𝐗𝐋𝐕𝐈

Mittwoch vergessen, Ostern stattdessen...

☽ ⋆ 𝐋 ⋆ ☾

Ich blinzelte. »Du atmest nicht?«

»Ich muss nicht atmen. Ich habe in deiner Gegenwart geatmet, bis du wusstest, dass ich ein Engel bin. Damit du mich für einen Menschen hältst. Aber ich bin kein besonders guter Atmer.«

Kein besonders guter Atmer. Offensichtlich war ich kein besonders guter Atemdetektor, denn mir war nie aufgefallen, dass Harry nicht geatmet hatte. Seltsam und gleichzeitig überhaupt nicht. Ich konnte mir keinen einzigen Menschen vorstellen, dem es auffallen würde, dass Harry nicht atmete, wenn er sonst normal funktionierte und redete. Aber vielleicht war ich das schwache Glied in der Gleichung.

»Aber wie... Du brauchst keinen Sauerstoff?« Ich versuchte, mir Dinge vorzustellen, aber ich hatte keine Ahnung, was ich mir vorstellte, und es gelang auch nicht.

»Nein.«

»Und du musst nicht blinzeln.«

»Nein.«

Auch das war mir nicht aufgefallen. Obwohl ich gemerkt hatte, dass Harry manchmal seltsam blinzelte. »Werden deine Augen nicht trocken?«

»Nein.«

»Beneidenswert.« Mir fiel nichts anderes ein. »Habe ich beides nicht bemerkt.«

»Wirklich nicht?«, fragte Harry und schien ehrlich überrascht. »Es ist trotzdem essentiell, dass ich es um andere Menschen herum tue.« Zur Bestätigung seiner Worte nahm er einen tiefen Atemzug und blinzelte synchron. Was für ein Betrüger. Er sah aus wie ein Fünfjähriger, der sich vor laufender Kamera ganz normal benehmen sollte. »Ich muss es mir wieder angewöhnen. Und die anderen Manierismen, mit denen ich aufgehört habe, seit du die Wahrheit weißt.«

»Die da wären?«

»Mimik, Gestik. Nicken.« Er nickte, wie ein Roboter. »Oder Kopfschütteln.« Überraschung; er schüttelte den Kopf. »Oder andere Sachen, die du häufig machst. Das hier.« Er zuckte mit großen Augen die Schultern. »Oder das.« Seine Stirn legte sich in feine Falten, aber es sah ein bisschen angestrengt aus.

Ich konnte das Grinsen nicht unterdrücken, auch wenn es ein ungutes Gefühl auslöste, länger darüber nachzudenken, wie genau er anscheinend jede einzelne meiner Bewegungen beobachtet hatte. Und das würde unter seiner offiziellen Supervision wahrscheinlich kaum besser werden. Trotzdem war es amüsant, ihm zuzusehen. »Was mache ich sonst noch so?«

»Das.« Harry legte sich den rechten Zeigefinger auf die Lippen wie gestern im Bus. »Leise sein.«, erinnerte er mich. »Oder das.« Er presste die Lippen in einer nachdenklichen Grimasse zusammen.

Dieses Mal musste ich lachen.

»Und das.«, sagte er lauter, bestätigt. Er signalisierte mit seinem Zeigefinger. »Lachen.«

Ich war ein bisschen enttäuscht, dass er mein Lachen nicht imitierte und noch enttäuschter, dass er nicht sein eigenes, echtes Lachen lachte. Ich würde eine Menge tun, um dieses Geräusch nochmal zu hören. »Aber du lachst auch. Es ist nicht nur etwas menschliches.«

»Nein. Aber für uns ist Mimik nicht kulturell bedingt. Von manchen wird sie verachtet. Ich kann lachen. Alle Engel können es, rein physisch. Aber es gibt nicht viele Anlässe.«

»Das klingt traurig.«

»Es ist nicht traurig. Wir können Emotionen haben, ohne sie nach außen zu zeigen.«

»Wir auch.« Irgendwer musste ja auch mal die Menschen verteidigen.

»Das ist nicht das gleiche, Louis. Für Engel gibt es eine gewisse Entkopplung zwischen Bewusstsein und Körper, weil wir nicht immer an Körper gebunden waren. Wenn ich lache, ist das eine Wahl, die ich treffe. Aber meine Kontrolle schwindet ein bisschen.« Er senkte den Kopf etwas, als würde er sich dafür schämen. »Ich habe Zeit mit dir verbracht und du beeinflusst mich.«

Obwohl es das Normalste und Menschlichste überhaupt war, klang es irgendwie obszön aus seinem Mund. Ich gewöhnte Harry Mimik an. »Was heißt das; Engel waren nicht immer an Körper gebunden?«

Harrys Finger beugten sich und fuhren in sanften Bahnen aneinander entlang, als sie sich wieder streckten. »Das ist eine lange Geschichte. Für einen anderen Tag. Jetzt sollten wir uns um meine menschliche Identität kümmern.«

Es war eine kleine Enttäuschung – oder eher eine große – und zu wissen, dass es eine lange Geschichte war, schmälerte meine Neugier nicht, aber ich würde warten können. Und außerdem, auch wenn es seltsam war; obwohl Harry mir gerade willentlich Informationen verweigerte, war ich mir ziemlich sicher, dass wir heute Morgen eines der echtesten und flüssigsten Gespräche unserer sozialen Karriere führten. Es hatte Zeiten gegeben, an denen Konversationen mit Harry so anstrengend gewesen waren, als würde jedes Wort eine kleine Welt kosten. Aber in diesem Moment war es fast normal, mit Harry zu reden. Es war angenehm.

