𝐗𝐋𝐈𝐈
☽ ⋆ 𝐋 ⋆ ☾
Es dauerte doch noch ein paar Minuten, bis ich meine Fragen stellen konnte. Bevor sich mein Kopf für eine hatte entscheiden können, war Harry nämlich wieder aufgestanden und hatte darauf bestanden, dass ich erst etwas trinken musste – dieses Mal war das Glas nicht gefallen. Und um Harry zu beruhigen, hatte ich gleich eine kleine Kanne mit Wasser befüllt und war jetzt jederzeit dazu bereit, mehr mehr mehr zu trinken.
Es war seltsam. Vor kaum 24 Stunden hatte ich Harry versprochen, ihm nie wieder Essen und Trinken anzubieten, aber dafür füllte er mich jetzt mit Leitungswasser ab wie einen Wasserballon. Ziemlich unfair eigentlich.
Wir setzten uns auf seine Matratze, denn der Boden war mittlerweile wirklich zu kalt. Und auf einmal fühlte es sich weniger wie ein Eindringen in seine Privatsphäre an als vorher. Er war ein Engel. Was sollte ihm diese Matratze bedeuten, auf der er eine Handvoll Nächte verbracht hatte?
Ein Engel. Auch wenn ich ihm eben etwas anderes versichert hatte, konnte ich nicht sagen, wie sehr ich ihm glaubte. Ich glaubte ihm, wirklich, meine Fußknöchel kribbelten immer noch von dem verlorenen Kontakt zur Erde. Meine Muskeln glaubten ihm, meine überschlagenden Gefühle glaubten ihm, nur meine Vernunft verweigerte jeglichen Kommentar. Ich glaubte ihm, aber es fühlte sich an, wie an eine Lüge zu glauben.
Er saß gerade, und wir wussten beide, dass wir darauf warteten, dass ich etwas sagte. Er saß einfach dort, als könnte er nicht auch auf Luft und seiner Willenskraft sitzen, wenn er nur wollte. Das Glas in meinen Händen war zu schwer dafür, dass es halbvoll war. Oder vielleicht hatte die Schwerkraft an Gewicht gewonnen, seit Harry sie mich überwinden lassen hatte. Das Wasser verzerrte das Bild meiner Füße auf der blassen Decke. Ich stellte das Glas ab, bevor ein weiteres Missgeschick passieren konnte.
Ich sah meine Finger an. Alles wie immer, meine Nägel zu kurz, um dreckig zu sein. »Du weißt, wann ich Durst habe?«, fragte ich mit Worten, die meine Lippen, aber noch nicht vollständig meinen Verstand erreicht hatten.
Harry neigte leicht den Kopf zur rechten Seite. »Ich spüre es, wenn dein Blut zu dick wird. Und wenn deine Nerven richtig funktionieren, sollten das die Momente sein, in denen du Durst empfindest.«
Das ziehende Bedürfnis, auf die blauen Adern an den Innenseiten meiner Handgelenke herabzublicken, zupfte an dem Blick auf Harry, aber ich widerstand. »Du spürst mein Blut?«
Seine Augen suchten meinen Hals. »Ja. Wenn ich will.«
Die Information war zu groß für mich, und der Faktor der Kontrolle machte es schlimmer. »Wenn du willst?« Schwamm Harry in meinen Blutgefäßen, jetzt, irgendwo in meinem Körper?
»Ja. Wenn ich will, dann suche ich nach dir. Oder ich suche spezifisch nach deinem Blut. Es gehört nicht zu meinem generellen Gefühl von Sicherheit über dich.«, erklärte er, als wäre es nichts.
Und ich wusste, wie Sprache funktionierte. Ich wusste, welche Bedeutung mit seinen Präpositionen mitschwang, aber was sollte ich tun? Tatsächlich darüber nachdenken, was Harrys Worte für mich bedeuteten? Nie im Leben.
Es schien eine rationale Entscheidung zu sein, seine Lippen anzusehen. »Du suchst nach mir, wenn du willst, aber wenn du nicht willst... Was tust du dann? Wenn... Was bedeutet Schutzengel?« Allein das Wort war absurd. Das letzte Mal, dass ich über das Konzept nachgedacht hatte, musste als kleines Kind gewesen sein. Eine Geschichte für Kinder, das musste es sein. Gedanken wie Glück und Pech und Schicksal und Zukunft waren zu groß für Kinder, und das war immer der Ursprung buntester Fantasien gewesen.
Nur, dass es Fantasien gab, die wahr wurden.
