seinen Hals herum meine Finger zurück an meine Schläfen zu führen. Aber hoffentlich würde es dazu gar nicht erst kommen. Die Distanz, die jetzt vor uns lag, würde ich mit seinen Händen auf meinen und gerichteter Konzentration bewältigen können.

In den Linien über seinen Mittel- und Ringfingern suchte ich sein Herz, fand es, zog es zu mir wie einen Magneten. Wie meinen Magneten. Louis war unweigerlich an mich gebunden, es war die gleiche fleißige Pumpe wie die des Säuglings vor über 21 Jahren. Sein Schwerpunkt wurde golden in meinem Bewusstsein und ich hob ihn so sanft wie möglich vom Boden.

Wie beim letzten Mal dauerte es ein paar Sekunden, bis Louis seine Kontaktlosigkeit wahrnahm, und wie letztes Mal ergriffen ihn direkt die mächtigen Symptome der Panik. War die Situation nur ungewohnt genug, war der menschliche Körper blitzschnell darin, zu reagieren. Aber um zu verhindern, dass Louis wieder seine Hände meinen entzog – was aus dieser Haltung auch sehr viel gefährlicher für seine Fußknöchel war als beim letzten Fall – umschloss ich seine Handgelenke mit meinen Fingern. Was durch meine Arme bei der intensiveren Berührung schoss, war für vier Sekunden stark genug, um zu übertönen, was Louis fühlte. Dann kam es alles zurück und sein Herz echote umso lauter in meinem Bewusstsein wider, die Muskeln seiner Schultern zitterten unwillkürlich, aber er klammerte sich an mich, wie ich es vorgemacht hatte. Seine Hände bedeckten fast meine gesamten Unterarme. Der Puls unter seinen Handgelenken hämmerte gegen meine Handgelenke. Aber Oberflächenvergrößerung unseres Kontaktes erleichterte die Magie schlagartig.

Mit Louis' Zehen einen Meter über dem Boden begann seine Vernunft, die Panik zu bekämpfen und, langsam, zu besiegen. Aufregung und Adrenalin schossen noch immer durch seine Adern, aber der Unterschied, ich wusste es, lag in dem Lächeln auf seinem Gesicht.

»Das ist so irre.«, hauchte er leise, als könnte der Luftstoß uns wie auf Flügeln davontragen, zum falschen Möbelstück vielleicht. Der Abfall seiner Panik machte alles nochmal einfacher und kurz war es, als würde Louis mit sinkendem Widerstand sich selbst weiter in die Lüfte drücken. Höher, höher, höher. Das war natürlich unmöglich, aber ich beschwerte mich nicht.

Louis' Gesicht war mir nah, seine Nase meiner Nase, er atmete durch den Mund. Menschen taten Dinge mit ihren Mündern, viele verschiedene Dinge. Mein Wille brachte uns sanft hinüber zum hölzernen Schrank, darüber, und dann, sanfter, zur Landung. Louis hatte längst verstanden, dass er die Beine beugen musste, ich tat es ihm gleich. Im Stehen wäre die Decke für uns nicht hoch genug gewesen. Auch unter meinen Schienbeinen seufzte dieses Mal das Holz. Ich konnte meine Finger nicht sofort von Louis lösen.

Er löste seine ebensowenig, sein Blick klebte an mir, meinen Augen, als wäre der Anblick des Zimmers für ihn von hier oben kein neuer – zumindest hoffte ich, dass Louis sich nicht regelmäßig unbeaufsichtigt in solche Höhen begab. Es war keine Höhe sicheren Todes, auch kein Untergrund sicheren Todes, aber im richtigen Winkel konnte eine Menge passieren. Es musste ein Zeichen von Vertrauen sein, dass Louis mit mir hier saß, obwohl er wahrscheinlich wusste, dass ich all die Winkel kannte, aus denen er nach diesem Fall nie wieder aufstehen würde.

Aber Louis grinste mich an, bis es an meinen Wangen zog. »Harry, danke! Danke, danke, danke!« Er umgriff meine Arme noch stärker und ich schaffte es, meinen Griff zu lockern. »Es fühlt sich so... Das ist so unglaublich. Du kannst fliegen! Und du kannst mich fliegen lassen, mich! Es ist so gruselig. Es ist so gut. Danke, Harry. Das ist das Beste, was mir je passiert ist.«

Das bezweifelte ich stark, aber es gelang mir schließlich, Louis loszulassen. Während er jetzt doch begann, den Boden unter den Füßen des Schrankes zu inspizieren, hielt er mich noch mit einem Großteil seiner Muskelkraft fest. Da war eine Magmalandschaft in meinem Arm, es war seltsam, ich umfasste ihn nicht mehr, aber sein Griff verhinderte, dass ich mich wirklich von ihm trennen konnte. Als ich seine Unterarme etwas zögerlich mit meinen Fingerspitzen von unten antippte, wurden seine Augen synchron zu seinem Mund rund und er ließ mich los.

»Tut mir leid!«, schossen die Worte schnell aus seinem Inneren hervor, er zog seine Arme komplett zu seinem Körper zurück. Ein guter Instinkt. Dort waren sie sehr viel sicherer, sollte er mir doch zutrauen, ihn zu schubsen. Ich versuchte, das Brodeln unter meiner Haut zu ignorieren.

»Ist es gut?«, fragte ich, als ich es meiner Zunge zutraute.

Etwas in Louis' Schultern formierte sich neu, er kniff kurz die Augen zusammen, bevor er fragte: »Ist was gut?«

»Hier oben zu sein?«

Er lächelte und sah auf unsere Knie hinab. »Enger als erwartet.«

»Vielleicht, damit ihr gar nicht erst auf die Idee kommt, hier zu sitzen.«, schlug ich vor.

»Ich denke, die wenigsten ziehen das in Betracht.«

Ich lächelte. »Gut so.«

Louis blinzelte, als ihm eine Strähne ins Auge fiel. Er strich sie mit mehreren Versuchen weg. »Wie war es im Himmel?«

Die Antwort kam nicht direkt zu mir. Wie war es im Himmel gewesen? »Ich habe mich ein bisschen mit Kunst beschäftigt.«

»Ja?« Wieder neigte sich Louis' Kopf, dieses Mal überrascht. Zwischen seiner Schädel- und der Zimmerdecke lagen 28 Zentimeter.