»Ja. Deine Identität. Harry-«

»Ich darf keine existente menschliche Identität stehlen!«, fiel er mir nachdrucksvoll ins Wort. »Das ist verboten.«

Ich wollte fragen, was sonst passieren würde, aber ließ auch das für heute aus. »Wirst du nicht. Du kriegst deine eigene. Wir haben sie eigentlich schon, größtenteils. Harry, 22 Jahre alt, Kunststudent.«

»Harry, 22 Jahre alt, Kunststudent.«, wiederholte er, als müsste er es sich gut einprägen – dabei war es genau die Lüge, die er mir aufgetischt hatte. »22 Jahre alt.«, sagte er nochmal.

»Ja. So hast du es mir erzählt.«

»Können wir nicht lieber etwas anderes sagen? Was du zuletzt gedacht hast. Dass ich keinen materiellen Wohnort habe und nicht studiere..? Ein Kunststudent zu sein...es ist bei dir schnell als Lüge aufgefallen.«

»Das stimmt. Aber das andere ist keine Option.« Ich kreiste den Tee in der Tasse, die ich mit beiden Händen umschlossen hielt. »Erstens sind die anderen Umstände...weniger unauffällig. Wir könnten schnell Probleme bekommen, wenn du durch die Gegend gehst und sagst, dass du wohnungslos bist. Und zweitens; ich habe schon erzählt, dass du ein Kunststudent bist. Das steht fest.«

»Wem hast du es erzählt?«

Zayn. Niall. Danny – der es wahrscheinlich, um mir in meiner Dummheit einen Gefallen zu tun, in irgendeiner Form der kompletten Kunstfakultät erzählt hatte und potentiell allen anderen Menschen, die er kannte; was so ungefähr ganz Manchester entsprach. Meiner Mum? »Zu vielen.«, gestand ich mit gesenktem Blick.

»Ich habe es auch jemandem außer dir gesagt.«

»Wem?«

»Dem Mann in deiner Universität. In dem Tempel. Mit den roten Haaren und der Brille.«

»Gastrell!« Ein Grinsen kämpfte wieder mit meinen Lippen. Natürlich erinnerte ich mich an das Gespräch, das ich belauscht hatte. »Ja, mein Shakespeare-Professor stellt eine besondere Gefahr da, was den Schutz deiner Identität angeht.«

»Dann sollten wir ihn vielleicht im Auge behalten.«, erklärte Harry ernst.

»Das war Ironie, Harry. Er erinnert sich wahrscheinlich nicht mal an dich.«

»Ironie.«, wiederholte Harry und sein Blick folgte einem weiteren Löffel Porridge bis in meinen Mund. »Aber das ist trotzdem ein gutes Argument. Hast du niemandem davon erzählt, als du dachtest, ich wäre kein Student?«

»Nein. Natürlich nicht.«

»Gut. Dann werde ich sagen, dass ich ein Kunststudent bin.«

Ich rührte die Reste am Boden der Porridgeschüssel um, damit die letzten drei Apfelstücke sich nochmal gleichmäßig verteilten. »Ein Stipendiat. Aber das ist ein kritisches Thema.«

Harrys Augenbrauen zogen sich zusammen. »Ich weiß nicht mal genau, was das bedeutet, Louis.«, gestand er bedauernd.

»Stipendiat?«

»Ja.«

Ich wollte es witzig finden, dass er sich als Stipendiat ausgegeben hatte, ohne zu wissen, was das war, aber das wäre auch nichts Neues. »Dass du über ein Stipendium studierst. Das heißt, du wirst auf der Grundlage sehr guter Leistungen finanziell im Studium unterstützt. Auch wenn ich nicht genau weiß, wie das in der Kunst funktioniert – oder überhaupt. Aber das ist auch das Problem. Es gibt keine Stipendien für Kunst an der UoM.«

»Uh Oh Ähm?«

Oh Gott. »University of Manchester, Harry. Das musst du wissen. Du gehst nicht als glaubwürdiger Student durch, wenn du nicht mal den Namen deiner Uni weißt.«

»Ich werde es mir merken.«, versicherte er und ich hoffte, dass das der Wahrheit entsprach. Ich mochte Harry mit seinem unwissenden Engelsgebrabbel eine Menge durchgehen lassen haben, aber nicht alle Menschen konnten so leichtgläubig sein wie ich.