»Ein Schutzengel ist ein Engel, der Menschen schützt.«
»Ja, aber...Schützen; was bedeutet das?«
»Dass ich versuche, dich vor den Konsequenzen einer Gefahrensituation zu bewahren, in die du dich gebracht hast.« Er redete, als könnte es nicht trivialer werden. Ich wollte ihn an den Schultern greifen und nicht loslassen – um zu sehen, dass er wirklich existierte, und ihn wissen zu lassen, dass dieses Gespräch für mich nicht normal war. Aber ich durfte ihn nicht anfassen...oder doch?
»Harry, wieso darf ich dich nicht berühren?«, fragte ich und wollte mir direkt die Zunge ausbeißen. »Also, wenn das nichts Persönliches ist! Du musst das natürlich nicht sagen! Ich bin nur...es tut mir leid, ich weiß nicht, wieso ich das gerade einfach so direkt gefragt habe. Ich bin ein bisschen verwirrt, die Engelsache... Dass du ein...ein Engel bist, heißt ja nicht, dass du kein Me- oh, doch, genau das heißt es. Oder? Warte. Engel sind keine Menschen, richtig?« Mein Gaumen wusste besser als der gesamte Rest von mir, dass es für mich noch eine Lüge war, das Wort einfach so auszusprechen. Engel.
Harry starrte mich an, meine Augen, Stille, und dann fing er an zu lachen. Ich wusste es direkt, ich wusste es fast, als er noch Luft geholt hatte, aber es war so klar, so eindeutig, dass mir beinahe die Luft wegblieb. Es war das erste Mal. Ich hörte zum ersten Mal Harrys Lachen. Richtig? Weich wie Wasser, genauso klar. Harry lachte und auf einmal war es nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich, dass er die Wahrheit sagte. Lachen und Stimme und sein rosa Mund. Wer lachen konnte wie Perlen auf der Zunge, musste ein Engel sein.
»Engel sind keine Menschen.«, sagte Harry, als sein Lachen gefallen war. Ich wollte es aufheben und zurück in seinen Mund schieben, mit kalten Fingern bis in seinen weichen Rachen. Wie konnte ich ihn nochmal zum Lachen bringen? Wie speicherte ich seine Leichtigkeit in meinen Ohren? »Engel sind Engel.«
Ja. Einfach. Vermutlich versuchte er mich nicht anzusehen, als wäre ich ein kompletter Idiot. Aber ehrlich gesagt war mir das an diesem Punkt ziemlich egal. Wenn Harry ein Engel sein konnte, durfte ich auch ein Idiot sein. Vielleicht war das alles nicht mehr so wichtig.
»Engel sind Engel.«, wiederholte ich langsam und war mir nicht sicher, ob irgendein Teil von mir sich über ihn lustig machte. Wenn es ihn gab, dann existierte er wahrscheinlich nur, um mich daran zu hindern, einen kompletten Nervenzusammenbruch zu durchleben. Wie viele an Schizophrenie leidende Menschen waren wohl fähig zur korrekten Selbstdiagnose?
»Ja.«, bestätigte Harry und immerhin lächelte er.
Ich zog meinen linken Fuß näher zu mir. »Okay. Und du bist ein Engel...aus dem Himmel.«
»Ja.«, wiederholte er zufrieden.
»Aus dem Himmel.«
»Ja.«
»Der Himmel..?«
»Ja, Louis.«
»Der Himmel existiert also.«
Harry lächelte wieder, aber dieses Mal hatte ich das Gefühl, er tat es eher für mich als alles andere. »Natürlich.«
»Natürlich.«, wiederholte ich auch das, weil ich langsam nicht mehr viele andere Optionen übrig hatte. »Natürlich existiert der Himmel. Natürlich existieren Engel.« Mein Fußknöchel sah schwer aus auf der Matratze. Ich musste den Blick wieder heben. »Harry.« Es gelang mir nicht, meine Stimme für eine Frage zu drehen.
»Louis?«
»Der Himmel und Engel...«, begann ich, aber es war schwierig, die weiteren Gedanken zu verbalisieren, wenn die letzten sich noch nicht mal ansatzweise gefestigt hatten. »Himmel und Engel...ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Ich werde einfach... Harry.« Es ging nicht anders, ich musste schlucken. »Gibt es einen Gott?«
Für ein paar Sekunden hing die Frage zwischen uns wie ein Pendel. Wie Harry und ich, als wir in der Luft geschwebt waren. Vielleicht waren es keine Sekunden, vielleicht war es länger oder kürzer, aber als Harry »Ja.« antwortete, war ich einfach nur erleichtert, dass er nicht ›Natürlich‹ gesagt hatte.