Es stimmte doch nicht ganz. Ich hatte mich mit Kunst beschäftigen wollen. Aber wo war da der Anfang? Die himmlischen Archive konnten nur bei konkreteren Fragen helfen. Kunst. Ich hatte überlegt und überlegt und überlegt, aber keinen Start gefunden. »Kunst ist groß.«, sagte ich, um vielleicht zu erklären, was das Problem war.

Louis lächelte. »Kunst ist Leben.«

Ich wusste, dass es meine Worte waren. Er gab sie mir zurück. »Ja.« Ich musterte Louis' rechtes Knie. Es durfte nicht zu weit über die Kante hinausragen. »Ich verstehe auch nicht ganz, wie jemand Kunst studieren könnte.«, gab ich zu.

Louis zuckte mit den Schultern. »Ich auch nicht wirklich.« Er entspannte seine Arme wieder etwas und seine Hände fielen in seinen Schoß. »Aber vielleicht ist das gut. Wenn niemand weiß, was in einem Kunststudium passiert, dann fallen deine Interpretationen auch nicht so schnell auf.«

Meine Interpretationen. Hoffentlich würde ich nicht sehr oft über Kunst ausgefragt werden. »Darf ich dich bald mit in die Universität begleiten?«, fragte ich, obwohl ich nicht sicher war, wie klug es war, Louis so häufig zu fragen. Er hatte gesagt, der Moment würde kommen, aber um seinetwillen brauchte ich etwas Zeit.
Außerdem; ich sollte wirklich sehr viel geduldiger sein. Das war etwas, das ich Liam vielleicht nicht bei der nächsten Berichterstattung erzählen sollte.

Louis presste sanft die Lippen vor seinen Zähnen aufeinander. »Noch nicht, Harry. Lass uns bitte noch ein paar Tage warten.« Er musterte mein Gesicht. »Aber wir sind dem schon ein Stück näher. Ich weiß nicht, ob du es gestern realisiert hast, aber ich habe die Kleidung besorgt. Für dich.«

Ich hatte es nicht realisiert. Die Luft in dem Raum mit der schrägen Decke, die das Dach gewesen war, war nicht gut für Louis gewesen und er hatte sich erschrocken und mich sofort wieder weggeschickt.

»Wenn du uns wieder runterbringst, zeig ich sie dir.«, fuhr Louis fort. Er deutete auf den Boden. »Oder ich springe einfach.«

»Nein!« Ich schoss ein paar Zentimeter in die Höhe, griff nach Louis' Oberarmen.

»Das war Spaß, Harry.« Er sah mit großen Augen auf seine Arme im meinem Griff hinab.

»Spaß? Nicht spaßig für mich, Louis!« Hatte er Spaß gehabt? Hatte es in ihm Freude ausgelöst, die Worte zu sagen?

»Ich glaube auch nicht, dass ich sterben würde, wenn ich von hier runterspringe.«

In den meisten Versionen eines Sprunges nicht. »Auch wenn du nicht stirbst, kannst du dich verletzen. Und das erniedrigt deine Überlebenschancen in der nächsten potentiellen Gefahrensituation.«

Louis runzelte die Stirn, wie er es so gerne tat. Als hätte er keine Bedenken um seine Haut. »Klingt ein bisschen nach Steinzeit-Mentalität, oder?«

»Ich weiß nicht genau, was das heißen soll.«, gestand ich, nur ein bisschen zögerlich.

Louis' Profil fiel als schwarzer Schatten rechts gegen die Wand. »Nicht so wichtig. Nur...das klingt so, als würde ich vom Schrank springen und mir irgendwas verstauchen und dann...kommt ein Säbelzahntiger um die Ecke und startet den nächsten Kampf.«

»Säbelzahntiger sind ausgestorben, Louis.« Und er behauptete immer, der Himmel hing hinterher in seinen Informationen.

Seine Augenbrauen zuckten überrascht. »Ja.« Er schien sich auf meine hohen Wangen zu konzentrieren, seine Augen fokussiert. Dann hob er die Hände. »Bringst du mich wieder sicher runter?«

Ich brachte ihm meine Hände entgegen. »Natürlich.« Dieses Mal griff er direkt nach der Haut meines Unterarmes, anstatt nur seine Handflächen auf meine zu legen. »Du musst versuchen, dich zu entspannen, Louis. Das macht es leichter für mich – und weniger riskant für dich. Du brauchst keine Angst zu haben. Solange du mich berührst, halte ich dich.« Seine Hand tat, was sie immer auf meinem Körper tat. Ich musste mich stärker auf mein eigenes Bewusstsein konzentrieren, um nicht überwältigt zu werden.

»Das sagt sich leicht.«, seufzte Louis. »Ich gebe mir Mühe.« Er spannte seine Beine schon jetzt an.

»Runter geht es schneller.«, versicherte ich, während ich schon die ersten Moleküle verdrängte. Vielleicht war das die beste Strategie; Louis abzulenken. »Da muss ich die Schwerkraft nur bremsen, nicht überwinden.«

Er bemerkte die Illusion der Schwerelosigkeit, Sprung in seinem Blutdruck, aber ich machte meine Ankündigung wahr und wir waren schnell wieder unten. Louis in relativer Sicherheit.

Hätte ich vor einigen Wochen so etwas versucht, wäre mein Bewusstsein wahrscheinlich innerhalb weniger Sekunden kollabiert. Aber die Erde war mir nicht mehr fremd. In Gefahrensituationen lief alles natürlich ein bisschen anders, aber mit Louis nur zum Spaß ein paar Meter in die Höhe zu steigen, war keine Kleinigkeit. Aber ich hatte es, sicher für uns beide, gut bewältigt.

Louis' Finger lösten sich jetzt schneller als auf dem Schrank von mir und seine Zehen streckten und beugten sich wie kleine Maden. Er rollte auf seine Fußballen, überragte mich, fiel zurück auf seine Fersen. Dann lachte er, hell und losgelöst.

