𝐗𝐈
☽ ⋆ 𝐇 ⋆ ☾
Eins, zwei, drei Tage lang hatte die Erde sich an ihre Regeln gehalten. Am vierten war Louis verschwunden. Und nicht nur Louis; auch all die anderen Menschen.
Es war die gleiche Zeit, derselbe Ort, aber heute lag der Tempel, der keiner war, in friedlichem Schweigen. Erst hatte ich angenommen, die Menschen müssten sich versteckt haben. Oder vielleicht gab es ein weiteres Problem im Hörsaal und dieses Mal war nicht nur das Personal dorthin geordert worden, sondern auch jeder andere Mensch im Gebäude. Ich war durch die leeren Flure gewandelt, hatte mich auf Geräusche und Wärme konzentriert, aber da war nichts. Letztendlich hatte ich die Augen geschlossen, die Fingerspitzen an meine Schläfe geführt und die hohen, tiefen Steinwände nach menschlichem Leben abgesucht. Kein einziger Mensch in den langen Gängen. Das hatte ich davon, wenn ich mich von meinem eigenen Wissen auf die Erde führen ließ, nicht von meinem Band zu Louis. Sonst wäre ich direkt bei ihm aufgetaucht. Wo auch immer er war, und warum auch immer dieses Gebäude von jedem einzelnen Menschen verlassen worden war.
Ohne Eile machte ich mich auf die Suche nach einem offenen Fenster. Die hohen Türen, die ich vor drei Tagen zum Betreten und gestern mit Louis zum Verlassen der Universität benutzt hatte, waren verschlossen. Eine Vorliebe der Menschen. Dinge erschaffen, um sie zu verbieten.
Vielleicht war Louis noch bei Johannah. In Leeds, hatte er gesagt. Aber ich bezweifelte, dass auch der Rest der Menschenmassen der vorherigen Tage geschlossen in Leeds war, um Louis' Mutter zu besuchen. Es sei denn, sie wollten ihr eine Freude machen. Manchmal machten Menschen solche Dinge. Wir hatten in unserer Grundbildung nicht viel über menschliche Traditionen gelernt, aber der Tag, an dem Menschen so taten, als würden sie älter werden, obwohl sie jeden einzelnen Tag ihres Lebens älter wurden, hatten wir besprochen, weil er fast weltweit gefeiert wird. Die wichtigsten Feste der Menschen waren die unsinnigsten. Aber wahrscheinlich wussten sie das selber.
Außerdem war es nicht Johannah Tomlinsons fälschlicher Alterwechsel-Tag. Deswegen schien es keine sinnvolle Erklärung dafür zu sein, dass hunderte von Menschen sich gemeinsam auf den Weg gemacht hatten, um sie zu sehen. Aber bei den Menschen waren eine Menge Dinge möglich.
Dinge wie Handys. Als Louis gestern nach der Nummer, die ich besaß, gefragt hatte, war ich für eine Weile überfordert gewesen. Denn es hatte einfach keinen Sinn ergeben. Menschen hatten keine Nummern. Nicht mal in den himmlischen Archiven wurden Menschen durchnummeriert! Menschen hatten Namen, sie hatten Herzen und ein Bewusstsein. Aber keine Nummern. Mensch 1, Mensch 2, Mensch 3. Ich hatte trotzdem geprüft. Hätten Menschen Nummern, wäre Louis Mensch 1003628859. Er war der 1003628859. Mensch, der jemals geboren worden war. Wie langweilig; Zahlen.
Doch selbst wenn Menschen Nummern tragen würden, wäre die Frage nach meiner kompliziert gewesen. Ich war kein Mensch. Und in diesem Fall hätte ich nicht lügen können, denn eine Lüge wäre Diebstahl einer menschlichen Identität gewesen.
Engel durften eine Menge tun. Aber menschliche Identitäten stehlen durften sie nicht.