»Gut. Auf jeden Fall ist das mit dem Stipendium eine Sache, die du nicht mehr erwähnen solltest. Außer wenn jemand, zum Beispiel Zayn, mein bester Freund, dich explizit danach fragt, denn er glaubt, du wärst Stipendiat. Das habe ich ihm erzählt, bevor ich wusste, dass es hier keine Kunststipendien gibt. Also lass diesen Fakt lieber ein bisschen schleifen. Nicht leugnen, aber auch nicht von dir aus erwähnen.«

Harry schien mir noch immer aufmerksam zu folgen, was wenigstens ein ganz gutes Zeichen war. Hoffentlich. Er straffte seinen Rücken. »Ich bin Harry. 22 Jahre alt. Ich studiere Kunst mit einem Stipendium, aber nur, wenn ich gefragt werde.«

»Perfekt.«, lächelte ich. »Du wohnst in Manchester. In einer Wohnung. Okay? Das ist auch wichtig.«

»In einer Wohnung.«, bestätigte Harry.

Ob es klug war, ihm ein Viertel zu sagen, das er auf Nachfrage nennen konnte? Eine Straße, möglichst weit außerhalb vielleicht? Wahrscheinlich nicht. Mit zu vielen Details würde sich nur die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass er aufflog. Und wenn ihn jemand nach seinem genauen Wohnort ausfragte, dann hatten wir vielleicht schon ein ganz anderes Problem.

Wir. Es war nicht zu leugnen. An Harrys Alibi und Scheinidentität hing mehr als nur sein Wohlergehen. Er war meine Verantwortung. Vielleicht war er in der Lage, ein paar unmögliche Zaubertricks möglich zu machen, aber diese Angelegenheit musste ich beaufsichtigen.

»Du kommst aus Leeds.«, erinnerte ich ihn an das, was er mir selbst erzählt hatte. »Vor dem Studium. Dort bist du aufgewachsen.«

»Ich komme aus Lee-« Er brach den Satz ab, Gesicht zu einer Grimasse verzogen. Meine Augen wurden groß, als er seine Zunge herausstreckte, gefangen zwischen seinen Zähnen, rosig-rot, wie ein Tier, eine seltene Sichtung.

»Harry?«, fragte ich verunsichert.

Seine Augen hatte er so stark zusammengekniffen, dass er mich wahrscheinlich kaum sehen konnte. »Es sind so viele...«, er schien seine Zunge förmlich zurück an seinen Gaumen zwingen zu müssen, »Lügen.«

Der Anblick seiner Zunge machte durstig. Ich konnte meinen Blick nicht von seinen Lippen reißen. »Du kannst nicht lügen?«

»Ich kann.« Er sah aus, als wäre er kurz davor, seine Zunge mit seinen Händen zu reinigen, wie ein kleines Kind, das aus Versehen Unaussprechliches gegessen hatte. Fast wollte ich es sehen. »Es ist nur... Es liegt nicht in meiner Natur. Mein Körper wehrt sich.«

Hervorragend. Das machte unser Vorhaben ja nicht unbedingt einfacher. »Aber du kannst schon..? Du wirst es schaffen, zu behaupten, dass du Kunst studierst? Oder aus Leeds kommst?«

Seine Wangen bewegten sich, als müsste er hinter seinen geschlossenen Lippen etwas Verstecktes bändigen. Dann sah er mich wieder entschlossener an. »Es wird schwieriger, je mehr es sich häuft. Je größer der Inhalt und die Anzahl der Lügen sind. Ja und Nein sagen, geht am besten. Wenn ich die Fakten nicht selbst aussprechen muss.«

»Hm«, summte ich, ratlos, was mit diesen Informationen anzufangen war. »Es scheint ein bisschen kontraproduktiv, dass du dein Wesen geheimhalten sollst, aber nicht wirklich lügen kannst. Was hat der Himmel sich dabei gedacht?«

»Ich bin ein Engel, Louis. Und das hier ist ungewöhnlich. Die meisten von uns werden von ihren Menschen nicht mal wahrgenommen. Und diejenigen, die sich offenbaren, offenbaren sich ganz. Keine Lügen notwendig. Dass ich mich jetzt vor anderen Menschen beweisen muss, liegt an der Supervision.«

»Aber«, ich starrte ihn an, »das hier ist nicht die erste Supervision jemals? Oder?«

Er neigte nachdenklich den Kopf, was mich wirklich gar nicht beruhigte. »Nicht die erste. Aber es ist selten. Und es ist...sehr selten, dass beide davon wissen; Mensch und Engel.«

»Okay.« Ich verschaffte mir ein bisschen Zeit, indem ich den restlichen Porridge zusammenkratzte und in meinem Mund zergehen ließ. Ich leckte den Löffel zweimal ab und wusste danach noch immer nicht, was genau ich denken sollte. »Na gut. Hoffen wir, dass du nicht so viel offensiv lügen musst. Und wenn doch... Naja, darum kümmern wir uns dann. Oh. Mir fällt noch was ein.«

»Was?« Harrys Gesicht schien sich wieder einigermaßen erholt zu haben. Wie es sich wohl anfühlte, wenn der Körper sich gegen die eigenen Lügen wehrte?