»Alleine dafür hat es sich schon gelohnt. Wow.«

Ich war mir nicht sicher, was ›es‹ bedeutete – sein Leben? – oder ›dafür‹ – seine Zehendehnung? – aber ich hoffte, dass es mich vielleicht wenigstens ein bisschen beinhaltete. Konnte es Teil der Realität sein, dass ich Louis' Leben auch nur ein wenig bereicherte? Es war irrational und ich schämte mich dafür, aber gerade jetzt, fühlte sich das wie ein großer Wunsch für mich an.
Andererseits; Glücklichsein war der Gesundheit fast ausschließlich förderlich.

»Danke Harry!«, sagte Louis, nochmal, aber dieses Mal stieg ich direkt wieder einen Zentimeter höher. Und noch eines der unbekämpfbaren Lächeln, die es nicht geben sollte. Ich ließ es zu.
Mein Kompromiss; zulassen.

»Louis?«, fragte ich schließlich, als ich seine Füße in den Socken lange genug beobachtet hatte, den Ort, an dem er stand. »Wo ist die Luftmatratze?« Es war ein neues Wort gewesen und ein ebenso neuer Gegenstand. Ich hatte sie nur benutzt, um Louis kurzzeitig von einer menschlichen Präsenz zu überzeugen, und sie auch sonst nicht weiter geschätzt. Aber jetzt, wo sie weg war, wirkte das Zimmer kleiner, obwohl ich genau wusste, dass das nicht stimmen konnte. Louis hatte nur die Luftmatratze weggeräumt.

Auch er sah auf seine Füße hinab, schien zu wissen, dass er dort stand, wo sie gelegen hatte. »Hab ich gestern wieder eingerollt. Gar nicht gut.«

»Wieso?«, fragte ich irritiert.

Louis lachte, ohne es wirklich lustig zu finden zu scheinen – das sagte zumindest sein Zwerchfell. »Ich habe es vergessen. Gestern Morgen, als ich es eigentlich machen wollte. Und dann abends war Zayn da.«

Die Erklärung half nicht mit meiner Irritation. »Und das ist nicht gut?«

Louis' Mund wurde steif, ein Strich. »Nein. Aber nicht so wichtig.«

Es ergab keinen Sinn. Zayn war Louis' bester Freund, und wenn die Menschen ihre Definition nicht geändert hatten, sollte das ein Titel der Zuneigung sein. Vielleicht mochte Zayn keine Luftmatratzen – falls das die Erklärung war, machte es mir den Menschen, über den ich bisher nicht viel anderes wusste als diesen Namen, direkt sympathisch. Wir könnten uns zusammenschließen.

»Hier. Ich zeig dir, was ich mitgebracht habe.« Louis war über ein Gebilde gebeugt, eckig, braun, hohl. Eine Kiste ohne Deckel. Eine Kiste mit Deckel ohne Boden. Zu einer Seite offen.

»Was ist das?«, fragte ich, noch bevor ich neben ihm stand.

»Die Kleidung von meinem Grandad. Und noch ein Pullover, den ich von meiner Nan habe. Alles ganz okay, hoffe ich. Aber warte, bis du die Jacke siehst!«, verkündete er immer noch oder wieder etwas aufgeregt.

»Das meine ich.«, berichtigte ich und berührte vorsichtig das braune Material. Meine Finger wollten es mit Papier verwechseln, aber ich hatte noch nicht häufig genug Papier berührt, um dem Gefühl zu vertrauen.

Louis warf mir einen Seitenblick zu, bevor er antwortete. »Pappe. Ein Pappkarton.«

»Pappe.« Ein Wort der Lippen. Es war braun und stumpf und weich unter steigendem Druck.

»Pappe ist gepresstes...warte, ich hab keine Ahnung.«, erklärte Louis oder eher weniger. »Irgendetwas Gepresstes, glaube ich..? Oder geklebt? Nein. Oder doch? Wirklich keine Ahnung.«

»Pappe.«, sagte ich nochmal, um es mir zu merken. Das war etwas, dem ich mich später in den Archiven widmen konnte.

»Aber es geht eigentlich mehr hierum.« Er zog eines der genähten Stoffstücke aus der Kiste. Dem Pappkarton. »War ein bisschen nervenaufreibend gestern; der Transport und alles. Mein kompletter Rucksack war voll. Ich hab mich wie ein Kleinkrimineller gefühlt.«

Ich starrte die Kleidung an, und Louis' Finger, die sie umfassten. »Es ist illegal?«

Er sah mich an, ließ den Stoff los. »Nein! Harry, nein. Es war nur...nicht hundertprozentig abgesprochen. Und Zayn sollte die Sachen nicht sehen, damit er sie nicht wiedererkennt.«

»Aber wieso darf er sie nicht wiedererkennen? Ist es verboten, dass ich die Kleidung deines Großvaters trage?«

»Nein. Nichts hieran ist verboten.« Er nahm das Kleidungsstück wieder auf und hielt es mir entgegen, als würde es seine Worte besser unterlegen. »Zayn soll die Sachen nicht wiedererkennen, damit er dich nicht mit mir assoziiert.«

»Aber du wirst es doch sein, der das Treffen mit ihm arrangiert, oder nicht? Dann assoziiert er mich sowieso mit dir.«

Louis' Kopf sank in seine Hände und kurz hatte ich Angst, dass er von mir undetektierte Schmerzen empfand, aber dann seufzte er. »Gott, Harry, ich dachte irgendwie, du hättest das gestern alles begriffen.«

Mein Mund fühlte den Drang, sanft vom Kiefer aufzuklappen. Es war etwas, das Louis regelmäßig tat, und vielleicht war es eine wichtige menschliche Angewohnheit. Ich ließ es passieren, minimal, und irgendwie schien es meinem Unglauben gerade guten Ausdruck zu geben. »Hast du mich Gott genannt?«, fragte ich überfordert. »Das ist- Ich bin nicht-«

»Ich weiß, ich weiß! Das weiß ich. Das sagt man nur so. Ich meinte... Ich war nur überrascht.«

»Es ist sehr verwirrend.«, ließ ich ihn nachdrücklich wissen.

