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»Ist dir schon mal aufgefallen, dass Calprain aussieht wie Ezra Pound?«, fragte ich in die löchrige Stelle von Zayns kleinen, mechanischen Seufzern hinein, die meine Hände ihm entlockten.
Er antwortete nicht direkt und ich massierte stumm weiter. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, sein Kopf hing lose nach vorne, fast mit Kinn auf der Brust. Ich war mir ziemlich sicher, dass diese Haltung meine Massage weniger gesund machte, aber das war Zayns Entscheidung. Ich war sowieso kein Physiotherapeut. Vielleicht machte ich auch gerade irreversibel seine Schultern kaputt.
»Ich weiß gar nicht, wie Ezra Pound aussah, glaube ich.«, steuerte er schließlich bei, Stimme in ungewohntem Vibrato, als könnten meine Finger auch seine Stimme verformen. Als wäre er im Halbschlaf.
»Doch.«, widersprach ich, gutwillig. »Wie Calprain.« Vielleicht bildete ich es mir auch ein. Es wäre nur witzig, wenn Professor Calprain von Modernismus ausgerechnet Pound ähnlich sehen würde. »Dieses eine Foto, das kennst du. Da ist er jung. Mit dem Schal. Oder Pelzkragen oder irgendwie sowas, um den Hals. Mit der Frisur.«
»Ach ja.«, raunte Zayn ironisch. »Die Frisur. Jetzt weiß ich direkt Bescheid.«
»Na, die Ezra-Pound-Frisur. Voluminös. Mit so...den Haaren.«
»Du bist wirklich unglaublich gut mit Worten, Louis.«
»Ich hab's mit den Augen vorgemacht!«, protestierte ich. »Die Haare. Guck mich an. So!« Dieses Mal benutzte ich meine Hände, um meine Haare auf die Weise aus meiner Stirn zu nehmen und auf meinem Kopf zu wellen, dass sie dem Bild aus meiner Erinnerung ähneln mussten.
»Nicht aufhören.«, quengelte Zayn sofort, als meine Hände seine Schultern verlassen hatten. Meiner guten Demonstration schenkte er, immer noch mit spannungslosem Kopf, keine Aufmerksamkeit.
»Hemingway war der größte Schock für mich.«, fuhr ich fort, mit meinen Worten und meinen Händen. »Das weiß ich noch. Als ich zum ersten Mal ein Foto von ihm gesehen habe. Das war so surreal für mich. Dass es Fotos von Ernest Hemingway gibt. Das lässt sich in meinem Kopf immer noch nicht so richtig miteinander vereinbaren.«
»Deswegen bin ich der Geschichtsstudent von uns beiden.«
»Du kannst mir nicht erzählen, dass es für dich Sinn macht, dass es Fotos von Hemingway gibt. Von all den Modernisten wahrscheinlich.«
»Du kannst so selbstgefällig sein, manchmal.«
»Keine Selbstgefälligkeit.«, verteidigte ich mich direkt und grub meine Daumen tiefer in Zayns Nacken. Ich war neidisch auf meine eigene Massage. »Ich habe nur keine Ahnung von Technik.«
»Das hat nichts mit Technik zu tun.«, grätschte Zayn ein. »Hemingway ist in den Siebzigern gestorben oder so.«
»Das ist mir zu komplexes Wissensverknüpfen gerade. Zu hohe Anforderungen.«
»Du hast damit angefangen.«
Ich seufzte – affektiert. »Ich fühle mich nicht wertgeschätzt. Dafür, dass ich dich massiere. Mitten im Focus E.«
»Dafür nominiere ich dich für die Bester-Bester-Freund-Auszeichnung.«
»Das will ich auch hoffen.«
In Wahrheit machte es mir gar nichts aus. Auch wenn mein linkes Handgelenk langsam ein bisschen zu brennen anfing, war es das wert. Ich war sogar ganz glücklich. Im Sommer, als wir 12 waren, hatten wir regelmäßig ›Massagestudio‹ gespielt und auch wenn sich diese Routine wohl nicht grundlos aufgelöst hatte, fühlte es sich gut an, hiermit unserer Vergangenheit ein bisschen Respekt zu erweisen. Ich knetete weiter fleißig Zayns oberen Rücken durch und fühlte mich nicht mal beobachtet durch die ganzen anderen Leute im Focus E. Auf dem Tisch, an dem Zayn saß, lagen die beiden Teile seiner getrennten Ausgabe von ›Angels in America‹. Wir warteten auf den Rest der Gruppe, damit die Arbeit weitergehen konnte.