Wie gut, dass es nur um Handys gegangen war. Liam hatte mir geholfen auf meiner Suche nach Wissen – denn Handys waren anscheinend mit einer Menge, Menge, Menge Risiken verbunden. Nach verwirrender Recherche hatte ich diese Dinge verstanden:
1. Handys waren Geräte, um dem menschlichen Gehör zu verhelfen. Wenn dieses nicht ausreichen sollte, einen anderen Menschen weiter weg zu hören.
2. Ein Handy zu besitzen war lebensgefährlicher, als bei einem Gewitter schwimmen zu gehen.
3. England war mit 86,727% der Menschen das Land, das weltweit die höchste prozentuelle Nutzung an Handys vorwies.
4. Louis war einer von ihnen. Und ich hatte ihn nicht aufgehalten. Wunderbarer Engel.
Aber niemandem würde es etwas bringen, wenn ich mich von der Leichtsinnigkeit der Menschen überwältigen ließe. Es war ein Grund mehr, mich nicht überwältigen lassen zu dürfen. Also würde ich das nicht passieren lassen.
Es gab kein einziges offenes Fenster. Keine Tür. Nur Wände aus Stein, Löcher aus Glas.
Ich konnte nicht durch Wände gehen. Dafür hätte mein Herz vor 2 Millionen Jahren zu schlagen beginnen müssen.
Ich würde in den Himmel zurückkehren müssen. Es war gut möglich, dass die Menschen nie wieder in dieses Gebäude zurückkehren würden. Auf irdische Weise würde ich keine Chance haben, es zu verlassen. Und sobald ich im Himmel war, würde ich wieder auf die Erde zurückkehren können. Der Magie meines Bandes Louis folgen, ihn finden.
Ich brauchte beide Hände an beiden Schläfen. Rechts-Links; Links-Rechts. Eigentlich nicht. Liam würde mir sagen, dass ich mehr als genug Energie und Magie hatte, um mit einem einzelnen Finger zu reisen. Was sein konnte. Aber ich konnte nicht riskieren, Louis oder den gesamten Himmel zu gefährden. Also wurden es beide Hände.
Und ich kehrte in den Himmel zurück. Erleichterung war nicht ich, aber alles um mich herum. Das Gewicht des Goldreifs ruhte auf meinem Kopf wie eine schläfrige Erinnerung. Meine Flügel bebten.
Ich wusste, dass ich nicht wieder auf die Erde sollte. Nicht heute. Nicht morgen. Nicht in den nächsten zwanzig Jahren, wenn es nicht vermeidbar war.
Aber Louis glühte vor Wissen und Gefühlen. Sein Leben pulsierte mit Vielfältigkeit. Er lachte und es klang nicht wie Glocken oder Wasser oder Vögel. Es war ein Menschenlachen, und die Luft in seinen Lungen explodierte.
Es würde nicht lange dauern, bis er starb – selbst wenn es eines späten, natürlichen Todes passieren würde. Es war nicht meine Verantwortung, zu wissen, wie er war. Nur, dass er war. Aber Louis war nicht nur ein Ja oder Nein, Leben oder Tod. Er war ein Wie, ein Was, nicht nur eine Nummer.
Ich konnte nicht existieren, während er existierte, ohne mit ihm zu existieren. Zum Lernen, den Himmel auszubalancieren, hatte ich noch eine potentielle Ewigkeit. Zum Lernen, wer Louis war, hatte ich im besten Fall ein paar Jahre. Ich wollte wissen, wessen Leben verloren war, wenn ich einen Fehler beging. Auf der Erde würde Louis in Erinnerung bleiben. Die Erde erinnerte sich immer. Aber ich war nicht die Erde. Um mich zu erinnern, musste ich erstmal lernen.
Deswegen wartete ich nicht darauf, dass Liam an meiner Seite auftauchte. Zweifellos wusste er, dass ich zurück war, und es war nicht unwahrscheinlich, dass er jede Sekunde hier bei mir sein würde. Also konzentrierte ich mich auf das Licht, meine Sichtbarkeit, und kehrte sie um. Im Himmel nicht entscheidend, aber Louis war auf der Erde. Um herauszufinden, wo genau er war, musste ich mich nur auf das goldene Ziehen an meinem Herzen konzentrieren. Louis' Wärme glomm stetig und vertraut in meinen Fingern. So wurde die Reise zur Erde eine einfache.