»Ja. Tut mir leid. Ich wollte dich nicht verwirren. Aber hier.« Er streckte mir das Kleidungsstück weit genug entgegen, dass es fast meine Brust berührte. Ich nahm es ihm ab. Der Stoff war dünner als der von gestern. »Ein Shirt, langärmlig, gut für den Herbst.«, kommentierte Louis und kramte tiefer in dem Pappkarton rum. »Hier. Probier die mal dazu an. Die sieht von den Hosen am schmalsten oben aus. Wenn nicht, habe ich einen Gürtel, kein Problem.« Er legte mir ein schweres, langes Kleidungsstück über die Arme. »Okay. Das erstmal. Versuch es, Harry!«, verkündete er aufmunternd.

Ich fühlte mich nicht sehr aufgemuntert. Louis' Entschluss gefiel mir noch nicht sonderlich gut; dass ich mein Gewand ablegen sollte, um irdische Kleidung zu tragen. Nur leider hatte er recht mit vor allem einem Argument: für einen Menschen wäre mein Gewand in den aktuellen englischen Temperaturen zu kalt. Viel zu kalt. Vorher war es mir nicht klar geworden, aber natürlich zog ich damit Aufmerksamkeit auf mich. Und wie Louis sehr passend erkannt hatte; je weniger Aufmerksamkeit ich auf mich zog, desto besser. Ich durfte keinen irdischen Skandal himmlischen Lebens auslösen, besonders Ich nicht.

Trotzdem kostete es Überwindung, allein der Gedanke daran. Gestern Morgen hatte ich Wolle getragen, Wolle wie ein Schaf, und sie hatte schwer auf meinen Flügel gewogen.

»Ach ja.«, sagte Louis und winzigste Blutgefäße in seinen Wangen entspannten sich. Im Knien beugte er sich über den Pappkarton hinweg und griff nach etwas dahinter. Er zog etwas weiteres Stoffiges hervor und legte es auf die Hose auf dem Shirt auf meinen Armen.

»Was ist das?«, erkundigte ich mich, weil ich es nicht wiedererkannte, obwohl es weniger komprimiert war als die andere Kleidung. Ich schielte zu Louis, aber erblickte an ihm nichts Vergleichbares. Er trug einen Pullover, eine Hose, Socken. Es waren keine Socken.

Louis sah mich nicht mehr an, rappelte sich auf die Füße. »Boxer, Harry. Unterwäsche. Die trägst du unter der Hose. Ich...ich weiß nicht, ob das... Ich habe sie heute Nachmittag gekauft, sie sind neu, ich wusste nicht...ob du... Ich weiß nicht, was du unter... Ahh. Du weißt, was ich sagen will. Wenn du deine eigene Unterwäsche anhast, dann kannst du die natürlich anbehalten, ich wusste nur nicht, ob... Naja. Du verstehst.«

Und überraschenderweise verstand ich ihn wirklich, Louis mit seinen sanften, roten Wangen. Ich mochte es, ihn so zu sehen. Er war schön und er hatte Gefühle. Und was er sagte war Folgendes: Was er mir gegeben hatte war ›Unterwäsche‹, die ich unter der Hose anziehen sollte – wozu auch immer das gut sein sollte – solange ich keine eigene Unterwäsche trug.

»Danke Louis.«, sagte ich für die Kleidungsstücke und die Erklärung und konzentrierte mich noch für einen Moment auf sein warmes Gesicht, bevor ich mich dem etwas unfreiwilligen Kleidungswechsel widmete. Es brauchte den Entschluss, es einfach zu tun. Vermutlich gab es keinen weisen Weg um diese Maßnahme herum, und je früher ich es tat, desto früher hatte ich mich hoffentlich auch daran gewöhnt. Vorsichtig ließ ich die Kleidung auf meinen Armen auf den Boden sinken.

Ich hatte mein Gewand noch nie zuvor abgelegt. Es wuchs mit und zu meinem Lebtag hatte es noch keine Zeremonie gegeben, die es erfordert hätte, dass ich es austauschte. Trotzdem wusste ich, dass es mir magisch möglich war, es einfach abzustreifen, aber bei dem Gedanken daran, wie Louis sich gestern dabei bemüht hatte, mir zu helfen und mir die menschliche Methodik beizubringen, kam es mir respektlos vor, dieses Wissen jetzt nicht anzuwenden. Außerdem war es etwas, das ich üben sollte. Wenn ich mich mal vor Menschen umziehen sollte, die nicht Louis waren, sollte ich überzeugend aussehen.

Ich konzentrierte mich auf die Erinnerung, wie Louis die dunkle Wolle wieder von meiner Brust gezogen hatte und vergrub die Finger in meinem Gewand, direkt über meinem Bauchnabel, zog es etwas nach oben.

»Oh, hey, Harry! Du kannst dich gerne im Bad umziehen! Wenn du willst.«

Ich wollte nicht. Meine Zeit hier, in der Louis mich für einen Menschen gehalten und ich täglich Minuten dort drin ohne sichtbaren Sinn verbracht hatte, war Ursache dafür, wieso ich mich nicht in den Raum zurücksehnte. Lächelnd schüttelte ich dankend den Kopf, so ein gutes Kopfschütteln, vielleicht war Louis stolz auf mich. Ich konzentrierte mich wieder auf die größere Herausforderung; das mechanische Entfernen meines Gewandes.

»Ah, okay, ich gehe dann mal...weg.« Louis sah sich um, in die Ecken dieses Raumes, in denen es nichts zu sehen gab, das eben nicht schon dort gewesen war, »In die Küche. Ich gehe in die Küche, Harry. Bis gleich.« Er war schon auf dem Weg in den Flur. Ohne sich nochmal umzudrehen, fügte er hinzu: »Sag Bescheid, wenn du...ja. Wenn du Hilfe brauchst.«

Es stellte sich alles als noch schwieriger als erwartet heraus. Noch während ich mein Gewand auszog, nahm ich mir vor, mit Liam darüber zu reden. Ich war mir zwar nicht sicher, ob es eine praktische Einheit zum Thema ›Umziehen‹ gab, aber falls ja, dann musste ich mich ihr dringend widmen.

