𝐋𝐈𝐈
☽ ⋆ 𝐋 ⋆ ☾
Über anderthalb Monate in Harrys Gegenwart und ich hatte langsam wirklich ganz gut gelernt, mit allem zu rechnen – außer hiermit. Schon Minuten später hätte ich mindestens zehn Pfund hingeblättert, um nochmal zu sehen, wie Harry in einem Zug ein randvolles Glas Weißwein leerte; als erstes Getränk, das er jemals getrunken hatte. Als erste Flüssigkeit, die jemals seine Mundhöhle passiert hatte.
Harry und 300 Milliliter Weißwein: Klappe, die Erste.
Auch mit nur halbem Hintergrundwissen war Zayn fast genauso überrascht gewesen wie ich – und Harry selbst. Aber natürlich hätte ich nicht einfach einen großen Aufstand machen können, so sehr mein Innerstes auch dazu drängte. Und so musste der Abend weitergehen, einfach so, und er tat es, einfach so. Mit Zayn und Niall, die spürbar auf die Wirkung eines 300-Milliliter-Weißwein-Shots warteten, mit Harry, der auf sich warten ließ, und mit mir und meiner Ahnungslosigkeit, unwissend, worauf ich überhaupt wartete.
Würde es einen Effekt geben? Harry hatte sich strikt geweigert, irgendetwas zu konsumieren, aber wieso? Er brauchte weder Essen noch Trinken, na gut, aber das war kein Grund zum Boykott. Was passierte, wenn er trotzdem aß, trank? Konnte der Alkohol seine Zellen angreifen?
Die Antwort war Ja und kristallisierte sich Atemzug für Atemzug, den Harry mit runden Lippen nahm, klarer. Mit dem ersten Lachen aus seinem scharlachroten Rachen stülpte er die Version seiner selbst um. Mit geschärfter Aufmerksamkeit sah ich direkt, wie Harrys schillerndes Lachen nicht nur mich, sondern auch Niall und Zayn hypnotisierte. Dabei wussten sie nicht mal, wie rar der Klang war.
Nicht mit Alkohol in seinem Blut. Er lachte und redete, mit rosa Wangen und flehendem Schwarz seiner Pupillen. Im ersten Moment war ich überzeugt, dass er stärker auf Alkohol anschlug als jeder noch so trinkunsichere Mensch – wenn vielleicht auch nur, weil wir hier von einem Glas Wein auf den leersten Magen jemals redeten. Aber dann gestand ich mir ein, dass es wohl primär der Kontrast war, der mich so stark überwältigte.
Nicht nur das Lachen; Harrys gesamtes Gesicht öffnete sich wie bei einem träumenden Kleinkind. Seine Zunge lockerte sich bis zu dem Punkt, an dem er in Zayns und Nialls Gespräch über das Manchester Bahnnetz einstieg, als hätte er auch nur den blassesten Schimmer, wovon er redete. Das einzig Hilfreiche war der Fakt, dass Zayn und Niall mittranken, erst aus Höflichkeit, dann magnetisch angezogen von Harrys leuchtender Weißwein-Stimme.
Ich hielt mich zurück mit meinem zum zweiten Mal nachgefüllten Glas, auf dem Harrys Lippen keinen Abdruck hinterlassen hatten. Irgendwer musste ja ein Auge auf den alkoholisierten Engel haben. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, was ich getan hätte, hätte Harry sich wirklich verplappert und die Existenz aller christlichen Wunschvorstellungen offenbart. Aber das passierte nie final und selbst wenn er dem gefährlich nahe kam, nahmen die anderen seine Worte als Ironie oder einfach nicht ernst. Als Zayn vom Rauchen wieder reinkam und Harry ihm überrascht erklärte, er würde nach verrottenden Lungenbläschen riechen, lachte Zayn nur. »So schön hat mir das noch nie jemand gesagt.«
Harry war derselbe, Harry war Harry, er war so sehr Engel, dass ich Angst bekam, er könnte wirklich vergessen, dass er nicht zwischendurch an die Decke schweben oder sich teleportieren durfte. Ein paar Stunden lang hielt ich es aus, war froh über den überraschend guten Start zwischen Harry, Zayn und Niall – denn dass es ein Start war, daran konnte ich jetzt nicht mehr zweifeln – und als Harry dann um 23:48 Uhr beim Pfeifen-Üben mit Niall den ersten Ton zwischen seinen Lippen herausbekam und das Geräusch mir direkt zu Kopf stieg wie eine Droge, schob ich meinen Stuhl zurück und verkündete unseren Aufbruch. Bevor Harry uns fragile Menschen aus Versehen mit einem himmlischen Pfiff in willenlose Trancen versetzen konnte.
Harry war sehr befriedigt mit Nialls ›Es war sehr schön, dich kennenzulernen.‹ und noch viel befriedigter mit Zayns ›Komm bald mal wieder mit.‹. Ich war eher zwiegespalten über das breite Grinsen, mit dem Zayn mich verabschiedete, aber das war wahrscheinlich sowieso unvermeidbar gewesen. Wir hatten die Situation gemeistert. Harrys soziale Neugier war gestillt worden, Zayn konnte jetzt wirklich glauben, dass Harry existierte, und keine geheime Identität war offenbart worden. Außerdem hatte Harry nicht erfahren, dass Zayn davon ausging, dass wir beide jetzt nach Hause gingen, um, in seinen Worten, ›sehr, sehr guten Sex‹ zu haben. Also quasi ein voller Erfolg. Dass währenddessen ein Weinglas mehr als erwartet geleert wurde, war erstmal nebensächlich.
Das Bierflaschenbowling bestand nur noch aus einer sauren Geruchswolke, leisem Reggaeton und sieben Studentinnen, die mit rauen Stimmen auf den untersten Stufen der klebrigen Treppe saßen. Wir schlängelten uns zwischen den müden Schultern hindurch. Nicht ohne ein ›Hallo, ich bin Harry‹ natürlich, was Harry ein paar irritierte Blicke und ein einsames ›Hi Harry‹ einholte.
Er beobachtete mich, als ich mein Fahrrad abschloss. Erst, als wir durch den Metallrahmen getrennt nebeneinander herliefen, traute ich dem Abstand zu Niall und Zayn und jedem anderen Menschen in dieser Stadt genug. »Wie fühlst du dich, Harry?«
Auf der anderen Seite des Fahrrads, mit seinem rechten Fuß fast auf der Straße, sah er auf. »Ich denke, ich fühle mich gut.«
Lächelnd schüttelte ich den Kopf. »Wieso hast du den Wein getrunken?« Wochenlang hatte ich jetzt schon versucht, ihn dazu zu überreden, ein bisschen Essen oder Trinken zu probieren.Vergeblich. Er war starr in seiner Meinung und langsam hatte ich begonnen, das zu akzeptieren. Bis...
»Wein?«, fragte Harry. »Das war Wein? Sehr beißend. Ich weiß nicht, wieso ihr das freiwillig trinkt.«
»Wieso hast du es freiwillig getrunken? Und alles auf einmal!«
»Zayn!« Er klang empört. »Du warst dabei, Louis! Er hätte mich enttarnt.«
»Was?«
»Kein Mensch, das hat er gesagt. Kein Mensch lehnt etwas zu Trinken von dir ab. Ich habe es abgelehnt. Ich musste es annehmen, Louis! Sonst hätte Zayn es gewusst. Ein Mensch musste trinken. Ich hatte keine Wahl. Aber es hat funktioniert.«
Mein Bedürfnis, alle verfügbaren Handflächen gegen meine Stirn zu schlagen, war so unendlich und irrational groß, dass es ernsthafte Beherrschung kostete, mein Fahrrad nicht einfach auf den Stein fallen zu lassen. »Das ist nicht dein Ernst, Harry.«, sagte ich langsam und ungläubig und sehr wohl wissend, dass es sein vollster Ernst war. Das Skandalöseste war eigentlich, dass ich es nicht direkt begriffen hatte.