Europa, Großbritannien, England, Manchester. 53°27'55.6"N 2°14'00.6"W.
Wieder ein Haus, wieder Menschen, wieder hohe Decken, wieder schwere Säulen. Aber es war nicht das Haus, aus dem ich gekommen war. Natürlich nicht. Die Universität war leer gewesen, kein einziger Mensch hinter ihren breiten Mauern. Doch hier summten die Stimmen, Schwerkraft zitterte auf meinen unsichtbaren Flügeln und alles roch nach Wärme.
Bis auf die Säulen hätte man den Raum, in den das Band mich geführt hatte, nicht mit dem Tempel, der keiner war, verwechseln können. Hier wäre kein Platz für all die Studenten in der leeren Halle der Universität. Dunkle Tische und Stühle waren über den glatten Boden gewürfelt, der wie Holz aussah – aber ich war mir nicht sicher, ob es sich wirklich um Holz handelte. An den Wänden ragten Regale mit Büchern über Büchern über Büchern auf.
Ich sah Louis erst, als ich mich umdrehte. Er saß auf einem der Stühle, an einem der Tische, braune Haare in der Stirn. Die anderen drei Stühle waren leer, also entschied ich mich ohne zu viel Überlegung, mich zu ihm zu setzen. Meine Flügel verbannte ich in das Knochengefängnis meines engen Körpers. Sie waren nicht dafür geschaffen, sich mit Stuhllehnen zu vertragen.
So behutsam wie möglich, ohne etwas außer Luft zu bewegen, schob ich mich auf den Stuhl neben Louis. Aber es spielte keine große Rolle; Menschen bemerkten nicht, was sie nicht bemerken wollten. Er hob nicht mal den Kopf.
Vor ihm auf dem Tisch waren eine Reihe von Dingen aufgereiht; zwei aufgeschlagene Bücher, zwei Stifte, eine Gabel, eine Tasse mit einer dampfenden Flüssigkeit – Tee? – darin, eine Schüssel voll verschiedenfarbiger Blätter und Obst, und ein Gegenstand, den ich nicht benennen konnte. Größer als die Bücher, größer als die Schüssel. Auf einer seiner rechteckigen Flächen leuchteten Reihen an schwarzen Wörtern, die nicht für mich bestimmt waren. Louis las, in einem Buch oder dem anderen oder beiden gleichzeitig. Konnten Menschen zwei Bücher gleichzeitig lesen? Zwei Augen, zwei Bücher? Zwei Gehirnhälften.
Ich wusste, dass es nicht so funktionierte.
»Louis«, flüsterte ich leise und wartete auf die Reaktion, die er nicht geben konnte. Er tat es nicht. Mit seinem natürlichen, ruhigen Atemzug las er weiter. Ich lächelte über die Lüge, die keine sein konnte, weil Louis einfach unwissend war. ›Seinen eigenen Namen würde man unter Tausenden heraushören.‹ Er konnte ihn nicht mal unter einem einzigen heraushören. Wie nannte man Unwahrheiten, die durch Unwissen zustande kamen?
Ich wusste, wie die Menschen sie nannten.
Die Wahrheit.
Louis streckte die Hand aus und für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, er würde mich berühren. Aber seine Finger griffen nur nach dem Griff der Gabel, er hob sie an, und versenkte sie in der vollen Schüssel. Dünne Blätter und rote Granatapfelkerne blieben daran stecken und er manövrierte sie vorsichtig über Buch, Buch, Tasse bis in seinen Mund. Ich erschrak vor der knirschenden Lautstärke, als er mit dem Kauen begann. Die Gabel landete zurück in der Schüssel, blieb dieses Mal aber dort, denn Louis begann noch immer kauend mit einer noch lauteren Aktivität. Seine Finger schlugen hart und dröhnend auf den buchstabenverzierten Teil des mir unbekannten Gerätes ein. Ungläubig sah ich mich im hellen Raum um. Elf andere Menschen saßen an den Tischen, lehnten hinter dem Tresen – ein Mann stapelte sich Bücher aus einem der Regale auf den Arm. Aber keiner sah zu uns herüber; Louis mit seinen fliegenden Fingern und dem plötzlichen, trommelnden Lärm.