Gewandlos zu sein, war, wie ich mir vorstellte, vollkommen von Wasser umgeben zu sein. Flüssigkeit wie ein Kokon, nur dass es die irdische Atmosphäre war. Mein Körper wollte sich förmlich nach meinen Flügeln zerreißen, aber wenn ich es zuließ, würde die Kleidung von Louis nicht mehr passen. Es brauchte mich eine Weile, um zu verstehen, was der Verlust meines Gewandes auf jeden Quadratmillimeter meiner Haut projizierte; Schutzlosigkeit.

Die drei zugeteilten Kleidungsstücke zog ich in folgender Reihenfolge an: der dünne Pullover, die Unterwäsche, die Hose. Ich benötigte 11 Minuten und 51 Sekunden. Mit der Zeit war ich sehr zufrieden, alles andere wollte mich verzweifeln lassen. Stoffe und Garne waren nicht ein Gebiet meiner größeren Expertise, und jetzt wusste ich auch, dass ich das nicht ändern wollte. Wie eine zweite, noch erbarmungslosere Haut klammerte sich die Kleidung an meinen Körper, selbst wenn sie nicht direkt berührte, schloss sie ein, eine Sphäre aus Fäden, luftdichter, als ich erwartete hatte. Der Pullover war weich und trotzdem schwer. Meine Beine wollten nicht mehr zu meinem Körper gehören. Die Unterwäsche war so eng, so lückenlos, als würde sie meine Bewegungen vorwegnehmen, beugen und strecken, bevor meine Muskeln es taten. Eine Schale um meine Hüften, eine Hülle, ein Käfig aus Stangen so dicht, dass es keine Zwischenräume gab.

Ich hatte Louis nicht rufen, sondern ihm stolz meinen Erfolg präsentieren wollen, aber Bewegung erschien wie eine überflüssige Qual, und so rief ich ihn doch.

»Harry!«, sagte er, noch bevor ich ihn sehen konnte. »Ich hab mir schon ein bisschen Sorgen gemacht, dass du- oh.« Er stand im Türrahmen, Pupillen riesig, bereit für jedes Photon. Seine Augen starrten, auf meine verborgenen Beine, meine verborgene Brust, die verborgenen Arme. Dann fand er mein nicht verborgenes Gesicht und lachte.

»Was ist lustig?«, fragte ich, fühlte mich verloren. Vielleicht hatte die Kleidung eine neue Grenze zwischen mir und Louis geschaffen – eine, die er durchschauen konnte, aber ich nicht.

»Nichts.«, grinste Louis, aber es konnte nicht die Wahrheit sein. Ich hatte das Lachen in seinem Oberkörper gespürt, noch bevor es über seine Lippen gekommen war. »Du siehst gut aus, Harry!«

Alles war absurd, am meisten die winzigen Maschen auf meiner Haut. »Darf ich deine Augen kurz benutzen, Louis?«, überwand ich mich, zu fragen.

Überraschung brachte sein Grinsen ein bisschen ins Wanken. »Was?«

»Ich möchte mich...nur kurz sehen.«, erklärte ich bereitwillig, und ungeduldig auf etwas, das ich nicht mal sehen wollte.

Louis hob die Augenbrauen. »Weißt du noch, was ich zu deiner Serienmörder-Ausstrahlung gesagt habe?«

»Ja.« Dass ich daran arbeiten musste. »Bitte?«

»Ich habe einen Spiegel im Bad. Menschliche Lektion. Wenn du dein Outfit kontrollieren willst, benutzt du einen Spiegel, nicht den Sehnerv der nächstbesten Person.«

»Du bist nicht die nächstbeste Person!«, protestierte ich. »Und der Spiegel im Bad ist zu klein für den gesamten Körper.« Außerdem war ich im Moment noch froh, jede potentielle Bewegung vermeiden zu können. Louis' Augen waren direkt hier vor mir.

»Na gut.«, erlaubte er. »Danke, dass du um Erlaubnis gefragt hast.«

»Danke Louis.« Ein bisschen Erleichterung; genügend, um die Kleider etwas leichter zu machen.

Louis' Sinne zu nutzen, war keine einfache Magie. Vor allem, wenn ich es über längere Zeit tun würde, müsste ich eine Menge Kraft aufbringen. Aber auch jetzt würden Finger an der Schläfe helfen – nur wollte ich meine Arme nicht bewegen, nicht mal einen, nicht, wenn es nicht sein musste. Also ohne, auch wenn es schwerer war.

Die Reibung der Kleidung auf meiner Haut, lenkte ab, machte alles noch schwieriger . Ich brauchte einige Sekunden, um mich ausreichend auf Louis zu konzentrieren, seine vor Erwartung großen Augen, weiche Strukturen nahe seines hinteren Schädels. Dann hatte ich es, sein Blickfeld, erst wackelig, ein bisschen schwach, ich schloss die Augen und da war ich.

Es war ein ungewohnter Anblick und es half, mich erst auf meine geschlossenen Augenlider zu konzentrieren, die dunklen Wimpern. Louis' Blinzeln kappte das Bild für hunderte an Millisekunden, dann wieder. Er musste blinzeln, um weiterhin sehen zu können. Es ging so schnell bei ihm. So selbstverständlich. Nach seinem dritten Blinzeln gelang es mir, das volle Bild zu schärfen.

Ich sah mich, flügellos und ohne Reif, wie ich meine Arme vom Körper abspreizte, um nicht alles schlimmer zu machen, indem meine Handrücken obszönerweise den Stoff der Hose auch noch von außen berühren müssten. Die Illusion eines Menschen, Arme in Ärmeln, Beine vor Kälte und Blicken geschützt. Farben verzerrten das Dunkel meiner Haare, Farben, wo sonst Weiß gewesen war.

»Machst du es schon?«, fragte Louis und ich erschrak genug, um die Verbindung zu verlieren.

Ich öffnete die Augen. »Es ist vorbei.«

»Wow.«, sagte Louis wieder – ein Wort, dessen Bedeutung sich mir noch nicht ganz erschlossen hatte. »Wirklich? Es ist so verrückt. Ich merke gar nichts!«

»Ich nehme dir die Sicht nicht, Louis, ich teile sie nur.«, bestätigte ich.