Dass die Antwort Ja war, brauchte ein bisschen länger, um meine Ohren zu passieren. Ja. Harry sah nicht glücklich aus, und sogar ich wusste, dass mein Herz wie eine Pauke bis in meine Wangen schlug. Ja. Stell deine Fragen, Louis. Ich bleibe, bis dein Herz sich beruhigt hat. Und, ach ja, Gott. Existiert. Natürlich. Ja.
Jetzt war ich mit Lachen dran. Es war gezwungen und zu hoch und klang nicht mal ironisch. Harry wartete, mit seinen Engelsaugen und den Engelslocken und den Lippen direkt aus der Hölle. »Ich habe schlechte Nachrichten.«, sagte ich und hätte meiner Stimme nicht viel weiter getraut. Ich verschränkte meine Hände mit so viel Kraft, dass es nicht viel Zeit brauchen würde, bis meine Fingerkuppen abfielen. Kurz wog ich ab, wie gut es wäre, nochmal zu lachen, aber wo war die Grenze zur Hysterie? Ich ließ es sein.
»Was sind die schlechten Nachrichten?«, hakte Harry nach, mit Besorgnis und Verwirrung. Seine Stimmbänder waren leichter zu lesen als seine Mimik.
Ich räusperte mich, aber es gab nichts zu räuspern. »Also ich weiß nicht, ob das deine...Arbeit kompromittiert oder... Harry, es... Ich glaube nicht an einen Gott oder an...eine andere Entität, die...« Worte weigerten sich. »Ich glaube nicht an Gott. Tut mir leid. Disqualifiziert mich das für...die Schutzengelsache?« Ein Blick in Harrys Augen und ich war verunsichert genug, um direkt weiterzureden. »Ich bin...ich weiß nicht, ›Atheist‹ fühlt sich gerade wie ein großes Wort an, und an manchen Tagen bin ich wahrscheinlich Agnostiker, aber vielleicht nur, um Extreme zu meiden, und mehr definitiv auch nicht, und ich will dich nicht anlügen, falls das überhaupt geht... Gott. Das ist ein großes Konzept. Und es ist nicht, dass ich dir nicht glaube, nur... Ist das schlimm? Darfst du mich trotzdem...beschützen?« Ich fragte die Fragen, ich sprach sie aus, Atem verformte sich, aber ich wusste nicht, ob ich wirklich fragte.
Vielleicht hatte ich mir gewünscht, Harry wenigstens ein bisschen perplex zu sehen, kalkulierend überfordert, ein Ausdruck, den ich so gut auf seinem Gesicht kannte. Aber die Geduld wollte nicht schwinden. »Ich darf dich beschützen, Louis. Dafür ist es irrelevant, ob du an Gott glaubst.«
Gott. Es klang anders aus seinem Mund, nicht nur groß; vertraut. Als könnte er die Existenz eines Gottes alleine über die Verformung seiner Mundhöhle belegen. Gott. Meine Augen schlossen sich zum Blinzeln und wollten sich nicht wieder öffnen, meine Lider schwarze Leinwände für das Unvorstellbare. Gott? Bilder schwommen durch meinen flammenden Verstand, aber sie blieben nicht und ich wusste ganz genau, wie sehr ich mich selbst belog. Ich wusste nichts und ich wusste nicht, wie viel ich wirklich wissen wollte. Ich konnte Harry seine Aussage nicht absprechen, und ich glaubte ihm. Aber Harry zu glauben, bedeutete nicht gleich, an Gott zu glauben. Rote Schwärze und ich öffnete die Augen wieder.
»Gott ist es egal, ob ich an ihn glaube?«
»Alle Menschen verdienen Schutz.«
»Schutz wovor?«
»Gefahr.«
Das Lachen machte sich wieder selbstständig – ungläubig, unzufrieden. »Es werden aber nicht alle Menschen vor allen Gefahren geschützt.«, erinnerte ich ihn oder vielleicht erinnerte ich ihn nicht, vielleicht hatte er keine Ahnung. »Es ist doch- Ich weiß nicht, darf ich einen Engel kritisieren? Falls es wirklich euer Job ist, uns vor Gefahr zu schützen, dann seid ihr nicht besonders gut darin, oder? Und das ist nicht die Einundzwanzigstes-Jahrhundert-Perspektive. Menschen sterben, sterben, sterben. Was hat ihnen der Schutzengel gebracht?«
»Menschen sterben, Louis. Menschen müssen sterben.« Seine Stimme hatte sich eine Sicherheit und Tonlage angeeignet, die ich an ihm nicht gewohnt war. Ich wusste nicht, ob ich dieses tiefe Summen seinem springenden Singsang vorzog, wenn er mit jeder einzelnen Gesprächswendung überfordert war. Aber jetzt sprach er, als wären das für ihn die Fakten des Lebens; eine so unumstößliche Basis, dass sogar sein Kehlkopf auf ihr ruhen konnte.