Ich stockte, als ich die neuen Wörter bemerkte, die wie magisch hinter dem großen Textblock auf der weißen Fläche vor Louis' Gesicht auftauchten. Mehr und mehr Wörter, während Louis unbeeindruckt weiterhämmerte, die auftauchenden Wörter mitlas und ab und zu hinüber in eines der Bücher sah. Nach fast zwei Minuten Gehämmer griff er sogar nach der dampfenden Tasse, pustete sanfte Kringel in die helle Flüssigkeit und schlürfte seelenruhig ein paar kleine Schlucke – alles, während die Finger seiner linken Hand munter ihren Rhythmus weiterverfolgten.
Wärme rann meinen Hals hinunter. Nur langsam dämmerte mir die Erkenntnis, dass Louis ein Talent hatte. Die tanzenden Finger, die gelangweilten Augen, seine zweite, unbeteiligte Hand. Ich wusste nicht genau, was es war, das er tat, aber er konnte es. Und ich hatte so etwas noch nie gesehen. Vielleicht sollte ich etwas vom Tisch stoßen. Um die anderen Menschen auf Louis aufmerksam zu machen, darauf, was er hier vollbrachte. Die Tasse möglicherweise, die würde in schimmernden Scherben auf dem kein-Holz-Holzboden zerspringen. Nein, das durfte ich unmöglich riskieren. Splitter konnten tödlich sein.
»Louis, schnell, schnell, Louis.«, murmelte ich leise, lächelnd. Mit großen Augen hielt ich inne, als er aufsah. Sein Kopf neigte sich in meine Richtung, die Augen flogen über Luft, die ich war. Er konnte mich nicht sehen oder hören, das wusste ich, aber zu lange wagte ich trotzdem nicht, mich zu bewegen. Bis der Reiz des eigentlich nicht existenten Risikos mich zu sehr kitzelte. »Louis?«, hauchte ich nochmal.
Aber er blinzelte nur ein weiteres Mal suchend, dann senkte er den Blick wieder in eines seiner Bücher. Ich war nicht enttäuscht. Es war menschlich unmöglich für Louis, meine Stimme jetzt zu hören. Ich hätte ihm mit Millimeterabstand ins Ohr schreien können und sein Trommelfell hätte nicht die winzigste Schwingung wahrgenommen. Die Lüge der Luft und des Lichtes war, für die Menschen, vollkommen.
Plötzlich durchschnitt ein neues Geräusch die lärmende Stille und es war so schrill, dass ich vor Schreck aufsprang. Mein Stuhl schob sich ein paar Zentimeter zurück und alarmiert erfror ich in meiner Bewegung. Aber Louis beachtete den Stuhl nicht, er lehnte sich zu seiner linken Seite und vergrub seine Hände in einer Tasche, die ich vorher nicht gesehen hatte. Das laute Klingeln schien aus ihr zu kommen und es wurde lauter, als Louis denselben Gegenstand wie vor zwei Tagen jetzt offen in der Hand hielt. Nur, dass es vor zwei Tagen in der hellen Halle keine ohrenbetäubenden Geräusche gemacht hatte. Nur mit gebündelter Beherrschung konnte ich verhindern, mir die Ohren zuzuhalten.
Mit einem einzelnen Finger berührte Louis den flachen, brettartigen Gegenstand in seiner Hand, und es hörte auf ihn. Sofort gab es Ruhe. Ich wusste nicht, was ich denken sollte, ich konnte nur starren. Wenn Liam das sehen könnte.