»Zayn?«, stemmte ich mich schließlich über die verbale Schwelle, die ich schon seit anderthalb Tagen zu überwinden versuchte. Es war alles ein großes Chaos. »Morgen Abend...willst du Niall einladen?«
»Hmm«, summte er kurz nachdenklich und ich liebte die Vibration in den Knochen meiner Hände. »Hatte ich nicht vor, glaube ich. Fragst du, weil du möchtest, dass ich ihn einlade oder weil du es nicht möchtest?«
»Lad ihn gerne ein.« War ich unauffällig? Wahrscheinlich nicht.
»Kann ich gerne machen. Aber ich glaube, sein spätes Seminar fällt morgen aus. Falls das für ihn irgendwas ändert. Vielleicht ist das aber auch nächste Woche. Ich frag ihn. Willst du etwas Bestimmtes kochen..?«
»Nein, keine Ahnung. Können wir zu dir?«
»Ja. Klar.«
»Kann ich...« – einfach sagen, einfach aussprechen, einfach hinter mich bringen – »Hast du etwas dagegen, wenn ich Harry mitbringe?«
Er drehte sich so ruckartig auf dem Stuhl um, dass er mir fast drei bis vier Finger gebrochen hätte. Ich zog sie zurück, als hätte seine Haut sich aufgeheizt. »Louis! Endlich!«
Gar nicht gut. Überhaupt nicht gut. Seit dem indiskreten Telefonat hatte Zayn definitiv seine eigene Interpretation der Umstände, egal, was ich sagte, und es hatte auch wirklich nicht geholfen, dass ich am letzten Mittwoch vergessen hatte, die Luftmatratze wegzuräumen. Er zog mich nicht auf, weil ich ihn abwürgte und jede seiner Theorien abstritt – nicht zuletzt, weil er auch mit jeder seiner Theorien falsch lag. Aber Harry jetzt zu einer realen Person zu machen, an der ich aktives Interesse zeigte, stellte uns beide endgültig in die Schusslinie. Nur gab es keine andere Wahl. So wie es aussah, würde Harry noch eine Weile in meinem Leben bleiben, und ich hatte ihm versprochen, ihn Zayn vorzustellen. Wir würden es hinter uns bringen müssen.
»Harry Harry in meiner Küche. Ich kann es nicht glauben!«
Mein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, bevor ich es stoppen konnte. Ich hatte den Namen ganz vergessen. Harry Harry. Was für ein Geniestreich – denn Harry Harry war einhundertprozentig nicht Harrys richtiger, voller Name. Um das zu erkennen, hatte ich ihn aber auch erst schwebend sehen müssen. Harry Harry; jetzt schrie der Name förmlich nach einem Missverständnis, in das Harry mit riesigen Augen hineingetappt war. Wieso hatte ich es direkt Zayn weitererzählen müssen?
»Verrat es mir, Louis. Bis morgen halte ich die Spannung nicht aus.« Er rückte noch ein Stück weiter auf dem Stuhl herum. Mit langen Fingern klammerte er sich an die Plastiklehne, als könnte er sonst herunterfallen. »Gibt es eine große Ankündigung? Ist es der erste offizielle Amtsbesuch?«
Schon jetzt lief das hier gar nicht gut. Zayn klang, als würde er eine Verlobung erwarten. Natürlich zog er mich nur auf, aber in dieser Situation war das überhaupt nicht hilfreich. »Du musst mir versprechen, dass du nicht zu aufdringlich bist.«
Zayn grinste breit. Seine Stimme war das winzigste Bisschen zu laut für diesen öffentlichen Raum. »Ich sehe schon. Das Blatt hat sich gewendet. Jetzt bist du mir ausgeliefert.«
»Ja, aber ich war sehr nett bei Niall, oder nicht? Jetzt bist du dran.« Ich griff ebenfalls nach seiner Stuhllehne, unsere kleinen Finger streiften sich seitlich. »Hör zu, Zayn. Harry ist... Er möchte Menschen kennenlernen.« Menschen. »Er ist manchmal...er lässt sich schnell überfordern, würde ich sagen. Du darfst ihn auf keine sozialen Proben stellen. Und du darfst nicht so aufgeregt sein!«
Zayn hob, noch immer grinsend, eine Augenbraue. Mir war mehr als bewusst, wie ich in seinen Ohren klang, ohne die unausgesprochenen Anschuldigungen wie sonst immer strikt abzustreiten. Es war Zayns Sieg und er strahlte in seinen Augen. Ich wollte ihn korrigieren, aber hatte die ungute Vermutung, dass ich ihn damit nur weiter herausfordern würde – und das konnte unschön mit Harry morgen enden. Zayn hatte längst seine Zweifel verloren; für ihn war es alles eine Frage von Wann. Wie. Auf welche Weise würde ich ihm berichten, wie Harry und ich vor eins, zwei Wochen sturzbetrunken miteinander rumgemacht und in meinem Bett gelandet waren? Wie oft hatten wir miteinander geschlafen, bis wir die Möglichkeit zugelassen hatten, dass da zwischen uns mehr als eine körperliche Anziehung herrschte? Wer von uns hatte es als erstes ausgesprochen?