»Nein, ich meinte- Ja. Ich meine nicht den natürlichen Tod, logischerweise. Aber was ist mit all den Menschen, die jung sterben, oder jünger? Du weißt doch, was ich meine, oder? Menschen, die länger leben könnten. Sollten. Wieso lassen die Engel das zu?«
Harrys Blick wanderte von meinem linken zu meinem rechten Auge. »Was ist ein natürlicher Tod?« So schnell war seine alte Stimme zurück.
Eine Sekunde lang wollte ich es für einen Scherz halten, eine Karikatur seinerselbst, um die Widersprüche aufzutürmen. Aber seine Finger warteten geduldig auf die Antwort und zerbrachen mich so sehr wie die eigentliche Frage. »Natürlicher Tod?«, fragte ich, weil irgendein Teil von mir sich versichern musste, dass ich nicht doch alles halluzinierte. Sicherheitsüberprüfung meines Lebens.
Harrys Augen waren größer als in den letzten Minuten – wie, als ich ihn kennengelernt hatte. »Alle Tode sind natürlich.«
Ich blinzelte mehr als probeweise. »Was?« Verlor ich allen Faden dieses Gespräches? »Nein. Das meine ich nicht.«
»Was ist ein nicht-natürlicher Tod, Louis?«
»Ein...naja, nicht natürlich eben. Nicht im hohen Alter, wenn du irgendwann einschläfst.«
»Ich schlafe nicht.«
»Du- was?« Etwas tickte in meinem Kopf. Oder vielleicht war es noch immer das Blut. Oder schon wieder. Oder eine weitere Halluzination. Ich wollte meine Augen wieder zusammenkneifen, aber ließ es sein.
»Ich schlafe nicht. Und, Louis, Schlaf ist kein Tod.«
»Du schläfst nicht?« Mein Schädel...irgendwas war los. Wie das Vibrieren einer Membran, die mein Gehirn umhüllte, vage, zitternd, ein riesiger Schmetterlingsflügel.
»Nicht mehr. Ich kann. Ich könnte, aber ich brauche es nicht und ich habe gelernt, der Versuchung standzuhalten.« Harry sagte all diese Sachen, als hätte er keine Ahnung, was sie für den Herzschlag bedeuteten, den sie so dringend beruhigen wollten.
Es war, als schliefe da eine Gänsehaut, Elektrisierung direkt unter meiner Haut, sie lauerte, und sie neckte. Wie das Gefühl, bevor ich niesen musste, nur über meine gesamte Körperoberfläche gespannt. Engel schliefen nicht? Engel schliefen nicht. Harry war ein Engel und er musste nicht schlafen. Jemals. Jemals? »Jemals? Also...niemals? Musst du niemals schlafen?«
»Nie mehr, wahrscheinlich. Wenn alles läuft, wie ich vermute, dass es laufen wird.«, erklärte Harry, und auf einmal waren wir zurück in Hemsworth. Es konnte nicht das Licht sein, oder die Luft. Harry hatte nicht gewusst, was die BBC war. Harry war wie ein Geist in meinem fahrenden Bus erschienen. Harry war mir gefolgt. Er war ein Engel. Seine Füße auf meiner Matratze, er war hier, die Gänsehaut konnte kein Symptom von Angst sein, nicht Angst, nicht Angst!
Harrys Gesicht wie ein Mond, wie Licht, wo keines sein durfte. Er war so klar, so ganz, aber nichts an ihm hielt sich an die glatte Haut seiner Stirn oder den weichen Klang seiner Stimme. Oder war ich es, an dem der Einklang zwischen Innerem und Äußeren verloren ging? Ich wollte ihn berühren und vielleicht wieder schweben.