Ich leerte auch meine Teetasse und schob mich sanft vom Tisch ab. »Ähm...erstmal eine Frage: Es stimmt doch, dass wir generell sicherer sind, wenn du weniger Aufmerksamkeit auf dich ziehst? Richtig? Je weniger Augen auf dir liegen, desto kleiner ist die Wahrscheinlichkeit, dass du entlarvt werden kannst..?«

»Ja.«, nickte Harry langsam. »Siehst du? Ich habe gerade genickt!«

Ich musste das Grinsen unterdrücken. »Gut gemacht, sah toll aus. Jedenfalls, worauf ich hinaus will; wenn wir versuchen wollen, Aufmerksamkeit zu minimieren, dann ist es wahrscheinlich hilfreich, dich besonders gegen Oberflächlichkeiten zu schützen. Und...ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Ah, ich mach's einfach. Dein Aussehen, Harry. Das müssen wir ändern.« Mit beiden Händen griff ich nach meinem Geschirr und war froh, Harry wieder den Rücken zukehren zu können. In der Spüle ließ ich die kleine Schale im einweichenden Topf baden. Ich wusste nicht genau, wie spät es war, aber vielleicht sollte ich den Abwasch lieber nachmittags machen. Ich durfte nicht vergessen, dass ich auch nach Weckerklingeln noch eine Weile im Bett gelegen hatte.

»Mein Aussehen?«, fragte Harry und klang fast ein bisschen panisch. Ich musste ihn wieder ansehen, als er sich mit einer Hand zwischen die Schultern fuhr. Die andere tastete sanft seine Locken ab. »Ich sehe aus wie ein Mensch.«

»Du...ja, naja.« Ich musste ein Seufzen unterdrücken. Ein Thema, von dem ich seit gestern wusste, dass es mir schwer fallen würde. »Du siehst aus wie ein Mensch, aber...kein Unauffälliger.«

»Wieso?« Das Wort fiel von seinen Lippen, als hätte es nie auch nur seinen Rachen berührt.

Ich schloss die Augen, atmete die Luft, auf die Harry nicht angewiesen war. »Komm mit.«, seufzte ich.

Fragen auf seinem Gesicht, aber er folgte mir ins Bad. Ich suchte die richtigen Worte, während ich meine Zahnbürste mit Zahnpasta versehte – es gab sie nicht. Ich schob mir die Zahnbürste zwischen die Zähne und Harrys Blick klebte an mir.

»Dein Kleid.«, gab ich mich schließlich geschlagen, als alle meine Kauflächen sich in Schaum gehüllt hatten. Es tat auf allen Ebenen meines Bewusstseins weh.

Harrys Gehirn schien langsam zu arbeiten, aber irgendwann sah er an sich hinab. »Mein Gewand.«, sagte er. »Du hast es damals schon ein Kleid genannt.«

»Damals?«

»Auf der Wiese.«

Ich musste meine Hand zum weiteren Kreisen der Zahnbürste zwingen. »Beim Farbenpicknick?«, fragte ich überrascht. Die Erinnerung war immer noch mehr als surreal, die Bilder vor meinem inneren Auge ein bisschen zu grell, und wahrscheinlich zur Hälfte erlogen.

»Ja. Du hast mich gefragt, wieso ich ein Kleid trage.«

»Habe ich?«

»Hast du. Es ist mein Gewand.«

»Dein Gewand, tut mir leid.« Gewand. Was für ein dummes Wort. Prätentiös. Wie aus einer schlecht recherchierten Shakespeare-Inszenierung. »Dein Gewand...du solltest es wechseln.«

»Wieso?« Seine ›Wieso‹s klangen mit jedem Mal empörter, schockierter. Als hätte er nicht auch nur im Ansatz die Kapazität, mir zu folgen.

»Weil...es nicht unauffällig ist.« Ich war ganz dankbar dafür, dass der Zahnpastaschaum meine Worte ein wenig verwusch.

»Wieso?« Dieses verfluchte Wort. So viel schlimmer noch, weil er absolut berechtigt war, es zu sagen. »Ich habe einige Menschen in...Kleidern gesehen. Hier, in Manchester. Auch in Leeds.«

Ich spuckte etwas vom Schaum aus, bevor er mir übers Kinn laufen konnte. Die einfachsten Antworten waren die schlimmsten auf der Welt. Es brauchte eine Menge Überwindung und Harrys verzweifelten Blick, um mich sprechen zu lassen. »Das waren Frauen, Harry.«

»Ja; in Kleidern!«

»Und du bist keine Frau.«, sagte ich sanft, in der Hoffnung, es nicht expliziter aussprechen zu müssen.

»Ich bin ein Engel.«, bestätigte Harry.

Wieso konnte die Zahnpasta in meinem Mund keine Säure sein? Dann hätte ich eine Rechtfertigung dafür, dieses Gespräch nicht weiter führen zu müssen. Aber ich hatte keinen Ausweg. Und wie weit brachte es mich schon, mich für die gesamte Dummheit der Menschheitsgeschichte zu schämen?