»Es ist mein Ernst! Ich habe Schlimmes abgewendet.«
»Das war nicht wörtlich gemeint, von Zayn. ›Kein Mensch‹, das sagt man manchmal, damit ist gemeint...›niemand‹. Keine exklusive Definition bezogen auf die Spezies Homo sapiens.«
»Woher soll ich das wissen? Ist es nicht der Zweck von Worten, wörtlich gemeint zu sein?«
»Menschliche Lektion, Harry: Nein.«
»Also wusste Zayn nie, dass ich kein Mensch bin?«
»Das ist selten eine der ersten Optionen, die wir in Betracht ziehen würden. Und garantiert nicht wegen eines Glases Weißwein.«
»Aber das ist doch gut..?«
Ich musterte sein Profil, wandelnd im Licht der Straßenlaternen. Im Dunkeln war er nicht leichter zu lesen. »Gut, dass Zayn dich nicht entlarvt hat, ja. Aber du hättest den Wein nie trinken müssen.« Ich gab den Seitenblick auf. »Bereust du es?«, fragte ich vorsichtig.
Er ließ sich Zeit für seine Antwort. Der Himmel war über die Stunden bei Zayn hinweg klar geworden und, so wenig ich es mir auch eingestehen wollte, roch es zum ersten Mal nach Winter. »Ich weiß es nicht.«, beschloss Harry nach reifer Überlegungszeit.
Ich klammerte mich an seine Stimme, zu warm für einen Winterboten. »Wie war es?«
Diese Antwort hatte er schnell parat. »Nass.«
Ich lachte, wenn auch nur über das Missfallen in seinem Ton. »Dann wird also kein großer Wein-Connaisseur aus dir?«
»Was heißt das?«
»Ein Experte. Und Genießer, schätze ich.«
»Ich habe es nicht genossen, nein.«
»Ist okay.« Das hatte ich auch nicht erwartet. Nichts hieran hatte ich erwartet. »Aber den Rest? Niall und Zayn? Hast du den Abend genossen?«
»Ja!« So viel Enthusiasmus ließ mich ihm wieder den Kopf zuwenden. Er balancierte den Bordstein entlang, mit Blick auf seine Füße, aber ausnahmsweise erkannte ich direkt den Spalt zwischen seiner Haut und dem Grau darunter. »Zayn gleicht dir so sehr, Louis! Und du ihm. Er lächelt erst mit dem linken Auge, dann den Lippen, dann das rechte. Wie du! Und Niall. Er studiert das Universum!«
»Astrophysik.«
»Ja! Ich wusste nicht, dass- Wieso studierst du nicht das Universum? Ich könnte sehr gut helfen! Die Sterne, Louis, die Planeten, sie sind in meinem Bewusstsein. Ich wusste nicht, dass die Menschen so viel Interesse für Himmelskörper haben. Da, Louis, siehst du? Da oben? Das ist der Komet, von dem Niall geredet hat. Du musst ihn dir jetzt ansehen, bevor er schmilzt.«
Er deutete mit ausgestrecktem Arm in den Himmel. Vielleicht machte ihn das am menschlichsten; der unerschütterliche Glaube, dass der eigene Zeigefinger Leitung genug war, um jemand anderem unfehlbar einen Stern zu zeigen. Ich versuchte, meinen Blick seiner Geste folgen zu lassen, aber vergeblich. Die milchige Wolke aus Straßenlaternenlicht half nicht. Nicht alle Menschen waren an Himmelskörpern interessiert.
»Kannst du in die Zukunft sehen, Harry?«
Sein Arm fiel. »Nein. Das hast du schon gefragt.«
Es gab keine dummen Fragen mehr. Die Existenz dummer Fragen hatte aufgehört, als die des Himmels begonnen hatte. »Woher weißt du dann solche Dinge wie mit dem Kometen? Oder anderes. Ich habe das Gefühl, du sagst öfter Sachen, die eigentlich... Als würdest du die Zukunft kennen.«
»Ich kenne die Zukunft nicht, Louis. Es gibt nur Dinge, die unumgänglich sind.«
»Hm.«
»Danke, dass ich mitdurfte.«
»Ich freue mich, dass es dir gefallen hat.« Es war die niemals endende Herausforderung, neben den profillosen Sohlen meiner Schuhe und dem Knirschen unter den Reifen meines Fahrrads Harrys Schritte aus dem abendlichen Summen herauszuhören. Die Oxford Road war kaum befahren. »Aber wir müssen uns für nächstes Mal etwas anderes wegen des Essens ausdenken.« Auch wenn ich insgeheim die Hoffnung hatte, dass Harrys Kalt-Wasser-Kopfsprung in die Welt des Lebensmittelkonsums ihn fester Nahrung einen Schritt näher gebracht hatte – obwohl seine heutigen Entscheidungen nur auf Missverständnissen basiert hatten. Apropos kaltes Wasser; ich blieb kurz stehen, als es mir wieder einfiel.
»Harry! Ich konnte dich neben Niall nicht weiter ausfragen, aber... Das Schwimmbad!« Ich zwang mich zum Weitergehen. Ein Auto kam von hinten und fuhr nah genug an Harry vorbei, dass er wie in einem Sprung von der Straße wegwich – nur, dass er nie den Boden berührt hatte und es sich eher um einen eleganten, schwebenden Hüpfer handelte. Ich hätte gelacht, wäre all meine Vorstellungskraft nicht schon maximal ausgelastet mit der Forderung des Unmöglichen. »Meine erste Schwimmstunde?!«
»Du konntest nicht schwimmen.«, bemerkte Harry so leichtherzig, dass ich noch weniger glauben konnte, was für ihn längst ein natürlicher Fakt war.
»Du warst da!«
»Ja.«
»Du hast mein Leben gerettet?«
»Ich weiß es nicht.«, sagte er und klang ein bisschen verträumt. War es der verdünnte Alkohol in seinem Blut? Besaß er Blut? »Ich weiß nicht, ob du gestorben wärst. Ein Mensch war da, sie wollte dich retten. Aber sie war zu langsam.«
Es war zu viel. Meine Erinnerungen an diesen Tag bestanden zu großen Teilen aus zu runden Blasen gegen verräterisch blaues Wasser. Das Platzen eines Schallkokons, als mein Kopf nach Stundenminutensekunden die Oberfläche durchbrach. Die Angst, die viel zu taub war, um wirklich Lebensgefahr gewesen zu sein. Die Tränen von Zayn und meiner Mum und so viele Blicke auf mir.
Und? Auftrieb von meinen Fingern aus. Unsichtbare Fäden an meinem Gesicht.
»Du hast mich hochgezogen?«
»Ja.« Ein Träumer oder doch 11 Jahre in die Vergangenheit zurückgereist?