»Harry«, sagte ich und irgendwie war es, als hätte es ein Echo geben sollen. Es gab keins. »Wieso bist du hier?«
Er wartete, weil er es brauchte oder sich leisten konnte. Seine Augen waren sündhaft schön, aber ich wünschte, sie würden mehr sagen. »Ich bin dein Schutzengel.«
Ich seufzte. »Ja. Ich weiß.« Wusste ich es? »Aber...du hast gesagt, es ist nicht normal, dass ein Mensch seinen Schutzengel bei sich wohnen hat.«
Harrys Augenbrauen zuckten, es war fast exzessiv. »Ich wohne nicht bei dir.«
Ich verschluckte mich fast an der Luft in meinem Rachen. »Harry. Doch! Bis vor einer halben Stunde dachte ich noch – für Wochen am Stück! – dachte ich, dass du keine Wohnung hast! Dass du auf der Straße lebst! Harry! Ich habe mir Sorgen gemacht, so viele Sorgen, so viele Gedanken, so so viele Gedanken. Für mich hast du hier gewohnt. Vielleicht kommst du aus dem Himmel und trinkst den ganzen Tag Wein aus Kelchen und wohnst in einem goldenen Schloss und musst niemals schlafen und bist ein Engel, aber ich, Harry, dachte, ich müsste Angst um dein Leben haben. Das kannst du nicht einfach negieren. Vielleicht war es eine Illusion, eine Lüge, aber es war trotzdem real für mich. Vielleicht hat dir das nie jemand erzählt, aber für mich war das keine normale Situation. Also bitte versteh, dass du nicht einfach sagen kannst, du hättest hier nicht gewohnt. Das hier ist meine Wohnung. Du hast mehrere Nächte hier verbracht. Und für mich war das ganz eindeutig.«
Noch während ich geredet hatte, war mir klar geworden, dass das letzte Wort in eine Stille fallen würde. Und es fiel. Es fiel und fiel und fiel und Harrys Mund stand leicht offen. Er starrte mich an, wie ich ihn wahrscheinlich pausenlos angestarrt hatte. War das zu viel gewesen? Nein. Es war die Wahrheit.
»Ich habe keine einzige Nacht hier verbracht.«, sagte er leise. Und jetzt starrte ich auch.
»Was?«
»Ich habe keine Nacht hier verbracht.«, wiederholte er, als könnte er wirklich glauben, ich hätte ihn akustisch nicht richtig verstanden. »Ich war hier, weil du mir diesen Ort zum Schlafen angeboten hast, aber sobald du eingeschlafen warst, war ich im Himmel. Morgens bin ich zurückgekehrt. Nicht immer.« Er senkte den Blick, aber es war unmöglich, dass er sich idiotischer fühlte als ich.
Harry hatte mich für ein paar Minuten am Tag besucht und mich glauben lassen, er wäre für verletzlichste Stunden hier. Dabei hatte er mir den Rücken zugekehrt, sobald ich die Augen geschlossen hatte. Harry wie eine starre Leiche mit offenen Augen auf der alten Luftmatratze, sobald ich erwachte. Natürlich hatte kein Engel in meiner Wohnung geschlafen. »Aber wieso?«, fragte ich und versuchte, die nagende Verzweiflung hinter den Hohlräumen meiner Stirn zu verbannen. »Wieso warst du hier, wenn du doch wieder gegangen bist? Ist es... Ich bin nicht in Gefahr beim Einschlafen oder Aufwachen. Du musst mich nicht beschützen.«
»Du bist häufiger in Gefahr, als du denkst.« Harrys Blick wanderte durch den Raum, zu meinem Schreibtisch, zu den Fenstern. Zurück zu mir. »Aber das ist nicht der Grund.« Er drehte seine Handflächen erneut zur Decke. »Ich wollte dich sehen, Louis.«
Ich wusste nicht mehr, was mich als Teilnehmer dieses Gespräches qualifizierte. Und ob Harry irgendeine Ahnung hatte, was er sagte. Was er sagte und was genauso in meinem Kopf ankam. Ich hatte keine Antwort und noch weniger hatte ich den blassesten Schimmer, was seine Worte in mir auslösten. Vielleicht lösten sie nichts aus, vielleicht war ich in den letzten Minuten emotional taub geworden, oder vielleicht ging die Reaktion einfach nur unter in einem beängstigenden Meer aus allem, was meine Gefühle gerade aufkochen konnten. Ich wartete darauf, dass Harry mehr sagen würde, einspring, weil ich nichts erwiderte, aber seine Lippen blieben versiegelt. Und so schüttelte ich die Lähmung meiner Zunge ab. »Okay.«, antwortete ich.