»Es geht um Unauffälligkeit, Harry, richtig? Hast du selbst gesagt.« Ich spuckte den Rest des Schaums aus und sah Harry ohne Zahnbürste im Mund an. »Es ist weit-gesellschaftlich nicht akzeptiert, dass...Menschen, die nicht eineindeutig wie Frauen aussehen, Kleider tragen.«

Seine Augen waren groß und grün. Oh, ein perfekter, kleiner Engel. Unschuldig in seiner Hoffnung an die Menschheit. »Wieso?«

Frustriert warf ich meine Zahnbürste ins Waschbecken. »Sozialisierung, Harry! Intoleranz! Dummheit!« Ich drehte mich wieder von ihm weg, drehte den Wasserhahn auf. »Glaub mir, ich würde dich sehr viel lieber dein Klei- dein Gewand tragen lassen und dir erklären, dass Kleidung nichts damit zu tun hat, wie andere Menschen dich wahrnehmen. Und es ist schrecklich, dass ich das im Jahr 2013 nicht einfach tun kann, aber wenn wir versuchen, dir ein gutes Alibi zu erschaffen, dann...dann dürfen wir nicht naiv sein.«

»Jahr 2013?«

Ich legte Harrys Skepsis beiseite, ebenso meine ausgespülte Zahnbürste und schöpfte Wasser mit meinen Händen zu meinem Mund. »Es ist schrecklich...das weiß ich...wirklich.«, sagte ich zwischen Wasserstrudeln in meinem Mund. »Ich würde dich gerne darin unterstützen, einen Kampf gegen die Intoleranz zu führen, indem du trägst, was du willst, aber dann kann ich dir auf jeden Fall garantieren, dass jedes deiner Wörter dir fünfmal im Mund umgedreht wird. Was gar nicht gut klingt, wenn das hier deiner allgemeinen Kenntnis von Gesellschaftsnormen entspricht. Und wenn du dann auch noch an jeder dritten Lüge erstickst, dann... Ich glaube, du hast keine große Wahl. Leider. Du musst etwas anderes tragen.«

Ich trocknete meine Hände ab, meinen Mund. Harry sah wieder an sich herab, die Wogen weißen Stoffes, nackte Füße auf den Fliesen. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass ich nicht sagen konnte, wie lang Harrys Kleid war. Oder Gewand. Der Saum verlor sich, irgendwo über seinen Beinen, aber die Grenze verschwamm wie in Nebel gehüllt. Je mehr ich meine Augen anstrengte und auf ein klares Ende zu fokussieren versuchte, desto unmöglicher schien es. Wie war mir das noch nie vorher aufgefallen?

Ich wollte ihn fragen, was es damit auf sich hatte, aber in dem Moment sah Harry auf. Seine Mundwinkel schliffen, seine Augen schienen ihnen folgen zu wollen. Vielleicht war es das erste Mal, dass ich ihn traurig sah. Es war so eindeutig Trauer, so pur und ungefiltert, dass vielleicht der Boden unter unseren Füßen vergehen würde. Etwas in meinem Inneren stach. Ein Loch in meiner Brust, Vakuum.

»Ich möchte nicht.«, sagte er mit unsteter Stimme und ohne Trotz, ohne Frustration. Nur vorstehende Niederlage färbte die Enden seiner Wörter.

Ich war der grausamste Mensch der Welt. »Es tut mir leid, Harry.«

»Ich will das hier tragen.«

»Es ist nicht nur die Intoleranz der Leute.«, versuchte ich es weiter, um mich nicht absolut abscheulich zu fühlen. »Dass du jeden Tag das Gleiche trägst; auch das ist nicht unbedingt unauffällig. Und außerdem...es ist Herbst. Bald Winter.«

»Viele Tiere tragen im Winter einen weißen Pelz.«

»Es geht nicht um die Farbe.«, fiel ich ein – auch wenn das nicht ganz stimmte. Dass sein Gewand strahlend weiß war, half garantiert nicht. Harry sah dauerhaft aus, als wäre er auf dem Weg zu seiner eigenen Hochzeit. Und alleine die magnetische Wirkung auf meinen eigenen Blick sagte mir genug, um zu wissen, was an dieser Stelle die einzig plausible Entscheidung war. »Würdest du es zulassen wollen, dass ich barfuß in einem luftigen Kleid draußen herumspaziere, wenn sogar der Boden schon gefriert?«

Die Einsicht sprang direkt von seinem Gesicht. Das war also das Geheimnis; ich musste an die schützende Natur seines Schutzengel-Seins appellieren.

»Kein Mensch«, fuhr ich also fort, »mit ausreichenden Mitteln würde bei diesen Temperaturen so rumlaufen. Aus guten Gründen. Wenn du also, ohne Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen, als einer von uns durchgehen willst...« Ich überließ ihm den Rest des Satzes. So hart musste ich nicht sein.