Er verzog den Mund zu wirrer Mimik, dann lächelte er schwach. »Und?«

»Und was?«

»Wie gefällst du dir? Dein neuer Stil?« Er blinzelte, aber aus irgendeinem Grund nur mit einem Auge. »Schick?«

Ich wollte lächeln, für ihn, aber es gelang mir nicht ganz. »Es ist ungewohnt.«

Er nickte schnell. Auf ab, auf ab, auf ab. »Für mich auch.«

»Denkst du, ich sehe besser aus? Mehr wie ein Mensch?«

»Wenn du dich ein bisschen anstrengst, deine Gliedmaßen zu entspannen, dann ja.« Er grinste. Dann wackelte er mit seinen Armen, Ellenbogen wie flüssig. »So.«

Es brauchte eine Menge Überwindung. Sehr, sehr, sehr viel Überwindung, aber dann löste ich meine Starre, vorsichtig. Langsam. Der Pullover reizte meine Arme und ich versuchte, ihn zu ignorieren.

»Die Kleidung ist nicht giftig, Harry.«, erklärte Louis das Offensichtliche und stoppte jetzt seine eigenen sinnlosen Bewegungen. »Komm schon, du kannst das!«

Ich strengte mich wirklich an, aber alles in mir wehrte sich. Es war wie eine zweite Strafe, ein zweiter Großer Fall, ein Skelett aus Fäden und Nähten. Meine Bewegungen waren zu langsam, die Kleidung rieb meinen Willen kaputt.

»Hey, Harry, nicht so...traurig gucken.« Louis war direkt vor mich getreten. Der Stoff war eine Lage mehr, die mich von seiner Wärme trennte. »Komm her.« Er fing meine Hände mit seinen auf, mitten in einer steifen Bewegung, und hielt sie fest. Ich wollte sie ihm sofort entziehen; nicht auch noch Louis' Berührung zu dem Kontaktchaos auf meiner Haut. Aber seine Hände waren ein glühender Gegenpol zu der Kleidung, lebendig, vertraut, Louis. Ich konnte mich ihm nicht entziehen. Ich wollte es nicht tun. Und so ließ ich es zu, als Louis erst langsam, dann immer schneller und geschmeidiger begann, seine Bewegungen wieder aufzunehmen. Rudern seiner Arme, hin und her und auf und ab, asynchron und ohne Muster. Meine Arme mit sich reißend.

Es war das Seltsamste, das ich in meinem gesamten bisherigen Leben getan hatte. Körper verpackt in Kleidung, meine Finger umfasst von Louis' und unsere Arme verwoben in regellosen Schleifen, Kurven und Knicken, alle Sinne verzerrt durch die endlose Reibung auf meiner Haut und Louis' kompletter Nähe. Ich konnte nicht aufhören.

Als Louis dann auch noch anfing, grinsend auf und ab zu springen, war es keine bewusste Entscheidung mehr, es ihm gleich zu tun – was das Beängstigendste hätte sein sollen. Ich nutzte meine Muskeln, nutzte sie wirklich, kämpfte gegen die Grenzen der Kleidung an, schmiegte mich an sie, und sprang. Ich war noch nie vorher gesprungen, aber es war so einfach. Ich sprang, meine Arme flogen, weil Louis' Arme flogen, oder auch andersrum, mein Blick klebte an seinem Lächeln, seinen Zähnen.

Erst, als Louis' ganzer Schultergürtel zuckte und seine Beine sich als ein Echo in meinen Beinen anspannten, merkte ich, wie Louis noch vor mir, dass auch er den Boden lange nicht mehr berührte. Sogar ich war überrascht. Louis lachte unter der Spannung all seiner Muskeln, dafür kein Springen mehr, aber auf den Boden sank er trotzdem nicht. Den Fehler behob ich und wir kehrten langsam auf den falsch-hölzernen Untergrund zurück. Louis' Wangen waren rosa, wie ich sie gerne sah. Sein Herz klopfte zu schnell, aber es war nur ein intakter Überlebensinstinkt. Menschen flogen nicht. Solange seine Angst ihn verteidigte, blieben mir eine Menge Sorgen erspart.

»Es ist wie Wackelpudding.«, sagte Louis schwankend, aufgeregt, und als würde das Lachen noch in seinen Stimmbändern sitzen.

»Was?«

»Wie früher, in den Cartoons. Wenn jemand in Wackelpudding feststeckt.« Er machte eine Bewegung mit der Hand, aber er hielt meine noch immer fest. »Ich kann auf der Luft stehen, ohne es zu merken. Du lässt mich schweben und ich merke es nicht mal. Springen ohne Boden. Das ist einfach so...ich weiß nicht. Unglaublich.«

»Ich weiß nicht, was Wackelpudding ist.« Die größere Quelle meiner Ratlosigkeit.

Louis lachte und schüttelte meine Hände mit seinen. »Du siehst gut aus, Harry, wirklich!«

Ich wollte die warmen Hände loslassen, aber ich wollte nicht. »Danke für die Kleidung.«

Grinsend drückte Louis meine Finger und ließ sie dann los, bevor ich der Verantwortungsbewusste sein konnte. Meine Arme fielen, aber der Hall von Louis' verlorener Berührung übertönte die Reibung der Pulloverärmel. »Das bringt dich sehr viel weiter. In der Menschlichkeitsmission. Du siehst...sehr normal aus. Unauffällig.«

Gute Worte. Denn das war auch das einzige, was dieses Opfer rechtfertigte. Ich gewann Unauffälligkeit, die ich laut Louis vorher aus verschiedenen Gründen nicht besessen hatte. Wieso mir die Menschen verboten, ein Kleid zu tragen, verstand ich immer noch nicht ganz, aber ich vertraute Louis' Urteil. Vorsicht würde immer wichtiger als Nachsicht bleiben.

Ich schwang meine Arme sanft vor und zurück, ein Test. Es war möglich. Es war aushaltbar. Es war, wie Louis sagen würde; okay. Die Kleidung zog mit schwerem Gewicht meine irdische Existenz nach unten, mehr wie bei meinen ersten Besuchen, aber auch daran würde ich mich gewöhnen können. Daran und an die ungefragte Reibung. Wenn Louis recht hatte, würde es sich auszahlen.