»Also wirklich ein Schutzengel.« Ich hatte es meine Nah-Nahtod-Erfahrung genannt, bis meine Mum mich gebeten hatte, keine Scherze mehr darüber zu machen. Dabei waren die wahren Konsequenzen an Zayn haften geblieben. »Das ist gerade alles so schwer zu glauben für mich. Also, es macht Sinn und ich glaube dir und Danke, aber...« Worte wollten nicht kommen, weil schon die Gefühle stockten. »Meine Mum würde dir die ganze Welt zu Füßen legen, wenn sie wüsste, dass du existierst.«
»Das ist nicht möglich.«
Ich blinzelte gegen das warme Licht einer Straßenlaterne. »Nur eine Redewendung. Ich will nur sagen, dass sie dir so unglaublich dankbar wäre.«
»Ich bin ihr auch sehr dankbar.«
»Wofür?«
»Deine Existenz.«
Ich stieß Luft durch meine Schneidezähne aus. »Du kannst ja fast romantisch sein, Harry.« Er sah mit großen Augen auf und ich grinste. »Nicht im Sinne der Kulturepoche.«
»Wie ist jemand romantisch?«
Vielleicht wollte ich das nicht beantworten. Nicht mit ihm von Lichtkegel zu Lichtkegel tanzend. »Das ist subjektiv. Ich meinte nur, dass du dankbar für meine Existenz bist...und es mir sagst. Das muss nichts heißen, ich meinte es nicht ernst. Aber es kann eine Form von Romantik sein. Einem anderen Menschen- einem anderen...Lebewesen..? Jemand anderem zu sagen, dass man ihn gern hat.«
Er nickte langsam, auch wenn ich noch immer nicht verstand, für wen er es in meiner Gegenwart tat. »Ich habe dich gern, Louis. Und ich bin dankbar, dass du existierst.«
Ich lächelte, weil ich konnte, und außerdem war es dunkel genug. »Ich bin auch dankbar, dass du existierst, Harry.« Wahrheit gegen Wahrheit; ein fairer Tausch. »Nicht nur, weil ich sonst vielleicht in einem 50-Meter-Becken ertrunken wäre.«
»Möglicherweise nicht.« Bescheiden musste er natürlich auch noch sein. Ein weiteres Auto tauchte am Ende der Straße auf. »Es ist zu dunkel, um sich so schnell zu bewegen.«, bemerkte Harry, immer noch mit dem entferntesten Säuseln in seiner Stimme. Es war ein bisschen wie Trinkenlernen an den Straßenecken von Doncaster – nur eigentlich überhaupt nicht.
»Deswegen die Lichter.« Das Auto raste schnell genug an Harry vorbei, dass seine Locken tanzten. Er schien sich wirklich nicht bewusst zu sein, dass er mindestens 10 Zentimeter Abstand zum Boden hatte.
»Louis?«
»Ja?«
»Kannst du mir auch etwas Romantisches sagen?«
Mein rechter Fuß verhakte sich mit der Pedale meines Fahrrads und ich stolperte mit kurzem, brennenden Schmerz in meinem Schienbein. Harry sah mich besorgt an, aber er wusste so gut wie ich, dass es mir gut ging.
Vielleicht sollte ich also doch vorsichtiger sein, welche Vokabeln ich Harry beibrachte. Nicht, dass es schlecht für mich wäre, ihm etwas Romantisches zu sagen. Im Gegenteil. Kritisch war auch nicht, dass er solche Begriffe vielleicht nicht richtig verstand und sie beiläufig benutzte – sondern was mein Kopf daraus machte.
Trotzdem; es war die erste angetrunkene Nacht seines Lebens. Ich konnte ihm den Gefallen tun. »Ich denke, dass du sehr lieb bist, Harry. Klug und lustig und weise und... Du hast ein gutes Herz. Das hört sich ein bisschen dämlich an, wie aus einem russischen Märchen, aber ich meine es ernst. Ich bin froh, dich zu haben.«
Harry schwieg eine Weile, und mit fehlenden Schritten und fehlendem Atem war seine Stille wie meistens absolut. Als er doch sprach, war es ungewohnt, sein Lächeln zu hören, bevor die Worte klickten. »Das fühlt sich gut an. Solche Dinge gesagt zu bekommen.«
Ich warf ihm einen neugierigen Blick zu und versuchte den Schmerz zu ignorieren, als ich die Pedale dieses Mal nur sanft mit der schon leicht pulsierenden Stelle streifte. »Macht ihr sowas nicht im Himmel? Einander nette Sachen sagen?«
Er neigte den Kopf, musterte die Klingel an meinem Fahrradlenker. »Nicht auf diese Weise.« Auf welche Weise? Ich wollte ihn fragen, aber seine Finger lagen schon an dem kühlen Metall. »Was ist das, Louis?«
»Meine Fahrradklingel. Damit ich andere Leute auf mich aufmerksam machen kann.«
»Wie an Zayns Tür?«
»Ja. So ähnlich.« War er dabei, eine Faszination für Klingeln jeglicher Art zu entwickeln?
»Louis?«
»Ja?«
»Wärst du auch froh, mich bei dir zu haben, wenn ich kein Engel wäre?«
Waren seine Pupillen wirklich größer oder nur dunkler? War es die Nacht oder der Wein oder mein Wunschdenken? Wie weit würde ich gehen, um meine Version von ihm in meinem Kopf zurecht zu manipulieren – und wie lange, bis ich es bemerkte?
Es war die leichteste Frage, die er mir heute Abend gestellt hatte. »Ja. Natürlich. Vielleicht sogar noch mehr.«
Er bleib stehen, ohne je wirklich gegangen zu sein. Überfordert drückte ich beide Bremsen meines Fahrrads, obwohl es stehen blieb, sobald ich es tat. Als ich mich zu Harry umdrehte, überraschten mich seine gefallenen Schultern, die traurigen Augenbrauen. »Oh.«, fiel es von seinen Lippen wie ein letzter Atemzug.
»Nein! Oh Gott. Harry. Das meinte ich nicht.« Ich klammerte mich an meinen Fahrradlenker, weil ich mich eigentlich an etwas anderes klammern wollte. »So meinte ich das nicht, wirklich. Ich wollte nicht sagen, dass Engel... Ich- Dass du ein Engel bist, ist das Coolste überhaupt! Wirklich. Du hast mein ganzes Weltbild verändert. Ich wollte... Wenn du ein Mensch wärst, Harry, was dann anders wäre...ich würde mich anders verhalten. Ich würde andere Dinge tun. Menschendinge. Es wäre nicht besser, ich meinte nicht besser. Es wäre anders.«
Es sah wirklich nicht aus, als würde ihn das sonderlich trösten. »Was für Dinge?«
Seine Hände halten, ihn nach dem kürzesten Kuss fragen. Und so weiter und so weiter. Mitternacht barfuß in der Oxford Road. »Nur...Dinge. Es gibt immerhin Sachen, die du nicht machst. Aus gutem Grund! Du bist ein Engel. Als Mensch würde ich dich fragen, keine Ahnung, ob wir uns ein bisschen betrinken und den späten Film im Block ansehen wollen. Ob wir ins Grove gehen und Billard spielen. Ob du mit mir Zeit verbringen willst. Das muss ich nicht machen. Du bist mein Engel. Du bist hier. Und du willst dich nicht betrinken oder ins Kino oder Billard spielen. Was okay ist! Ich meinte das nicht, wie ich es gesagt habe. Du bist richtig als Engel. Ich verdanke dir anscheinend wortwörtlich mein Leben. Ich bin froh, dass du hier bist, als Engel. Ich wäre auch froh, wenn du als Mensch hier wärst. Ich bin froh, dass du hier bist.«
Sein Gesicht hatte sich ein bisschen geglättet, die glänzenden Augen sahen wirklich, wirklich anders aus als sonst. Er brauchte noch eine Weile und ich bemühte mich um Geduld. Dann setzte er sich wieder in Bewegung und ich folgte, noch bevor er sprach.