Er erwiderte nicht direkt etwas und ich nahm es als Zeichen, dass er einen kurzen Moment der Ruhe zur Akzeptanz brauchte. Hoffentlich Akzeptanz. Ich nutzte die Chance, um das Bad zu verlassen und machte mich auf die Suche nach meinem Rucksack. Er lehnte an meinem Schreibtisch. Harry war mir hinterhergetaumelt, aber ich fühlte mich nur semi-beobachtet, während ich erst mein Laptop, dann Handy, Ladekabel, Wasserflasche und die ›Canterbury Tales‹ im Rucksack versinken ließ. Ich zog noch einen dickeren Pullover aus einem Kleiderhaufen, um wärmer angezogen zu sein als gestern. Dann, mit dem warmen Stoff zwischen den Händen, blieb ich wieder vor Harry und seinem aufgewühlten Gesicht stehen.

Er schien sich einen Stoß zu geben. »Ich würde dich und mich beschützen, wenn ich das Gewand ablege.«, verkündete Harry leise kapitulierend. »Aber ich habe nichts anderes.«

Ich wollte ihn in den Arm nehmen. Er sah auf einmal so klein und verletzlich aus; als wäre es wahrscheinlicher, dass die Schwerkraft seine Schultern brechen würde, als dass er sie überwinden könnte. Tote Hände an seinen Seiten, Wangen, die schmelzen wollten.

»Du kannst etwas von mir haben. Müsste ungefähr passen. Aber...«, ich erkannte den Fehler, während ich es aussprach, »Aber das ist keine permanente Lösung.«

Ich wartete auf sein zungenloses ›Wieso?‹, aber es folgte nicht. Er sah nur stumm zu meinem Kleiderschrank hinüber. Ich kam seiner stillen Frage entgegen und öffnete eine der Türen, zog einen dunklen Pullover hervor. »Meine Kleidung mag dir einigermaßen passen und ich hab genügend, um uns irgendwie beide zu versorgen, aber...es gibt Menschen, die wissen, was du trägst. Wenn du Zayn kennenlernst und er sieht, dass du meine Sachen trägst... Gar keine gute Idee.« Besonders nicht, nachdem er herausgefunden hatte, dass Harry eine Nacht bei mir verbracht hatte – was im Nachhinein nicht mal stimmte – und jetzt davon ausging, dass zwischen uns etwas lief. Das war eine Annahme, die ich definitiv nicht mit meinem Leichtsinn füttern durfte. Und das nicht mal, weil es Harrys Alibi stürzen könnte. Ich wollte einfach so wenig Zeit wie möglich damit verbringen, darüber nachzudenken, wie es wäre, mit Harry-

Seine Finger berührten kurz meine, als er mir den Pullover abnahm. Mit beiden Händen hielt er ihn am Ausschnitt von sich weg.

»Probier ihn an.«, ermutigte ich, auch wenn es nichts brachte. »Ich habe bestimmt noch ein paar Sachen, die ich nie getragen habe. Von meiner Nan zu Weihnachten, oder so. Die kannst du anziehen. Die erkennt selbst Zayn nicht. Und- warte. Meine Nan!« Aufregung floss durch meine Adern, als wäre die Idee flüssiger Zucker. »Sie hat gerade bei sich aufgeräumt. Aussortiert. Ich habe die Kartons mit den alten Sachen gesehen, von meinem Grandad. Die könnte ich haben! Du. Was denkst du?« Ich strahlte ihn an und hoffte, dass der Einfall nicht komplett dämlich war. War er das? Wie seltsam wäre es, wenn Harry die Kleidung meines verstorbenen Grandads tragen würde? Nicht zu seltsam, oder? Es wäre immerhin nicht seltsam, wenn ich die Sachen meines verstorbenen Grandads tragen würde, und dann wäre eine Situation nicht abwegig, in der Harry meine Sachen trug. Außerdem galten für Harry sowieso andere Regeln. Er war nicht mal ein Mensch. Für ihn bedeutete es wahrscheinlich nicht mal etwas, irgendwelche Shirts aus der Jugend meines Grandads zu tragen.

»Ich weiß nicht, was ich denke.«, bestätigte Harry irgendwie meine Vermutung. Er sah immer noch den Pullover an, dann meinen Oberkörper in meinem Pullover, bis er sich traute, den Ausschnitt über seinen Kopf zu ziehen. Erst sah ich seine Locken, dann seine Stirn, Nase, und schließlich sein ganzes Gesicht. Als der Rest des Pullovers leblos mit Ärmeln vor seiner Brust hing, musste ich trotz allem lachen.

Er war so naiv und ahnungslos, dass es nur gespielt sein konnte. Und wenn ich diese Dinge jetzt täglich sehen würde, müsste ich gewaltig aufpassen, mich nicht einfach so zu verlieben. Ein verbotener Gedanke, aber vielleicht skandalös genug, um mich abzuschrecken. Ich ging auf ihn zu, hielt den Pullover um seine Schultern auf.