Wieder neigte Harry seinen Kopf fast unmerklich zur Seite. »Du bist wirklich seltsam, Louis.«
Ich wusste nicht, mit welcher Intention er es sagte. Es gab nur eine Frage, die ich stellen wollte, nur ein Wort, und das war ›Wieso?‹. Aber ich kannte die Antwort. Schon jetzt, wenn ich wollte, konnte ich Zayn vor mir sehen, wie er mit einem einzigen schweren Blinzeln den Glauben an mich und die Menschheit verlor, wenn er erfuhr, dass ich auf ein ›Ich wollte dich sehen‹ nichts als ein ›Okay‹ erwidert hatte. Und schlimmer. Viel schlimmer; ein Gedanke, der sich mehr als verboten in einem 40-Zentimeter-Abstand zu Harry anfühlte:
So sehr ich die Wahrheit dieser Tatsache auch zu verdrängen versucht hatte; ich hatte mich immer, wenn auch zeitweise nur auf eine körperliche Weise, irgendwie zu Harry hingezogen gefühlt. Ich konnte nicht leugnen, dass er auf absurde Weise etwas verkörperte, was ich nicht mal selbst als mein Ideal hätte kreieren können. Und so sehr er mich manchmal auch irritiert hatte – anscheinend weil er ein verdammter Engel war – seine surrealen Gedankenwege, die ewige Gutgläubigkeit und die Weise, wie er sich nie für irgendetwas geschämt hatte, waren Dinge, die mich nicht kalt gelassen hatten. Bis vor sehr kurzer Zeit hatte ich mich wirklich bemüht, diese Wahrheiten auszublenden. Aber Harry war kein vom System vernachlässigter und missbrauchter tragischer Fall, der auf meine Hilfe angewiesen war. Angeblich war ich auf seine Hilfe angewiesen. Angeblich war er ein Engel.
Und dass das nur die eine Sache bedeuten konnte, für die ich Wochen lang nicht stark genug gewesen war, sie mir endgültig einzugestehen, sollte nebensächlich sein. Sollte ausnahmslos und selbstverständlich absolut nebensächlich sein. Aber irgendwie fühlte sie sich nicht so an.
Harry würde niemals, niemals auf diese Weise Interesse an mir haben. Ich hatte keine Chance bei ihm.
Richtig?
Hatten Engel Sex? Verliebten sie sich? Verliebten sie sich in Menschen?
Ich wollte diese Dinge sehr dringend wissen, sie Harry vielleicht mehr als alles andere fragen, aber ich wusste, dass das keine Option war. Nicht jetzt. Aber irgendwann anders? Ich hatte keine Ahnung.
Eine neue Frage erblühte, schwärzer als die vorherigen. Würde ich Harry überhaupt wiedersehen, irgendwann anders? Würde er jemals wiederkommen, nachdem er jetzt in den Himmel verschwand, der angeblich wirklich existierte, und in den er angeblich dringend zurückkehren musste?
Ich schluckte, obwohl ich mich so dämlich wie noch nie fühlte und wusste, dass es nichts bringen würde. »Harry«, sagte ich und fand doch keinen Halt an seinem Namen. »Was hast du mit den Dingen gemeint, die du vorhin gesagt hast?«
Falls er sich über meine Stille gewundert hatte, zeigte er es nicht. »Welche Dinge?«
»Dass...ich weiß nicht mehr genau, was die Formulierung war. Dass ich nicht weiß, was ich im...im Himmel...bewirke..?« Es waren die groteskesten Worte, die ich je ausgesprochen hatte.
Aber Harry wirkte nicht, als würde er sich amüsieren. Im Gegenteil. Vielleicht lag auf seinem Gesicht der ernsteste Ausdruck von allen. »Ich weiß nicht, ob wir jetzt darüber reden sollten.«
Dieses Mal musste ich die Frage stellen. »Wieso?« Es überraschte mich, wie entsetzt ich klang. »Nein, warte! Erst eine andere Frage. Wir sollten jetzt nicht darüber reden? Heißt das, es gibt ein nächstes Mal? Du kommst zurück?«
Er sah auf die Matratze herab, als symbolisierte sie alles, was ihn hier verankerte. Die verfluchte Luftmatratze. »Ich weiß es nicht.«, gestand er und falls es mich hätte erleichtern sollen, tat es das nicht. »Ich hoffe es. Aber noch weiß ich nicht, was die Konsequenzen meines Fehlers sind. Meiner Fehler.«
»Welcher Fehler?«
Er sah wieder auf. »Dir die Wahrheit zu erzählen, grundlos. Und das ist nur der letzte von vielen.«
Es war unmöglich, mir Harry als einen Begänger vieler Fehler vorzustellen. Bezogen einige der anderen Fehler sich auch auf mich? Ich wollte ihm erklären, dass es vielleicht kein Fehler war; dass es gut sein konnte, dass ich es wusste. Aber genauso gut wusste ich, dass ich nicht die Instanz dieser Entscheidung war, von der ich überhaupt gar nichts verstand.