Nach ein paar Minuten stellte sich heraus, dass er vielleicht nichts mehr dazu sagen würde. Ich wollte kein Gespräch erzwingen, ich fühlte mich schlecht. Für das Missverständnis oder die Voreiligkeit mit meinen Worten und vor allem, weil ich der Grund dafür war, dass Harry, wenn auch nur kurz, so enttäuscht ausgesehen hatte. Ja, sicher, wenn Harry ein Mensch wäre, würde unsere Beziehung wahrscheinlich ganz anders aussehen. Ich würde mich vermutlich einfach trauen, ihn nach einem Date zu fragen. Und er könnte Ja sagen und vielleicht würde sich mehr aus dem allen entwickeln und es gäbe womöglich eine neue Form von Glück. Oder er würde Nein sagen und ich wäre traurig, für einen kurzen oder etwas längeren Moment, und dann würden wir Freunde werden, oder auch nicht. Aber es spielte keine Rolle. Harry war auch auf diese Weise Teil meines Lebens und mit jedem nervenaufreibenden Tag wuchs er mir mehr ans Herz, ich wusste es mit jedem seiner unangekündigten Lächeln deutlicher, mit denen er von einer Sekunde auf die andere vor mir stand.
Vor den Unigebäuden wurde es ein bisschen lauter. Ich wartete darauf, dass Harry vielleicht wieder etwas gesprächiger wurde, sobald ihm auffiel, dass die Umgebung ihm bekannt war. Aber entweder fehlte die Erkenntnis oder der Gesprächsbedarf. Trotzdem, wenigstens begann sein Blick wieder zu wandern, über die nächtlichen Gesichter und die gelb leuchtenden Busse. Ich wollte ihn ansprechen auf vorhin, als er von seinen 60 Dezibel im Bus geredet hatte und wie auffällig es gewesen war. Sowieso hatte Harry es mir sehr schwer gemacht, nicht wie ein unhöflicher Idiot dazustehen, indem er mich viel zu oft gezwungen hatte, ihn mitten im Satz zu unterbrechen, weil er gerade dabei war, irgendetwas Leichtsinniges zu sagen. Ihn abzuwürgen war der effektivste Weg für seinen eigenen Schutz gewesen und ich hoffte, dass wenigstens Harry selbst das wusste.
Ich sagte nichts zu den Bussen oder Zayn und Niall. Vielleicht redete ich allgemein zu viel.
Es war eine Ampel, die Harrys Zunge wieder lockerte. »Rot!«, verkündete er warnend und seine linke Hand schoss über das Fahrrad hinweg vor meine Brust. »Stehenbleiben.«
Ich blieb nicht stehen, sondern lief sanft gegen seine Handfläche. »Die gilt nur für die Autos. Wir können gehen.«
Er akzeptierte es und sah noch eine Weile auf seine Finger hinab, die längst zu ihm zurück gefallen waren. Als er wieder aufsah, merkte ich, ohne ihn direkt anzusehen, dass er noch weiter wuchs. »Da ist ein Tier, Louis!«
Ich griff schnell nach seinem Jackenärmel und zog ich wieder auf die Erde wie einen Heliumballon. »Eine Katze.«, erklärte ich.
»Ich weiß.« Es klang ein bisschen wie eine Lüge. »Kann ich- Ah! Louis! Sie kommt zu mir!«
Und wirklich, die graue Katze, die bis eben aufmerksam unter dem Queen's Arch gesessen hatte, ging jetzt zielsicher auf Harry zu. Fast hätte ich behauptet, dass Engel möglicherweise eine magnetische Wirkung auf Katzen hatten, aber ehrlich gesagt besaßen Katzen wahrscheinlich einfach nur einen unglaublich starken Willen.
»Louis!«, quietschte Harry wieder auf – unmöglich zu sagen, ob er die Freude oder Angst seines Lebens empfand. »Sie- Louis!« Mit entschiedener Wucht schmiegte der schlanke Körper sich an Harrys Bein.
Weil Harry schon zu seinem nächsten Sprung ohne Rückkehr ansetzte, griff ich gleich durch mein Fahrrad nach seinen Fingern. Ich konnte nicht anders; ich musste lachen. »Bist du allergisch?«, fragte ich, ohne es ernst zu meinen.
»Nein! Sie berührt mich, Louis!« Der lange graue Schwanz hatte sich um Harrys Wade geschlängelt und selbst ich konnte das zufriedene Schnurren hören.
»Ja, das sehe ich.«
»Und sie vibriert.« Er stand steif wie ein Stock, seine Hand klammerte sich an meine.
»Sie freut sich.«
»Ich weiß nicht, ob ich mich freue.«
»Na komm, dann lass uns weitergehen. Wir können sie abschütteln.« Ich bot ihm mein bestes, ermutigendes Lächeln an. »Du musst nur versuchen, nicht 30 Zentimeter in der Luft zu schweben. Nicht mit den ganzen Leuten hier.«
»Ich versuche es.« Die Beherrschung, die er dazu brauchte, sich wieder in Bewegung zu setzen, war ihm auf die Stirn geschrieben. Aber er schaffte es. Wenn es so weitergehen würde, könnte die Nacht eine schlafarme werden.
»Sie folgt mir, Louis.«, sagte Harry nach ein paar eiligen Schritten, die wie immer ein bisschen ungekonnt aussahen. Die Katze lief halb hinter, halb neben ihm her, aber mit einem konstanten Sicherheitsabstand von mindestens 10 Zentimetern.
»Sie wird sich bald jemand neues suchen.« Vorsichtig und ein bisschen zögerlich befreite ich meine Finger von Harrys, die immer noch einen festen Griff hatten. Wäre ihm aufgefallen, wenn ich einfach nicht losgelassen hätte? Wäre es ihm vielleicht lieber so gewesen?
»Danke Louis.«, sagte er leise und sollte wirklich langsam aufhören, meinen Namen in dieser Frequenz zu sagen. Sonst würde ich mich noch daran gewöhnen. »Ich muss besser aufpassen.« Er sagte es, als wäre es eine wichtige Mahnung an sich selbst. »Eigentlich sollte ich dich beschützen.«
»Also ich bin ehrlich gesagt ganz froh, wenn wir da ein bisschen symbiotisieren können.«
»So ist es nicht gedacht.«, erklärte Harry ernst.
»Dann sag denen da oben im Himmel, dass sie euch erstmal beibringen sollen, dass man auf eine Katze, die gestreichelt werden will, nicht mit einem Raketenstart reagiert.«
»Was?«
»Nichts. Alles gut. Du bist ein guter Beschützer.« Ich manövrierte mein Fahrrad vorsichtig um einen abgestellten Handwagen, voll beladen von Plastikinnentöpfen. »Ich wünschte so sehr, ich könnte Zayn vom Schwimmbad erzählen.«
»Das darfst du nicht.«, ermahnte er nachdrücklich und ich seufzte aus Protest.
»Ich weiß.«, versicherte ich. Er sah nicht ganz überzeugt aus. »Ich weiß es wirklich, Harry. Keine Sorge. Ich werde dich nicht verraten.«
Die Katze hing ihm immer noch an den Fersen. Es passte eigentlich ganz gut. Die Schritte ihrer weichen Pfoten waren so lautlos wie Harrys eigene. »Denkst du, sie weiß, dass ich ein Engel bin?«, fragte Harry und klang immer noch etwas misstrauisch.
Und wie ich das dachte. »Ich denke, dass sie dich mag.«
»Wirklich?« Überraschung blühte auf seinem Gesicht auf. Und vielleicht dieses Mal wirklich Freude.