Louis hob den Gegenstand an sein Ohr. Und als er mit der Gabel in der Hand auf halbem Weg zur flachen Schüssel zu sprechen begann, wusste ich, was es war. Ein Handy.
Das ›Hi.‹ von Louis klang ziemlich gelangweilt. Voll konzentriert trat ich einen Schritt näher an ihn heran. Er hielt ein Handy; ein Gerät gefährlicher als Gewitterschwimmen. Wie schnell konnte ich einschreiten, wenn etwas schief ging?
»Nein, im Christie's.«, erklärte Louis als Antwort auf einen Menschen irgendwo, nirgendwo. Vielleicht war es ein Splitter Magie, der sein Gehör verbesserte. Ein Splitter derselben Magie, die auch mich hören ließ, was ich wollte, in dem flachen Gerät gefangen. Wahrscheinlich waren Handys deswegen so gefährlich. Niemand konnte kontrollieren, was er nicht verstand.
»Lesen. Schreiben.«, berichtete Louis weiter und stocherte ein paar Mal in der Schüssel herum. »Ich weiß! Erzähl das den Professoren. Ich hätte auch lieber ein freies Wochenende.«
Schon wieder Wochenende. Er hatte mir gestern wohl nicht zugehört, als ich ihn daran erinnert hatte, dass das Ende der englischen Woche erst am Sonntagabend war. Morgen in ein paar Stunden. Nicht jetzt.
»Nein, nein. Das würde ich nicht ohne dich machen. Auch wenn ich gestern Abend noch den zweiten Teil gelesen habe. Geht ja schnell. Ich habe ganz vergessen, wie witzig es ist. Ich glaube, dass ich den ganzen Schwulen-Humor vor vier Jahren einfach noch nicht vollständig begreifen konnte. Ich war zu unschuldig und aufgeregt darüber, dass es überhaupt Bücher über uns gibt.«
Louis komplett zu verstehen, war immer schwierig – sehr schwierig. Aber seinen Worten Sinn zuzuschreiben, wenn der Schall, den er hörte, nicht an meine Ohren gelang, war eine unmögliche Qual. Das war der Grund, weswegen ich der Versuchung nicht widerstehen konnte. Ich schob mein Gesicht ein paar winzige Millimeter weiter zu seinem, dann legte ich mir den Mittel- und Ringfinger an die Schläfe; Konzentration auf das gefährliche Handy.
»-im Mittelalter aufgewachsen bist.«, erzählte eine Stimme, die ich nicht kannte. Aber wessen Stimmen kannte ich schon? Nicht viele. Acht menschliche. Es war nicht Louis', es war nicht Johannahs, nicht Troys, nicht Silly Billys, nicht die der Frau, die anstelle von Louis geschwommen war. Es war nicht Edeline Fernsbys Stimme, nicht die des Mannes mit der Brille und auch nicht die der Frau mit den geflochtenen Haaren. »Naja, wenigstens nicht in den Achtzigern in New York.«
Louis verdrehte die Augen, aber ich begriff nichts. New York war ein Bundesstaat in den USA. Durchschnittlich starben dort 15 Menschen täglich in Unfällen. In Manchester waren es nur 0,25.
»Dass ausgerechnet du das sagst, Zayn. Als politischer Aktivist.«
Zayn! Louis' bester Freund, mit dem ich es mir laut Edeline nicht verderben sollte. Ein Lächeln schlich sich warm auf meine Wangen. Louis widersetzte sich den vorgeschriebenen Gesetzen seines menschlichen Körpers und des irdischen Schalls, nur, um mit seinem besten Freund reden zu können. Sie mussten einander so viel bedeuten.
»Jeder ist ein politischer Aktivist.«, drang Zayns seltsam rauschende Stimme an mein, dann Louis' Ohr.
Louis lachte leise und schob sich eine lila Weintraube auf der Spitze seiner Gabel in den Mund. »Das ist kompletter Schwachsinn.«, schmatzte er.