»Ich hoffe auch, dass wir uns wiedersehen.«, überwand ich mich zu sagen und die Worte fühlten sich zu ehrlich an. Vor einem Tag noch hätte ich mich in Zweifeln darüber zerfressen, ob ich Harry solche Dinge sagen durfte. Jetzt fühlte ich die Freiheit, was wahrscheinlich gut war, aber sie tat weh.
»Vielleicht werde ich keinen Kontakt zu dir aufnehmen dürfen, aber ich werde dich wiedersehen.«, sagte Harry mit einer Bestimmung, die mir die Gänsehaut in Erinnerung rief.
Die Fingernägel meiner rechten Hand trommelten einen Rhythmus auf die Knöchel meiner linken. »Was passiert, wenn sie es herausfinden?« ›Sie.‹ Ich hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte.
Harry schien die Lücke selbstständig zu füllen. »Sie werden nichts herausfinden, denke ich. Ich bin dein Schutzengel. Es ist unwahrscheinlich, dass mir verboten wird, dich vollständig zu sehen.« Er lächelte ein weiteres der schwachen Lächeln, die mehr für mich als für ihn geschaffen schienen. Seine Wangen und Schläfen blieben unerreicht. »Nur kann es sein, dass du mich nicht sehen wirst.«
Meine Kiefermuskeln zuckten, ohne, dass ich es beabsichtigte. »Was heißt das?«
»Ich kann in deiner Gegenwart auf dich achten, ohne für dich sichtbar zu sein.«
Meine Augen fühlten sich trocken an, aber ich konnte mich ihrer nicht erbarmen. »Du kannst unsichtbar werden?!«
»Ich kann mich vor selektiven, menschlichen Sinnen verbergen.«, erklärte er, als wäre es das Normalste auf der Welt. Als würde er davon ausgehen, ich hätte mich schon an das Gespräch gewöhnt, das wir führten.
Die Vorstellung war aufregend, irre geradezu, ich wollte ein kleines Kind sein und auf der Stelle springen. Dass Engel existierten; na gut. Dass Superkräfte real waren; da betraten wir eine ganze andere Ebene. Aber ich konnte die Aufregung nicht zulassen. Sie wurde überschattet, von dem flauen Gefühl in meinem Magen. »Du beobachtest mich, ohne, dass ich davon weiß?«
Harrys Augenbrauen zuckten, besorgt? Zurecht. »Selten.«, sagte er mit beschwichtigender Stimme. »Wirklich selten. Es wurde nicht von mir erwartet.« Seine Augen wurden klein und nachdenklich. »Viermal. Es war viermal.«
»Oh.« Luft erlaubte sich einen Weg aus meiner Lunge. Viermal? Das klang wenig. Sehr wenig. Es sei denn... »Was heißt ein Mal? Über Jahre hinweg?«
»Nein!« Erschrocken hob er seine Hände. »Nein, Louis. Für Minuten.«
Und die Erleichterung war echt. »Gut.«, seufzte ich. Auch wenn es trotzdem gruselig war. In welchen Situationen hatte er mich beobachtet, in denen ich mich womöglich vollkommen allein gefühlt hatte?
»Es waren so wenige Male, weil ich dich nicht nur sehen wollte. Ich wollte von dir gesehen werden. Deswegen war ich hier. Ich wollte wissen, wer du bist.«
Mein Kopf begann wieder zu vibrieren. Ich drückte eine Hand gegen meinen Schädel, direkt über meinem Ohr. Harry im SAB, still wie ein ertapptes Reh, Augen, die einfach aus ihren Höhlen kullern mussten und Stille, Stille, Stille, bis: ›Du störst nicht.‹
Ich wollte wissen, wer du bist.
Er sagte die Wahrheit. Schon wieder war es zu viel. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich wollte ihn küssen – aber das war nichts Neues. Und vermutlich verbotener denn je. Ich wollte weinen und ein Foto von ihm machen, damit ich wenigstens diesen Moment nicht mehr vergessen oder verzerren würde.
Stattdessen lachte ich, und hoffentlich klang es nur in meinen Ohren ein bisschen wahnsinnig, oder als würde ich tatsächlich anfangen zu weinen. »Okay.«, sagte ich.
Harry kniff fragend die Augen zusammen, er musste einfach wissen, was er in mir bewirkte. Dann stand er auf, weich, ohne sich abzustützen. Wundersamerweise machte die uralte Matratze kein auch noch so leises Geräusch. Vielleicht war das, worauf man sich mit Engeln einließ; Wunder.