»Vielleicht sympathisiert sie mit deinen nackten Füßen.« Ich fror schon bei dem bloßen Anblick. »Kannst du eigentlich krank werden?«
»Nicht auf die Weise, die du meinst.«
»Auf welche Weise dann?«
»Lass uns nicht über Krankheit reden, Louis.« Auf einmal klang er komplett sorglos. »Es ist so eine schöne Nacht!«
Es musste der Wein sein. Die Wolken hatten sich verzogen, aber aus der Oxford Road heraus war es fast unmöglich, mehr als drei Sterne zu sehen. Aus Sicherheitsgründen starrte ich nicht zu lange. Dann hoben sich meine Augenbrauen wie von selbst. »Ist es deine erste Nacht, Harry?«
»Ich bin fast 122 Jahre alt, Louis.«, erwiderte er trocken.
»Deine erste Nacht auf der Erde?«
»Hmm. Das kommt darauf an, wie du Nacht definierst. Es ist mein erstes Mal hier zu dieser englischen Uhrzeit, ja. Draußen.«
Was für eine seltsame Existenz. 122 Jahre, er lebte im Himmel und hatte noch nie die Sterne gesehen? »Wir müssen mal zum Heaton Park. Das würde dir gefallen.«
»Wieso?«
»Zum Sternegucken. Es gibt keine hellen Hochhäuser in der Nähe und man sieht wirklich einen schönen Nachthimmel.« Francis hatte es mir gezeigt, das war jetzt fast...es war lange her.
»Können wir jetzt hingehen?«
Die Vorstellung brachte mich direkt wieder zum Lachen. »Nein. Es ist ein bisschen außerhalb, fast bei Middleton. Zu Fuß wären wir die ganze Nacht unterwegs. Mit dem Bus wahrscheinlich auch, von hier aus. Wir können das irgendwann anders machen.«
»Für deine Augen ist es jetzt ein bisschen hell, aber ich sehe die Sterne auch hier.« Ich sah gerade noch, wie er sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe tippte. »Ich könnte sie dir zeigen.« Es klang nach dem Besten und Schlechtesten, was ich mir gerade vorstellen konnte. Direkt neben Harry, Finger halb im Kosmos, wie ich nach Sternen suchte, die ich nicht sehen konnte. Wahrscheinlich wäre der Harry-Teil es wert.
»Heute Nacht muss ich erstmal nach Hause. Morgen muss ich früh raus, und es ist mein langer Unitag. Ich werde langsam auch ein bisschen müde.«
»Ja.«, bestätigte Harry, natürlich. »Du fängst gerade auch an zu frieren.«
Ich wollte es abstreiten, aber in genau dem Moment spürte ich, wie die Kälte über meine Handgelenke und die Arme hinaufkroch. »Mir ist nicht kalt.« Noch stimmte das.
»Möchtest du meine Jacke anziehen?«, Begeisterung zuckte in seinem Lächeln. Ich wusste gut genug, dass er das Angebot weniger aus Verantwortungsbewusstsein heraus machte und mehr, weil er die gehasste Cordjacke loswerden wollte.
Ich versuchte nicht, mir das Grinsen zu verkneifen. »Jetzt hast du Romantik gemeistert.«
Seine Skepsis würde die blasse Stirn definitiv stärker runzeln, wäre er ein Mensch. »Ich habe dir nicht gesagt, dass ich dich gerne habe.« Er hob den Kopf. »Aber das tue ich natürlich trotzdem, Louis!«
Was für ein kleiner Clown. »Es ist kulturell behaftet. Ganz viel in Filmen und so weiter. Deine Jacke einer frierenden Person anzubieten, ist romantisch.«
Der Gesichtsausdruck war mir wirklich langsam vertraut, wenn er sich eine Notiz im Kopf machte. »Dann nimm bitte meine Jacke. Mir wird nicht kalt.«
»Nein, Harry, alles gut. Mir auch nicht. Das wäre eh zu eng mit meine Jacke drunter. Aber danke. Wir sind bald da.«
»Wir sind noch 1446 Meter entfernt, Louis.«
»Bist du ein GPS-Gerät?«
»Ein was?«
»Egal. Das ist nicht weit. 1464 Meter.«
»1446. Jetzt nur noch 1440 Meter. Es ist zu weit, wenn du frierst, und du frierst.«
»Das ist zu eng mit deiner Jacke, Harry.«
»Dann nutz dein Fahrrad.«
Es war unerwartet gewesen. »Was?«
»Du warst letztes Mal deutlich schneller mit deinem Fahrrad. Wenn du dich hier rauf setzt.« Seine Finger streiften meinen schwarzen Sattel. »Bitte Louis. Du solltest nicht so lange in der Kälte sein. Außerdem bist du müde. Hier kannst du nicht schlafen.«
»Das hatte ich auch nicht vor.« Ich musterte die schmächtige Katze, die sehr behutsam immer auf Harrys rechter Seite blieb, da die Nähe zur Straße anscheinend immer noch besser war als zu meinen rotierenden Speichen. Vielleicht spürte sie, dass Harry Gefahr abwenden konnte. Vielleicht spürten alle es und ich war der einzige Dumme gewesen. »Aber du hast kein Fahrrad, Harry.«
»Das macht nichts. Wir treffen uns dort.«
Meine Erleichterung war weich und fließend. Auf das Fahrrad zu steigen, würde also nicht bedeuten, Harry für heute zu verlieren. »Okay.«, willigte ich ein, bevor er es sich anders überlegen konnte.
Er sah sich mit losem Kopf um. »Ich brauche einen versteckten Ort.«
»Schau mal, da?« Ich nahm die Kurve zu dem verwinkelten Eingang der Business School schon, bevor Harry die Wahl absegnen konnte – damit die rote Ampel auf unserem ursprünglichen Weg ihn gar nicht erst lähmen konnte. Aber Harry, und sein grauer Begleiter, trotteten mir zufrieden hinterher. »Hier? Das Fahrrad deckt dich ab. Und niemand achtet auf uns.«
»Danke Louis.« Er hob eine Hand, zwei Finger fanden seine Schläfe. »Es ist ein bisschen romantisch, wie sie mit uns mitkommt, oder?«, fragte Harry mit Lächeln auf die Katze. Da war definitiv eine Neudefinition fällig.
»Bis gleich, Harry.«
Er lächelte weiter, die Augen ein bisschen glasig. Und so stand er da. Ich hatte erwartet, dass es schneller ging. Vielleicht war das aber nur, weil Harry so häufig für mich unangekündigt verschwand. Oder wollte er, dass ich zuerst ging?
Seine Augen wurden ein bisschen weiter, bevor er seine zweite Hand auch zu seiner Schläfe führte. Er schloss die Augen. Kurz hatte ich das Gefühl, seine Haare würden flimmern. Die Katze, die geduldig zu Harrys Füßen saß, miaute.
Harry öffnete die Augen und seine Arme fielen. Da war etwas so Neues in seinen Augen, dass ich fast einen Schritt zurück genommen hätte. Sein Halloweengesicht tauchte vor meinem inneren Auge auf. »Ich kann die Magie nicht bündeln.«, hauchte er.
Mein Gehirn war zu langsam – dann: »Was?«
»Ich weiß es nicht, Louis. Ich bin- Meine Linien- Ich kann sie nicht bündeln, sie ist da, aber nicht fassbar, sie ist-«
»Der Alkohol.«, versuchte ich so besänftigend wie möglich zu sagen. »Es ist der Wein, Harry. Ganz ruhig. Du bist nur ein bisschen angetrunken. Das geht vorüber.«
»Wann?!«
»Ich weiß nicht, wie das mit euch Engeln funktioniert, aber ich würde schätzen, in ein paar Stunden, spätestens morgen früh...« Er hatte immerhin nur ein Glas getrunken. Das zwar auch in beeindruckender Geschwindigkeit, aber der Effekt konnte ja nicht ewig halten. Richtig?