»Ich werde sie nicht mit in den Himmel nehmen können.«, berichtete ich entschuldigend.

»Sind menschliche Sachen im Himmel verboten?«, fragte Louis, als würde sein Wissensdurst die Vergangenheit rechtfertigen.

»Nicht verboten.«, erklärte ich ihm trotzdem. »Es würde nur ein Ungleichgewicht schaffen. Das vermeide ich lieber.«

»Du kannst sie hier lassen. Und die anderen Sachen hier drin darfst du auch alle anziehen. Ah, und, warte...« Er löste sich jetzt doch von dem Boden direkt vor mir, kniete sich vor seinen Schrank und stand dann wieder auf, unförmigen Stoff in der Hand. Er hielt ihn mir entgegen. »Socken kannst du von mir tragen.«

Socken. Weiche Schuhe für die Füße. Ich schüttelte sofort den Kopf, um es für Louis deutlicher zu machen. »Ich trage keine Socken.«

Die Haut um seine Augen zuckte. »Menschliche Lektion: Schuhe ohne Socken zu tragen, ist meistens...keine gute Idee. Und im Winter...nein. Du wirst es mir danken.«

»Ich trage keine Schuhe, Louis. Und keine Socken.«, berichtigte ich ihn eindringlich. »Das werde ich nicht anziehen.«

Seine Lippen waren offen, schon bevor er sprach. »Das geht nicht, Harry. Es ist zu kalt barfuß.«

»Nicht für mich.«

»Nein; nicht für dich. Aber für den Mensch, als der du dich ausgibst.« Er knetete den Stoff zwischen seinen Fingern und es wurden zwei Socken. »Es gibt Menschen, die einen Großteil des Jahres barfuß laufen. Aber bei diesen Temperaturen- Und es wird noch kälter! Ich weiß selbst noch nicht genau, welche Schuhe du anziehen kannst, aber ich weiß, dass der Secondhandladen in der Parallelstraße im Frühling billige Turnschuhe hatte, da könnten wir bestimmt mal vorbeischauen.«

»Ich ziehe keine Schuhe an, Louis.« Es war ganz einfach. Ich würde meine Füße nicht bedecken. Wie sollte ich die Erde spüren, oder den Spalt zu ihr, wenn meine Fersen und Zehen in konstante Reibung gehüllt waren? Wie sollte ich die lang einstudierten Bewegungsabläufe überzeugend vollziehen; Hacke-Ballen, sanftes Abrollen?

»Probier sie wenigstens mal an.«, bat Louis und hielt mir die Socken in je einer Hand entgegen.

»Nein.«, bestand ich allerdings. »Ich trage den Pullover und die Hose. Und die Unterwäsche. Aber keine Socken. Keine Schuhe.«

Louis blinzelte für eine Weile nicht, als könnte ein brennendes Austrocknen seiner Augen meine Meinung ändern. Dann seufzte er. »Heilige Füße, hm?«

Ich verstand nicht. »Was?«

»Engelsfüße? Du bist ausgerastet, das eine Mal, als deine Füße nass wurden. Weggelaufen.«

»Weil du mich einen Engel genannt hast.«, erinnerte ich ihn. Ich hatte angenommen, dass er die Situation nachträglich mittlerweile vollkommen verstanden hatte.

»Das meine ich nicht.« Louis' Hände mit den Socken fielen an seine Seiten. »Als du zum ersten Mal hier warst. Und ich das Glas umgestoßen habe.«

»Oh.«, fiel es von meinen Lippen und ich wusste, dass es ein Echo von Louis' Einfluss war. »Liam war hier.«

»Liam? War hier? In meiner Wohnung?«. Überraschung in den Wurzeln seiner Haare. »Dein Mentor Liam?«

»Ja. Es war zur Anfangszeit. Ich habe die Erde nicht gut vertragen und er hat mich zurückgeholt.« Es war ein bisschen beunruhigend, Louis ohne akute Gefahr so verstört zu sehen. »Er war für dich nicht sichtbar.«, erklärte ich ihm also hoffentlich beschwichtigend.

Seine Augen blieben groß. »Du musst mir nächstes Mal Bescheid sagen! Ich will ihn sehen. Ich will ihn kennenlernen.« Also doch. Er hob die Sockenhände wieder an, aber dieses Mal nicht, um sie mir zu übergeben, sondern als Erweiterung seiner Sprache. »Ist das erlaubt? Darf ich einen Engel sehen, der nicht mein Schutzengel ist?«

»Natürlich. Aber ich denke nicht, dass Liam sehr bald wieder hier sein wird.«

Louis zuckte mit den Schultern. »Also wenn er Lust hat, kannst du ihn gerne einladen und mitbringen. Ich würde mich freuen.«

Ich wollte lachen, weil die Idee so absurd war, aber natürlich ließ ich es sein. »Das wird wahrscheinlich nicht passieren, Louis.«

»Okay. Schade.« Er sah auf die Socken hinab. »Ist Liam auch ein Schutzengel? Mentor und Schutzengel?«

»Im Moment ist ihm kein Schützling zugeschrieben. Aber er hat einen Menschen geschützt, ja.«

»Das ist wirklich alles...« Louis' Augen liebten mein Gesicht. »Ich kann einfach nicht glauben, dass die Christen die ganze Zeit Recht hatten.«

Fast hätten sich meine Gesichtsmuskeln wieder selbstständig gemacht. Ich würde aufpassen müssen. »Haben sie nicht. Sie alle nicht.«

»Die Religionen?« Louis wirkte überrascht, aber Überraschung schien für ihn so leicht zu sein wie die Druckregulation seiner Lunge.

»Ja. Sie haben alle Recht und Unrecht. Menschen haben eine prächtige Fantasie und ein löchriges Gedächtnis. Wahrheiten überleben auf der Erde nicht lange. Ihr verformt sie. Wie weichen Ton.« Dessen musste er sich bewusst sein. Er war derjenige, der mich Harry genannt hatte.