Engel. Es war unmöglich. Ich wusste, dass es unmöglich war. Es war so unmöglich, dass ich eher daran glauben konnte, selbst an Engel zu glauben, als dass sie wirklich existierten. Und wahrscheinlich war das genau die Erklärung für das, was gerade in meinem Kopf passierte.
»Ich muss gehen, Louis.«, sagte Harry der Engel.
Ich schüttelte den Kopf. »Bitte bleib.«
»Ich bin geblieben. Wenn ich länger bleibe, mache ich alles nur schlimmer.«
Mit steigender Panik rappelte ich mich ebenfalls auf. »Bitte. Nur ein bisschen länger. Ich werde verrückt, wenn du jetzt gehst. Du verstehst das nicht, Harry; es ist nicht normal, sowas erzählt zu bekommen. Ich weiß nicht, was ich mit dem Wissen anfangen soll. Wie ich das Wissen wissen soll.«
Harry sah mich sanft an, viel zu sanft. »Du darfst nicht verrückt werden, Louis. Leg dich hin. Trink etwas. Schließ die Augen. Atme ein und wieder aus. Sieh die Schwärze. Lass sie schwarz sein. Erschaffe keine eigenen Bilder. Und immer weiter atmen.«
Das konnte er doch nicht ernst meinen?! »Bitte, Harry. Lass mich nicht allein.«
»Ich lasse dich nicht allein. Tief einatmen, Louis. Ich werde jetzt nicht mit deinen Hormonen helfen.«
»Meine Hormone?!« Irgendwas in meinem Blickfeld verschwamm. Es war nicht Harry.
»Ich muss jetzt gehen, Louis. Ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen.«
Ich machte einen Schritt vorwärts, wollte seine Hand greifen, aber er machte einen Schritt zurück. Seine Fassade fiel. Ich sah die Besorgnis in seinem Gesicht, meine Panik im Grün seiner Augen. Und als er einen Arm hob, die Finger an die Schläfe legte, verriet sich auch sein Schatten. Ich brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, was falsch mit dem Verschwinden des Lichtes meiner Deckenlampe war, wieso Harrys Füße die einzige Regel brachen.
Er stand nicht auf dem Linoleum, seine Füße trugen seinen ganzen Körper ein winziges Stück über dem Boden. Hatte Harry jemals diesen Planeten berührt?
»Ich bin bei dir, Louis.«, sagte er, als ich sicher war, dass meine Unterlippe wirklich zu zittern begann. »Ich werde dich wiedersehen.«
Und dann war er verschwunden.
Er war verschwunden, als hätte ich geblinzelt und für ein paar Minuten vergessen, die Augen wieder zu öffnen.
Er war verschwunden. Einfach so. Vor mir in Luft aufgelöst.
Er hatte seinen Vorsatz nicht gehalten, denn mein Herz hämmerte so stark, dass ich es in meinen Knien spürte. Ich kniff die Augen zusammen, schrie mit nichts als meinen Pupillen und dann...war Harry immer noch verschwunden. Ich legte mir einen Finger an die Schläfe, ich war nicht sicher, welcher. Mit welchem tat Harry es? Ringfinger?
Ich hatte gewusst, dass nichts passieren würde und nichts passierte. Ich starrte auf den Fleck, auf dem Harry eben noch gestanden hatte – oder nicht gestanden hatte. Er und sein Schatten hatten sich aufgelöst, als wäre es so einfach.
Ich starrte minutenlang. Länger. Einmal flackerte das Licht meiner Lampe, sonst nichts. Ich starrte weiter.
Dann kniete ich mich langsam hin, griff nach dem Glas Wasser. Es hatte sich etwas aufgewärmt, war noch nicht warm, aber fast. Ich nahm zwei Schlucke, dann legte ich mich hin. Direkt auf die Luftmatratze, auf die Decke, das Kissen unter meinen Fersen. Nichts roch nach Harry. Ich schloss die Augen.
Schwarz.
Ich atmete ein.
Aus.
Blut versengte meine Adern.
Es gelang mir nicht, die Schwärze zu behalten. Sie blieb nicht schwarz. Da war Harry, wie ein Negativ, wie verblasst, wie ein Traum, wie ein Engel. Er war da, und wieder weg. Da und wieder weg.
Da.
Und wieder weg.
Da.
Weg.
Ein.
Aus.
Harry. Der Engel.
Entweder war er wirklich ein Engel oder ich verlor mit jeder Sekunde weiter den Verstand.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top