»Morgen früh?«
»Ja. Pass auf, Harry. Wir fahren jetzt zu meiner Wohnung. Du setzt dich auf den Gepäckträger. Ich bin zwar nicht super gut darin, mit jemandem hinten drauf zu fahren, aber du wirst das Fahrrad wahrscheinlich nicht mal berühren. Schweben scheint ja noch bestens zu funktionieren.« Er war mindestens einen halben Meter in der Luft. Aber es war okay. Erstens musste Harry sich erstmal abregen und zweitens war hier in der Booth Street gerade sowieso niemand unterwegs. Und selbst wenn; die Dunkelheit und ich verbargen Harry gut genug, dass er höchstens aussah, als stünde er auf einem Stuhl. Oder so. Wie auch immer. »Okay?«
Er musterte die Spitzen seiner Finger mit großen Augen, führte seine Mittel- und Ringfinger aneinander, dann wieder an seine Schläfen, unter seinen Kiefer, und gab schließlich auf. »Das ist noch nie passiert, Louis.«, sagte er so verunsichert, dass ich nur noch Mitleid mit ihm haben konnte. Meine Augen waren jetzt fast auf Höhe seines Bauchnabels.
»Wir probieren es bei mir nochmal, ja? Ist das okay, Harry? Wenn du wieder runter kommst, können wir schnell nach Hause fahren. In Ordnung?« Ich hielt ihm eine Hand entgegen. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er sie nahm. Auf dem Boden schmiegte sich direkt die Katze an seine Beine. Harry war zu erschüttert, um zu reagieren.
»Komm her.«, wies ich ihn an und klopfte auf den Gepäckträger. Ich hätte ihm auch eine Umarmung angeboten, wäre ich nicht zu unsicher über die Konsequenzen davon. »Du setzt dich hierhin. Schaffst du das? Du sitzt und ich fahre.«
Er starrte das Metall an. »Ich weiß nicht wie.«
»Mhm.« Ich gab mir die allergrößte Mühe, komplette Ruhe auszustrahlen. »Ist nicht schwer. Du musst dein Bein so heben und dich dann einfach hinsetzen. Siehst du? Du kannst das.«
Er imitierte meine Bewegung nur langsam, aber irgendwann saß er – mit oder ohne Berührung spielte keine Rolle. Die Katze miaute wieder.
»Sehr gut. Und jetzt, nicht erschrecken... So, okay.« Ich kletterte vorsichtig über den Rahmen, ohne Harry einen Tritt zu verpassen. Als ich das Fahrrad ausrichtete, stand er noch breitbeinig über dem Gepäckträger. »Jetzt halt dich an mir fest. Damit du nicht runterfällst.« Nicht, dass er in Gefahr wäre, sich den Kopf aufzuschlagen, aber ich würde definitiv damit rechnen, dass er wie eine Feder davonsegelte, sobald ich mich nur einen Meter fortbewegte.
Vorsichtig umfassten zwei Arme meine Taille, seine Finger verflochten sich vor meinem Bauch. Ich fühlte mich wie ein dämlicher Idiot, als mein Inneres einen kleinen Hüpfer machte. »Ja, perfekt, und jetzt nicht loslassen.« Ich platzierte meinen rechten Fuß auf der Pedale. »Bereit?«
»Ich hoffe.«, flüsterte Harry.
Ich musste es als Ja nehmen. Ein bisschen wackelig stieß ich mich zweimal mit dem linken Fuß ab und trat dann in die Pedale. Sobald ich saß, war alles gut. »Verabschiede dich von deinem Freund.«
»Wem?«, fragte Harry mit wackeliger Stimme und festem Griff um meine Rippen.
»Der Katze.«
»Tschüss Katze!« Er machte eine halbe Drehung, bevor ich ihn warnen konnte, und ich wollte mich schon mit den Füßen retten, aber ich spürte fast nichts. Harry war ein warmes Gewicht hinter mir, direkt an meinem Rücken, aber das Fahrrad war nicht schwerer. Die steinerne, unebene Last, die sich sonst bei solchen Fahrtmannövern hinten aufbürdete – und mich meistens für sie disqualifizierte – blieb aus.
Ich seufzte erleichtert. »Siehst du? Klappt doch!«
Wir bogen wieder auf die Oxford Road ein und mit jedem Tritt war Harrys Nähe vertrauter. Nach ein paar hundert Metern – und zielsicheren Kommandos von Harry bezüglich der Ampelfarben – lockerte sich sein Griff genügend, dass ich keine Angst mehr hatte, ich könnte ihn der größten Folter seines Lebens unterziehen. Und als wir fast Dreiviertel der Strecke geschafft haben mussten, lachte Harry leise direkt hinter meinem Ohr. »Es ist schön.«, sagte er vorsichtig und als hätte der Fahrtwind die Panik aus seinem Kopf gepustet. »Gefährlich. Aber schön.« Dann lehnte er sich weiter vor und kurz dachte ich, seine Lippen an meinem Hals zu spüren. »Das darfst du nicht verraten, Louis.«, flüsterte er.
Ich fühlte mich so leicht, als wäre ich der Schwebende von uns beiden. Ich warf nur einen kurzen Blick auf die verschränkten Finger vor meinem Bauch, Stimuluskontrolle, und lächelte für den Rest den Weges. Vor meiner Wohnung angekommen, fror ich längst nicht mehr.
Wir stiegen vorsichtig ab. Harrys Locken waren ein bisschen verwirbelt, sein Gesicht offen und vielleicht fast selig. Dieser verdammte Engel mit Weißwein intus. Eben war er noch einem Nervenzusammenbruch nahe gewesen.
Ich brachte mein Fahrrad in den Keller, Harry wartete mitten im Flur schwebend. Die Treppe bezwang er, ohne auch nur in die Nähe einer einzigen Stufe zu kommen. Als wir oben waren, schien die Ablenkung des Radfahrens verflogen, nur seine roten Wangen erinnerten noch daran.
In meiner Wohnung wusch ich mir nur schnell die Hände, aber direkt danach lag Harrys verbannte Kleidung schon als Haufen mitten zwischen Bad und Küche. Ich fand ihn in meinem Zimmer, weiße Seide floss über seine Schultern. Er sah auf und wirkte zumindest ein bisschen gefasster. »Es geht nicht, Louis. Ich schaffe es nicht.«
Ich nickte, obwohl ich eigentlich keine Ahnung von all dem hier hatte. »Das wird wieder. Morgen, ich bin mir sicher. So ist das mit Alkohol. Mach dir keine Sorgen.«
Er wandte sich von mir ab, aber ich sah den Du-weißt-nicht-wie-das-ist-Blick trotzdem. Natürlich machte er sich Sorgen. Wahrscheinlich war es das erste Mal, dass seine Magie ihm nicht gehorchte – wenn es wirklich mit dem Wein zusammenhing. Aber ich wollte nicht nachfragen. Ich wollte ihn aufmuntern. Ich wollte seine Weißwein-Unbeschwertheit zurück, um seinetwillen. Die unterschwellige Überschwänglichkeit, die nur herausstechen konnte, weil ich Harry zumindest dafür gut genug kannte.
»Ich dachte, es wäre hier wärmer. Für dich.«, sagte Harry vor einem der schwarzen Fenster, bevor ich mir überlegt hatte, wie ich ihn aufmuntern konnte.