Was für ein Chaos. Aber irgendwie musste es so sein. Es wäre sehr viel verdächtiger, wenn ich Harry in einer scheinbar perfekten, übersichtlichen Situation der Welt vorstellen würde. Das konnte nicht richtig sein.
Oder ich war einfach nur sehr gut darin, mich mit illusionierten Lügen zu beschwichtigen.
»Ich will ihn auf keine sozialen Proben stellen. Ich freue mich wirklich einfach, ihn kennenzulernen!«, behauptete Zayn, und ich glaubte ihm sogar.
»Dreh dich um.« Ich gestikulierte zu seinen verborgenen Schlüsselbeinen und er folgte meinem Befehl direkt. Langsam fanden meine Händen den verlorenen Kontakt wieder. Noch ein leises Seufzen entfloh Zayns Lippen, als ich unangekündigt den Druck verstärkte. Vielleicht sollte ich einfach auch mal behaupten, ich hätte Schulterschmerzen. »Bitte keine inquisitorische Situation morgen. Frag ihn nicht aus.«
»Es ist so befriedigend, Louis. All die besten Freundschaften beruhen auf Angst.«
»Ich habe keine Angst vor dir.«
»Was nicht ist, kann ja noch werden.«
»Ich kann Harry auch einfach wieder ausladen.« Und vielleicht war es das, was ich wirklich wollte. Nicht nur, um die Katastrophe zu verhindern. Was würde es mich kosten, Harry noch ein bisschen länger für mich zu behalten?
»Aber sag ihm nicht, dass ich ihn ausgeladen hätte.«
»Ich werde sagen: ›Ich habe Zayn gefragt und er hat nur die Nase gerümpft und gesagt: ›Nein. Der kommt mir nicht ins Haus.‹‹«
»Ich kann nicht mal meine Nase rümpfen.«
Ein flaches Schnauben kniff meinen Rachen. »Jeder kann die Nase rümpfen.«
»Ich nicht.«
»Ja. Klar.« Etwas in Zayns Rücken knackte. Wir erschraken uns beide, dann lachte Zayn leicht. Ich drückte noch stärker zu. »Wie fühlt es sich an, so alt zu sein?«
»Keine besonders kluge Frage aus deinem Mund, Louis.«
»Wie fühlt es sich an, so gebrechlich zu sein?«, berichtigte ich.
»Schrecklich.«
»Musst du heute arbeiten?«
»Ja.« Zayns Brustkorb weitete sich unter einem tiefen, selbstmitleidigen Atemzug. »Fährst du nach Leeds?«
»Ja.«
»Grüß Jay von mir.«
»Mach ich.«
»Hast du dir schon überlegt, ob du mit nach Donny kommst?«
Ein Seufzen wollte sich bilden, ein Schmelzen all meiner Synapsen. »Im Dezember?«
»Ja. Vom 13. bis 15., dachte ich.«
»So kurz vor Weihnachten?«
»Ja, ich weiß. Es ist der beste Termin.«
»Wie sehr würde ich deinen Eltern das Herz brechen, wenn ich nicht mitkomme?«
»Ist das deine finale Entscheidung?«
Ich zuckte mit den Schultern, obwohl Zayn es nicht sah. Vielleicht spürte er es durch meine Finger. »Wäre es okay, wenn ich das spontan entscheide? Spontaner als heute?«
»Klar. So spontan du willst.«
»Wenn wir für den 4. noch Tickets wollen, müssen wir uns langsam mal kümmern.« Man U im Heimspiel gegen Everton. Das würde ein Event werden und kein kleines. Ich wollte verhindern, dass unsere Vorsätze, ein Premier-League-Spiel anzusehen, sich zwischen Stress und fehlender Organisation auflösen würden wie letztes Jahr. Und mir fiel kein würdigeres Spiel dafür ein als gegen Everton.
»Das ist schon...nächste Woche..?!«, stellte Zayn überrascht fest.