»Ist es nicht.«
»Dann erklär dich.«
»Jeder ist ein politischer Aktivist. Man ist aber ein schlechter politischer Aktivist, wenn man nichts tut. Nichts tun heißt, dass man sich für das Falsche einsetzt. Dass man nichts sagt, bedeutet nicht, dass man keine Stimme hat. Wer sich weigert, sie zu benutzen, setzt sich automatisch für das Falsche ein.«
»Wirst du jetzt von meinem Dad anfangen?«
»Könnte ich. Soll ich von deinem Dad anfangen?«
Louis' Blick wanderte langsam über die Wände des Raumes. »Ich bezweifle, dass du mich angerufen hast, um mir Vorträge über politischen Aktivismus zu halten. Auch wenn ich das Thema weiter ausbauen wollte, hätte ich keine Zeit dafür. Aber leider wird Nora mich nicht in Frieden lassen, bis ich nicht sechs Seiten über die Symbolik ihres Fischermädchen-Kostüms geschrieben habe.«
»Du willst das vor heute Abend noch fertig kriegen?«, fragte Zayn und klang ziemlich überrascht, auch wenn ich dem Gespräch noch immer nicht folgen konnte. Wer war Nora?
»Ja. Ich habe nur noch ein bisschen mehr als eine Seite übrig.«
»Plus die ganze Nacharbeit, Louis! Hört sich nicht so an, als würden wir noch viel Zeit fürs Projekt haben.«
Louis antwortete nicht sofort und ich wäre am liebsten durch das winzige Handy in seinen Händen zu Zayn gereist. Vielleicht konnte ein Gerät, das den Schall belog, auch den Raum betrügen. Und vielleicht wäre Zayn weniger kryptisch als Louis. Ich könnte ihm direktere Fragen stellen als meinem eigenen Schützling.
»Du könntest herkommen, wenn du willst.«, sagte Louis schließlich. »Hast du schon gegessen?«
»Ja. Also nein. Die Suppe kocht.«
»Suppe? Zayn, es ist Samstag.«
»Nicht jeder hasst Suppe so sehr wie du, Louis. Ich werde Suppe essen und vielleicht schreibe ich dir dann, wenn ich nochmal vorbeikommen will. Christie's?«
»Ja. Wir könnten danach zu mir und...ja, Vorbereitungen für heute Abend treffen. Nochmal was essen vorher.«
»Wird es auf der Party nichts geben?«
»Nicht genug jedenfalls. Lass uns das Risiko nicht eingehen.«
»Alles klar. Ich schreib dir dann.«
»Mach das. Bis nachher.«
»Fleißig weiterdenken bis dahin, Louis.«
Mit Blick auf die Tischplatte runzelte Louis die Stirn. »Wieso habe ich das Gefühl, du wirst Kushner zitieren?«
»Werde ich nicht, versprochen.«
»Danke. Bis später, Zayn.«
»Bis später.«
Ich wartete, eins, zwei, drei, vier Sekunden, aber das Gespräch schien zu Ende zu sein. Louis fuhr sich mit einer Hand durch die Haare und ließ das Handy wieder in seiner Tasche verschwinden. Mit einem Seufzen nahm er einen der Stifte zwischen die Finger seiner rechten, eines der Bücher zwischen die seiner linken Hand. Ich kappte die Verbindung zu mir selbst.
Louis blätterte eine Seite um. Dann noch eine, dann blätterte er zurück. Wonach suchte er? Ich wollte ihn fragen. Ich hatte viele Fragen. Die meisten durfte ich nicht stellen, einige könnte er nicht beantworten. Aber im Moment konnte er mich nicht mal sehen. Nicht heute.
Ich trat einen großen Schritt zurück. Vielleicht wäre es besser, wenn ich an einem anderen Tag zurückkehrte. Um wieder mit ihm reden zu können. Es war gut, ihn zu sehen und zu hören.
Aber es war besser, wenn auch er mich sehen und hören konnte.
✩✩✩✩✩✩✩
Ostern dann :)
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