»Linker Arm.«, leitete ich an und mit viel Gerangel und konzentriert-verzweifelten Blicken schaffte Harry es nach gut einer Minute den linken Arm einzufädeln. Der rechte folgte mit wenig dazugewonnener Eleganz und schließlich konnte ich den unteren Saum über seine Brust und den unsichtbaren Bauch hinunterziehen, ohne ihn zu sehr zu berühren. Aber zum ersten Mal streifte ich mit meinen Fingerknöcheln den Stoff seines lichtweißen Gewandes und dann war ich mir nicht mehr sicher, ob ich es guten Gewissens mit einem so plumpen Wort wie ›Stoff‹ beschreiben konnte. Aber es gelang uns letztendlich, Harry neu anzuziehen. Zufrieden und immer noch an der Grenze eines schwebenden Lachens trat ich wieder ein paar Schritte zurück.

Harry stand da wie ein Stock, wie eine Vogelscheuche, wie ein verstörtes Ausstellungsstück. Arme leicht von sich gestreckt und Augen unter Spannung starrte er mich an, als wäre ich es, der sich hier irrational benahm. Der tiefe Schnitt des Pullovers verlor sich auf seiner Hüfte, ging weit in einen weißen Rock über und retuschierte seines Taille so weit, dass es schwer war, überhaupt noch an eine Taille unter der doppelten Schicht Stoff zu glauben. Er sah aus wie ein Kleinkind in der Kleidung seiner Eltern oder eine Katze mit Hut auf dem Kopf, als würde jede Faser seines Wesens der nachtblauen Wolle um seinen Oberkörper widersprechen. Ich konnte mich kaum sattsehen.

»Okay, das ist offensichtlich nicht die Endlösung, aber, hey; von der Größe her können wir auf jeden Fall teilen!« Ich bemühte mich, ihn mit meinem Lächeln aufzumuntern. »Du darfst dich bewegen, Harry. Mein Pulli ist nicht toxisch.«

»Er ist schwer.«, keuchte Harry mehr, als es nicht zu tun. »Und er ist... Louis, er ist so anders.«

»Du wirst dich dran gewöhnen.«, versprach ich optimistisch, ohne auch nur den blassesten Schimmer zu haben, wovon ich redete. »Gut. Wieder ausziehen. Den Pulli kriegst du sowieso nicht; den trage ich viel zu häufig. Zu auffällig.«

Auch ich brauchte dieses Mal ein paar Versuche, um herauszufinden, dass es am leichtesten ging, wenn Harry passiv die Arme in die Luft streckte und mich den Rest machen ließ, aber die Geste schien so ausfallend zu sein, dass Harry zuerst mit jedem weiteren Zentimeter mehr zögerte. Aber auch das schafften wir irgendwann. Als ich Harry den Ausschnitt mit einem letzten Ruck über den Kopf zog, waren unsere Gesichter sich so nah, dass ich die Elektrizität seiner aufgeladenen Haare spüren konnte. Aber die dunklen Locken fielen schnell wieder dick auf seinen Kopf zurück, und ich stolperte nach hinten.

»Gut. Sehr gut. Ein produktiver Morgen, würde ich sagen.«, verkündete ich und vermied den Blick auf Harrys angestrengte, rote Wangen und die zwei Strähnen, die sich zu weit in seine Stirn verirrt hatten. »Ich muss jetzt los. Ich bin wahrscheinlich schon spät dran. Warte.« Ich angelte mein Handy wieder aus dem Rucksack hervor und checkte die Uhrzeit. »Oh. Ja. Spät.«

Ich war spät dran, aber es war keine Verspätung, die ich nicht noch aufholen können würde, indem ich fleißig in die Pedale trat. Aber das musste ich Harry jetzt nicht erklären. Also trug ich meine Sachen in den Flur und zog meine Jacke an. »Wir sind doch ein bisschen vorangekommen. Oder? Gute Supervision?«

Vielleicht überrascht, dass ich die Frage an ihn richtete, sprang Harrys Blick von meinen Füßen auf, die sich in ihre Schuhe einfädelten. Er streckte seinen Rücken, atmete ein und dieses Mal war ich sensibilisiert genug, um ihn langsam blinzeln zu sehen. »Ich heiße Harry, bin 22 Jahre alt, wohne in Manchester, England, in einer Wohnung und komme aus Leeds. Ich«, er blinzelte nochmal, atmete jetzt wirklich, als würde die Luft ihn für die weiteren Lügen stärken, »studiere Kunst. Als Stipendiat.«

»Im ersten Semester.«, erinnerte ich ihn, weil es mir wieder einfiel. »Du bist Ersti.« Er sah skeptisch aus, aber ich beließ es dabei. »Gut gemacht. Identität sitzt.«

»Worauf?«

Mit fragend hochgezogenen Augenbrauen öffnete ich die Tür, angelte nach dem Schlüssel. »Worauf?«

»Worauf sitzt die Identität?«

»Auf...Harry, sie sitzt wie ›sie ist gefestigt‹. Du hast dir alles gemerkt.«

»Okay.«, akzeptierte er und trat mit mir in den Flur, bevor ich ihn fragen konnte. »Ich habe ›okay‹ gesagt.«, sagte er, während ich die Tür abschloss. »Das hast du mir beigebracht.«

Als könnte ich das vergessen. Wie hatte ich so dämlich sein können? Als würde es irgendeinen Menschen des 21. Jahrhunderts geben, der nicht wusste, was ›okay‹ bedeutete. »Der Himmel hängt ein bisschen hinterher, was Sprache angeht. Wenn du mich fragst.«