Irgendwann würde ich ihm sicherlich erklären müssen, wo der Zusammenhang zwischen dem Studentenleben und Heizkosten lag. »Das macht mir nichts. Ich gehe sowieso direkt schlafen. In meinem Bett ist es warm.«
Harry drehte sich um und inspizierte mein Bett. »Das ist gut.«
Ich nickte, fühlte mich ein bisschen in die Zeit vor einigen Wochen zurückversetzt. »Okay, ich mache mich schnell fertig. Bis gleich.« Auf dem Weg zum Bad drehte ich mich noch einmal um. »Harry?« Ich steckte den Kopf zurück durch den Türrahmen. »Du kannst dir überlegen, ob du einen Schluck Wasser nachtrinken möchtest. Ich weiß, das ist nicht so deins, aber das kann wirklich helfen. Mit dem Alkohol. Denk drüber nach. Wasser ist in der Küche.« Ich drehte mich wieder weg, bevor ich seine Reaktion über die großen Augen hinaus sehen konnte. Wahrscheinlich würde er das nächste Jahrzehnt lang freiwillig nichts mehr trinken, aber falls er es doch probieren wollte, konnte ich ihm wenigstens den Freiraum lassen, es dieses Mal ganz unbeobachtet und ohne Erwartungen von außen zu tun. Vielleicht half das ja.
Zurück im Bad schloss ich die Tür hinter mir ab – auch wenn wahrscheinlich nicht mal eine meterdicke Hochsicherheitstür Harry aufgehalten hätte. Es war Gewohnheit. Und es brauchte keine Minute, bis ich wusste, wie wichtig das lang aufgeschobene Alleinsein war, als die Müdigkeit wie auf Knopfdruck über meinem Kopf zusammenbrach. So schön und aufregend die Zeit mit Zayn, Niall und dann Harry, Harry, Harry auch gewesen sein mochte; ich brauchte eine Pause. Und ich brauchte Schlaf.
Meine Badroutine bewältigte ich wie in einer Trance, hing noch eine Minute am Wasserhahn und ließ das Wasser halb über mein Gesicht, halb in meinen Rachen laufen. Ich war so müde, dass ich einfach so in den Spiegel schaute, als gäbe es da etwas zu sehen. Spinnenädrig-rote Augen, hilfloses Haar und flehende Augenringe wie schwimmender Schimmel auf milchigem Tee. Ich sah weg, denn das war die leichteste Übung der Welt. Aber die Reflexion hatte sich wohl-geübt in meinem müden Kopf eingenistet.
Ein leises Klicken und das Schloss sprang auf. Die Wohnung war so leise, als würde ich schon schlafen. Mit trägen Fingern holte ich noch mein Handy aus meiner Jackentasche und starrte so lange auf die verpassten Nachrichten, bis mir bewusst wurde, dass meine Lesekompetenz nicht mehr mitspielte. Meinen Pullover zog ich mir noch im Gehen über den Kopf.
Als ich Harry sah, dachte ich kurz, ich würde schon träumen. Er war mitten im Raum zu einer kleinen Kugel gerollt, eine gute Handbreite über dem Boden schwebend, die Augen geschlossen. Ich hätte schwören können, dass ihn ein blasser, goldener Kokon umgab.
Sprechen war plötzlich zum größten Verbrechen überhaupt geworden. Aber meine Angst vor dem Klang meiner Stimme wurde von der Angst vor dem Ungewissen übertroffen. Ich starrte ein paar Sekunden, dann hielt ich es nicht mehr aus. »Harry?«, fragte ich leise.
Er schlug die Augen auf, direkt mit mir im Fokus. Was machte der Alkohol mit ihm? Was konnte ich tun? Wieso hatte mir niemand gesagt, was meine Verantwortungen waren, sobald mir ein Schutzengel auf Schritt und Tritt folgte? »Ist alles okay bei dir?«
Er sah mich an, mein Gesicht oder etwas Größeres, und seine Augen waren so glasig, dass ich kurz befürchtete, er würde anfangen zu weinen. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Seine gekrümmte Haltung öffnete sich ein bisschen. »Du bist so müde.«, murmelte er zart, als wäre es seine Müdigkeit.
Als wäre es seine Müdigkeit.
»Ich mache dich müde..?«, fragte ich überrascht und Harry nickte.
»Immer, aber ich habe längst gelernt, zu widerstehen. Aber der Wein... Ich bin schwach, Louis. Und müde. Du bist müde und nah. Ich kann nicht...ich kann nicht.«
Ich wollte ihn umarmen und halten und für immer sicher wissen. Harry war müde. Er rollte sich zusammen wie ein Baby und versank in meiner Müdigkeit. »Ist es schlimm, wenn du einschläfst?« Auf leisen Füßen schlich ich mich zu den Fenstern, um die Vorhänge zu schließen.
»Nein. Ich werde erholt sein.« Er öffnete sich noch ein bisschen weiter und seine Zehen spielten wieder mit einer Nähe zum Boden.
»Dann ist doch alles gut. Ich brauche nicht lange, um die Luftmatratze bereit zu machen und wenn du-«
»Ich mag die Luftmatratze nicht.«, sagte er mit einem so ernsten Gesicht, dass es seine Schlaftrance zu brechen schien. Vielleicht war ich es. Mit seiner Fötushaltung hatte er mich genügend geschockt, um mich wieder ein bisschen wach zu alarmieren und genau dadurch wurde auch er aufmerksamer.
Ich suchte sein Gesicht ab. Sagte er wirklich gerade, wovon ich nicht mal träumen konnte, dass er es sagte? »Ich lasse dich nicht auf dem Boden schlafen, Harry.«, tastete ich mich behutsam vor.
Er setzte sich doch noch auf. Dann streckte er den Arm aus, um auf das Bett zu zeigen. »Das Bett ist zum Schlafen, oder nicht?«
Ich blinzelte, falls sich etwas ändern konnte. Meine Zunge war ein bisschen klebrig geworden. »Und ich schlafe..?«, fragte ich vorsichtig, weil ich es mich mit Harry trauen konnte. Ich konnte das Knistern der Luftmatratze unter meinen Oberarmen förmlich spüren.
»Auch in deinem Bett? Ich denke, wir können teilen. Die Luftmatratze ist nicht gut, Louis, ich will nicht, dass du dort schläfst. Morgen... Wenn du recht hast, kann ich morgen- Meine Zunge ist schwer.« Erst stahl er meine Müdigkeit und jetzt noch meine Zunge. Wein machte ihn zu mir. Er wollte mit mir in einem Bett schlafen. Harry, der Engel. In meinem Bett. Es war nicht frisch bezogen.
Ich seufzte. Wofür? Worum? Keine Ahnung. Ich war zu müde und zu dankbar und zu Ende. »Dann lass uns schlafen gehen.« Wie ein altes Ehepaar, wie zwei Vertraute, keine Verängstigten, wie mit jemandem, der mich schon länger kannte, als ich mich selbst, seit dem Tag meiner Geburt. Was war da schon eine geteilte Matratze?
Alles. Ich wusste es hinter meiner Stirn und in meinem Herzen, das trotz Erschöpfung schneller schlug. »Gut.«, bestätigte ich und mehr gab es nicht zu sagen. Gutgutgutgutgut. Gut und besser und worauf ließ ich mich hier ein? Harry in meinem Bett und würde das wirklich passieren? Unmöglich, möglich, unmöglich, mög- Ich war müde.
Mit geschlossenen Vorhängen und rasenden, stolpernden, zähen Gedanken zog ich mich um, schnell, im Bad. Aus Fehlern hatte ich gelernt und stellte meinen Wecker noch bevor ich zu Harry zurückkehrte. Ich weigerte mich, die Zahlen wirklich zu verarbeiten, oder versuchte es zumindest. Die Dauer einer Nacht. Tick Tack und ich verschwendete Sekunde um Sekunde.