»Ihr könnt nicht erwarten, dass wir Wahrheiten schützen, die uns nie gesagt wurden.« Er zuckte mit den Schultern, aber mit der rechten Schulter mehr. »Ich weiß nicht. Das wirkt unfair. Engel sind unsichtbar, aber wir sind diejenigen mit einer prächtigen Fantasie, wenn wir uns nicht alle einig sind, wie sie aussehen? Oder ob sie existieren?«

»Nein.« Es war erstaunlich, wie schnell Louis in seiner menschlichen Natur direkt die Muster bestätigen konnte. »Deswegen wird es nicht von euch erwartet. Und es ist nicht nur die Fantasie. Ihr glaubt an euch selbst mehr als an alles andere.«

Louis' Augen waren trocken und ernst, dann machte sein Hals einen rauhen Ton, wie ein staubiges Lachen. »Gegen den Narzissmus im Menschen brauche ich nicht zu argumentieren.« Endlich faltete er die Socken in einer schnellen Bewegung wieder zusammen. »Aber trotzdem. Wie sollte ich nicht mehr an mich selbst glauben als an etwas, von dem ich nicht mal weiß, ob es existiert?«

»Ich habe dir gesagt, dass Gott existiert und du weigerst dich trotzdem, es zu glauben.« Was absurder war als alles andere. Louis war einer der wenigen Menschen, die eine Antwort erhalten erhalten – etwas Konkretes, wie er vielleicht sagen würde. Und trotzdem stellte er seinen Willen über die explizite Wahrheit. Es war das Menschlichste an ihm. Nicht der Zweifel. Die Gewissheit.

»Ich glaube an Gott, wenn ich ihn sehe. Zeig ihn mir und ich glaube. Versprochen.«

Ich hatte ein viel zu starkes, irrationales Bedürfnis, den Blick gegen die Decke zu richten. Durch die Decke. »Das wird nicht passieren, Louis.«

»Hm.« Falls er auch darüber überrascht war, nahm ich es nicht wahr. Sein Blick fiel, er hob die Hand. »Keine Socken also?«

»Nein.«, bestätigte ich und sah jetzt auch an mir herab. Es waren ungewohnte Farben, wärmer als das Weiß, so viel schwerer. Aber meine Haut hatte sich wenigstens ein bisschen an den fordernden Stoff gewöhnt. »Sehe ich aus wie dein Großvater?«

Louis lachte hell und ich lächelte ohne viel Entscheidungskraft. »Nein. Keine Angst.«

»Ich habe keine Angst.«

»Na dann ist ja alles gut.« Louis lächelte auch. »Alles bis auf eine Sache. Eine Lektion gibt es noch in Sachen Kleidung.« Er nickte sanft in meine Körpermitte und ich bemühte mich, seinem Blick zu folgen. »Hosen. Du musst den Knopf und den Reißverschluss zumachen.«

Ich wusste, welches der Kleidungsstücke die Hose war, aber ich hatte noch nie von einem Reißverschluss gehört. Den Knopf sah ich allerdings, auch das zugehörige Loch, und so erschloss sich der Reißverschluss mit Ausschlussverfahren. »Das?«, fragte ich und berührte vorsichtig die kühlen Metallzähne.

»Das.« Seine Stimmbänder standen unter Spannung.

»Wie mache ich es zu?«

Spannung, die in einem stimmenlosen Lachen verloren ging. »Nach oben ziehen. Das kleine- Ja. Sehr gut. Und der Knopf. Perfekt. Jetzt stimmt das Aussehen.« Er drückte den runden Stoffball aus zwei Socken in seiner rechten Hand zusammen. »Wenn du dich wegen der Füße umentscheidest...sag Bescheid.«

»Werde ich nicht.«, versicherte ich. Jetzt konnte ich also überzeugend als Mensch durchgehen. Es fühlte sich fast aufregend an; der Sinn all der Reibung an meinen Gliedmaßen. »Danke Louis. Für die Kleidung und die Hilfe.«

»Gerne, Harry. Wirklich. Ich freue mich, dass-«

Ein Geräusch aus den Wänden schnitt Louis' Stimme ab, seine Augen wurden größer. Gefahr? Ich konnte keine Änderung sehen und das war wahrscheinlich das Problem. Das hohe Ringen verging. Ohne Zeit mit Nachdenken zu verschwenden, griff ich nach Louis' Händen. Seine Augen wurden noch größer.

»Du musst gehen, Harry.«, zischte Louis leise und eindringlich.

Mir blieb nichts als ungläubiger Protest. »Ich lasse dich nicht alleine.«

Er entzog mir eine Hand und legte sich einen Finger auf die Lippen. Ich hatte gelernt, was es bedeutete. »Shh. Harry, du hast gesagt, du gehst, wenn ich dich darum bitte.«

»Nicht in einer Gefahrensituation!«

»Gefahr?« Louis verzog sein Gesicht. Das Geräusch erklang wieder. »Ich bin nicht in Gefahr. Das ist die Klingel, aber ich erwarte niemanden. Du solltest nicht hier sein. Bitte, Harry.«

Die Klingel. Was für eine Klingel? Was bedeutete ein Klingeln? Was bedeuteten zwei Klingeln? Ich musste es wissen, dringend, aber Louis war entschlossen. Und er hatte recht; ich wollte ihn alleine lassen, wenn er mich darum bat. »Keine Gefahr?«

»Keine Gefahr.«, garantierte Louis sofort. »Bitte, Harry. Ich gehe jetzt die Tür aufmachen. Bitte geh.«

»Okay.«, willigte ich ein, mit Louis' Wort. Um ihm zu zeigen, dass er mir vertrauen konnte. Dass ich ihn respektierte. »Tschüss Louis.«

Louis' Blick zuckte über meinen Körper oder die Kleidung an meinem Körper, aber rückwärts stolperte er schon in den Flur. »Tschüss Harry.«

Er sollte nicht rückwärts laufen und das wollte ich ihm auch noch sagen, aber dann lagen seine Finger schon auf der Klinke der Wohnungstür. Er warf mir einen letzten bittenden Blick zu und ich führte die Finger an meine Schläfe. Louis war nicht in Gefahr, es war nur die Klingel. Nur die Klingel. Nur die Klingel. Ich durfte ihn zurücklassen. Und ich tat es, noch bevor die Tür sich öffnete.

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