Harry war zu konzentriert auf die Stufen. »Ich werde das Wort verkünden. ›Okay.‹«

Was auch immer das bedeuten sollte. Würde Harry sich in die Lüfte schwingen und mit einer goldenen Trompete wirklich eine Botenrolle einnehmen? Ich musste definitiv noch mehr darüber herausfinden, wie der Himmel funktionierte – und was Engel taten, wenn sie nicht gerade Leben retteten. Falls sie das überhaupt jemals taten. »Also. Harry. Ich werde jetzt zur Uni fahren, und du?« Vielleicht fühlte es sich weniger wie ein erbarmungsloses Verbannen an, wenn ich es ihn selbst sagen ließ.

»Ich kehre in den Himmel zurück.«

Ich konnte nicht heraushören, welche Emotion mitschwang. »Was machst du dort?«

»Bericht erstatten, denke ich.«, sagte er, aber klang sich nicht ganz sicher.

»Bericht erstatten über mich

»Über deine Supervision.«

An den engen Wendestellen der Treppe passten wir nicht nebeneinander, so hatte ich Harry überholt und lief vor ihm. Ich mochte nicht wirklich, was er sagte. Überhaupt nicht. »Wirst du immer direkt Bericht erstatten müssen? Über jede Bewegung, die ich mache?« Glaubte wirklich irgendwer da oben ernsthaft, dass ich – geplant oder aus Versehen – die Weltherrschaft an mich reißen würde?

Ich sah Harry nicht, aber ich spürte ihn direkt hinter mir. Seine Schritte waren, natürlich, unhörbar. »Meine Vermutung ist, dass sie nur jetzt in den ersten Tagen Rückerstattung fordern. Und dann nur, wenn ich es für nötig halte. Liam wird mehr wissen wollen, aber das ist etwas anderes.«

»Wieso?« Endlich war ich mal an der Reihe.

»Weil er mein Mentor ist.«

Natürlich. Die einzig plausible Antwort, wie immer. Ich wollte nachfragen, was das wirklich bedeutete, Mentor, aber jetzt war wahrscheinlich nicht mehr die Zeit dafür. Wir hatten den unteren Hausflur erreicht. »Aha.«, war also der Füller für die endlosen Fragen, die ich jetzt nicht stellen konnte. »Ich muss kurz mein Fahrrad holen.« Direkt bog ich in den dunklen Fahrradkeller ab. Ich hielt die quietschende, alte Holztür hinter mir auf, aber zu meiner Überraschung folgte Harry mir dieses Mal nicht. Auch okay. Ich lief die Stufen runter, dann mit Fahrrad wieder hoch.

»Wann bist du wieder hier?«, fragte ich, als ich mein Fahrrad absetzen und durch den engen Hausflur schieben konnte.

»Das weiß ich noch nicht.«, war seine unschlüssige Antwort. Wonach es wohl ging? Besuchte er mich nach Lust und Laune oder hatte er Vorschriften, und wenn ja, von wem? Gott? Nicht, dass ich daran glaubte. Harry mochte ein Engel sein, aber dass ein Gott existierte, glaubte ich erst, wenn ich es mit eigenen Augen sah.

»Na gut. Wir werden es ja sehen.« Trotz Fahrrad schaffte ich es auch mit der Haustür, sie ein bisschen länger für Harry aufzuhalten.

Aber er schüttelte den Kopf. »Ich bleibe hier drin. Weniger Menschen. Das Reisen ist sicherer.«

Es war eine nicht allzu überraschende Antwort, aber ich musste trotzdem lächeln. Wahrscheinlich rechnete Harry es sich gerade hoch an, dass er den Kopf geschüttelt hatte, ohne es zu kommentieren. Oder vielleicht lag es auch an dem offenen Treppenhaus, in dem wir standen. Auch wenn ich mir sehr sicher war, dass wir alleine waren.

»Tschüss Louis.«, sagte Harry, bevor mir etwas anderes einfiel, und nahm mir die Tür ab. Ich konnte mein Fahrrad vollständig auf die Straße ziehen. Es war kühl, aber nicht so kalt wie gestern und der Asphalt war dunkel und traurig vom gefallenen Regen der Nacht.

»Tschüss Harry. Viel Spaß im Himmel!« Ich trug mein Fahrrad die kleine Treppe hinunter und schwang ein Bein über den Sattel. Trotzdem sah ich noch Harrys verwirrtes Gesicht. Falls er vorgehabt hatte, zu antworten, kam ich ihm zuvor. »Bis dann!«, rief ich und trat in die Pedale. Als wäre das alles ganz normal. Als hätte ich mich schon daran gewöhnt, dass mein Schutzengel meine Morgenroutine begleitete und mich bis zur Tür brachte, wie meine Mum, als ich noch zur Grundschule gegangen war. Ich lächelte in den Gegenwind. Ich hatte mich nicht an Harry gewöhnt. Aber das musste ja nichts Schlechtes heißen.

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