Harry saß mit angezogenen Beinen auf meiner gefalteten Decke und sah so schläfrig aus, dass es nur noch richtig sein konnte. Schwere Lider und weiche Handgelenke. Ich hätte ihn auch ansehen können, die ganze Nacht, so, zerbrechlich und schaumig und am Ende doch menschlich. Aber ich konnte den Blick losreißen, als er viel zu träge lächelte.
»Louis, es ist schön. Ich berühre es wirklich.«
Es gab so viel mehr, das mir auf der Zunge lag, aber ich sagte nur: »Dann warte erst, bis du liegst.«
»So?«, fragte er und wollte sich schon mit den Armen abstützen, um ins Liegen zu kommen, aber ich stoppte ihn.
»Warte kurz. Ich möchte nur...warte.« Ich griff nach den Deckenenden und zog sanft. »Darf ich kurz..?« Er verstand genug, dass die Decke sich ganz plötzlich unter ihm löste, obwohl ich nicht sehen konnte, dass er sich auf nur einen Millimeter in die Lüfte geschwungen hatte. Aber als er dieses Mal auf dem Laken landete, seufzte mein Bett auf. Meine Füße waren kalt, doch ich konnte meinen Blick nicht von den Stellen reißen, an denen Harrys weißes Kleid auf dem dunklen Grün meines Lakens Falten warf. Oder weniger Falten; eher sanfte Wellenberge einer Perfektion, die nicht von diesem Planeten stammen konnte. Eigentlich hätte es niemals Worten bedürfen sollen. Alles an ihm war himmlisch.
»Den Kopf auf das Kissen.«, erinnerte ich ihn, als er dabei war, gerade irgendetwas anderes zu initiieren. »Ja, richtig.« Er ließ seinen Kopf fast in Zeitlupe auf das Kissen sinken und die dunklen Locken fächerten sich langsam auf. Schläfrigkeit trübte die Neugier in seinen Augen, als er auf mich wartete. Er stammte aus einem schmerzhaften Märchen, einem geliebten Gemälde, einem glühenden Weihnachtslied. Er war und war gewesen und würde diese Nacht in meinem Bett verbringen.
Ich setzte mich auf den Bettrand, wandte mit Beherrschung den Blick ab. Es gab nur eine Sache zu tun. Ich tat sie. Behutsam, als hätte ich 21 Jahre für diesen Moment geübt, legte ich mich zu ihm auf die Matratze, erlaubte mir nicht den winzigsten Fehler darin, ihn nicht zu berühren. Kein Korrekturzug, nicht der winzigste Hautkontakt. Erleichtert zog ich die Decke fast andächtig hoch auf meine und damit seine Brust. Ich musste ihn nicht spüren oder sehen, um zu wissen, dass er da war. Mit so wenig Bewegung wie möglich löschte ich das Licht. Sofort erinnerte die Schwärze meinen ganzen Körper daran, wie groß meine Sehnsucht nach ihr gewesen war. Aber vielleicht vermischten sich die Sehnsüchte.
»Es ist seltsam.«, hauchte Harry. »Schwer und warm.«
»Darum geht es.«, flüsterte ich zurück und fühlte much fast ein bisschen fiebrig im Kopf. Gleichzeitig leicht und glücklich, als hätten wir Sekt getrunken, aber auch zäh und golden wie Honig, auf die gute Weise. Wer sagte denn auch, dass die Beeinflussung von mir auf Harry nur in eine Richtung funktionierte?
»Louis?« Ich wusste sofort, dass es zu lange her war, dass ich seine Stimme das letzte Mal in vollkommener Dunkelheit vernommen hatte.
»Ja?«
»Du solltest schlafen.« Er war müde genug, dass seine Worten miteinander verschmolzen, als wären sie zu flüssig.
»Du auch.«, erwiderte ich leise. Ich drehte mich vorsichtig auf die Seite, Harry zugewandt.
Sein Gesicht hatte ein Profil, verschwommen und dunkel gegen die helle Wand, aber er drehte sich mir zu, als er meine Bewegung verstanden hatte. »Werde ich.«
Die Gewöhnungszeit war zu kurz und selbst bei bestem Willen konnte ich das Relief seines Gesichtes nicht mehr sehen, aber es war auch zu anstrengend für meine Augen. Ich wollte sie einfach nur noch schließen. »Wann hast du das letzte Mal geschlafen?«, fragte ich leise, um meine-seine Schläfrigkeitsblase nicht platzen zu lassen.
Mit seinem Mund nicht weit von meinem entfernt wartete ich dauerhaft auf das Ausatmen, das nicht kommen würde. »Vor 6563 Nächten.«
Es war kein Lachen und kein Atmen, sondern etwas dazwischen. »Ich kann nicht rechnen, wann das war.« Es war unglaublich; Harry kannte zu jeder Uhrzeit des Tages meinen Blutdruck, aber hatte keine Ahnung, was für eine Niete ich in Mathe war.
»In der Nacht vom 9. auf den 10. Dezember 1995 deines Kalenders.«
Wie naiv von ihm zu denken, dass es sich um meinen Kalender handelte. Mein Kalender hätte nie die Jahrtausendwende erlebt. »Kurz vor meinem vierten Geburtstag.«
»Es waren schon nur noch ein paar Stunden. Für mich. Und seitdem...« Er beendete den Satz nicht mehr und klang ehrlich gesagt auch, als wäre er schon halb in einem Traum versunken. Träume. Bitte bitte bitte kein Albtraum diese Nacht.
»Harry?« Ich ließ mir zu viel Zeit für ein einzelnes Blinzeln. »Pumpst du mich gerade mit Melatonin voll?«
Eine kalte Decke hatte sich noch nie so schnell aufgewärmt. Ich hörte, dass er eine Schulter bewegte. »Nein. Das bist du selbst.«
»Hmm.«, summte ich, weil mein Gehirn sich jetzt vielleicht weigerte, was Wortfindung anging. Wie weit war sein Knie wohl von meinem entfernt und wusste Harry es auf den Mikrometer genau?
»4 Stunden und 37 Minuten«, murmelte er.
»Was?«, fragte ich, obwohl irgendein Teil von mir wissen musste, dass er noch nicht zu Ende geredet hatte; seine Zunge war nur zu langsam.
»-bin ich jetzt schon auf der Erde.« Seine Stimme war auf meinen Wangen. War das nicht eine Art von Atem? »Das ist lange.«
»Hm.« Ich versuchte, wenigstens ein bisschen anerkennend zu klingen. Wie konnte er noch reden, wenn er meine Müdigkeit teilte?
»Vielleicht stiehlst du mir meine Magie, bevor der Wein es kann.«, brabbelte Harry weiter und ich war mir so sicher, dass ich nachfragen sollte, was das bedeutete, oder dass ich ihn vielleicht schon falsch verstanden hatte.
Aber die angemessene Reaktion wollte sich nicht formen und da war nur diese riesige Harry-Wolke direkt neben mir und in meinem Bauch und irgendetwas in mir erinnerte sich an mein eigenes triumphales Leben im Himmel, das es nie gegeben hatte. Das es doch gegeben hatte, solange ich nur fest genug träumte.
»Schlaf gut, Harry.« Ich schmeckte die Worte schon mehr, als dass ich sie sagte. »Wirklich, dieses Mal.«
Stille und Dunkelheit und der unendliche Frieden. Harry antwortete nicht mehr – oder meine Wahrnehmung hatte zuerst aufgegeben.
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