»Oh Gott.« Der schreckliche Kalender malte sich langsam vor mein inneres Auge. Tag für Tag für weitere erbarmungslose 24 Stunden. Ganz zu schweigen von den Forderungen des 3. Dezembers. »Dann willst du schon übernächstes Wochenende nach Hause?«
»4., 5., 6. ...«, zählte Zayn langsam auf, dann: »Ja. Das ist dann Freitag der 13., der Freitag.«
»Oha.« Ich sollte Harry mal fragen, ob da was dran war. Würde mich auch nicht mehr wundern. Ich konnte ihn förmlich vor mir sehen, wie er das ganz Selbstverständliche bestätigte. Natürlich, Freitag der 13. ist Gotts einziger Urlaubstag im Jahr und deswegen passierten viele Unglücke – oder so. »Dann sollte ich vielleicht lieber hier bleiben. Nicht das Haus verlassen.«
»Als wärst du abergläubisch.«
»Ich bin abergläubisch, wenn ich einen Nutzen daraus ziehen kann.«
»Also willst du nicht nach Doncaster.«
Ich seufzte, für mich, für Zayn, für wen auch immer, der uns belauschen sollte. »Ich weiß nicht, was ich will.«
»Das ist okay.« Sanfter, sanfter Zayn. »Du kannst dich wirklich ganz spontan entscheiden. Bei uns gibt es immer ein Bett für dich.«
»YMCA?«
»Ja. ›YM‹ steht für Yaser Malik.«
Ich grinste und fand unter meinen Daumen so harten Widerstand, dass mein Anatomieverständnis sich verflüchtigte. »Vielleicht solltest du dich mal professionell massieren lassen.«
»Das kommt von der Arbeit. Von den Rucksäcken.«
»Ja. Schon klar.«
»Ich arbeite nicht, um mein Geld dann in die Therapie der Beschwerden zu stecken, die ich alleine wegen der Arbeit habe. Außerdem- hey. Da sind die anderen.«
Ich gab seine Schultern frei und ließ meinen Blick seinem ausgestreckten Finger folgen. Jetzt bräuchten meine Hände eine Massage. Aber ja, da waren unsere restlichen drei Mitglieder. Ich glitt auf den Stuhl neben Zayn. Grelles Plastik unter meinen Oberschenkeln.
Zeit für Menschlichkeit und Verderben.
✩
»Liebe Grüße von Zayn.«
»Oh, danke! Drück ihn ganz fest von mir.«
»Mach ich. Aber er hat Rückenschmerzen.«
»Dann drück ihn noch fester. Geht es deinem Rücken gut?« Ihre Augen waren groß und fürsorglich, als es wäre es nicht abwegig, dass sie sich nach meinem Rücken erkundigte.
Ich zuckte mit den Schultern. »Gibt es irgendeinen Rücken, dem es gut geht? Du hättest strenger sein sollen mit mir als kleines Kind.« Es stimmte; meine Haltung war grauenvoll. Aber noch immer fehlte die Strenge in meinem Leben. Nur meine Nan und ein gelegentliches, schockierendes Foto erinnerten mich an den Ruin, der alleine mir selbst zu verschulden war. Aber Rückenschmerzen hatte ich selten.
»Das wäre keine Kritik gewesen, die du angenommen hättest.«, bemerkte sie wenig hilfreich – aber sehr wahrheitsgemäß.
»›Angenommen‹ ist nur eine Frage der Gewalt in der Durchsetzung.«
Sie streckte ihre Hand nach meiner aus. »Ach Lou.« Ich legte meine Finger in ihre und beobachtete mit erzwungener Geduld, wie sie sich gerader hinsetzte. »Also gut.«, sagte sie mit plötzlich harter Stimme. »Schultern nach hinten, Louis. Kopf hoch! Brust raus.«
Ihr Blick blieb für so viele Sekunden ernst, dass die surreale Illusion fast süchtig machte. Dann glättete ihr Gesicht sich lächelnd. Ich war erleichtert und enttäuscht. »Späterziehung ist an mir verloren.«, sagte ich mit noch gebeugterem Rücken.
Sie drückte meine Hand. »Deswegen bemühe ich mich gar nicht erst.«
Ich lachte sanft, um ihretwillen. Es war gut, bei ihr zu sitzen. Sie lächelte viel heute, wie meistens, nur noch mehr. Um meinetwillen. Aber es war echt. Ich wusste, wie einsam es hier für sie war. Leeds. Ihr Leben war in Doncaster und hatte keine Anstände gemacht, ihr in diese Stadt zu folgen. Nicht mal ich, die offiziell längste Konstante in ihrem Leben, konnte ihr diesen Wunsch erfüllen. Ich gab mein Bestes, mit den doppelt-wöchentlichen Besuchen, aber es würde niemals reichen. Wie unfair war dieses Leben? Wie unfair war ich? Sie hatte mir alles gegeben, ihr Alles, bis ich es selbst geworden war. Und nicht mal den kleinsten Bruchteil davon würde ich jemals zurückgeben können.
»Mum?«, fragte ich, mit ihren Fingern noch immer über meine fahrend. Ich wusste nicht, wie schlecht die Idee war, zu sagen, was ich gar nicht sagen wollte. Ihren Rat einzuholen, oder zumindest ihre Meinung – oder die Bewegung der Haut über ihren Gesichtsmuskeln.
»Ja? Louis?« Ihre Augen waren aufmerksam, ein gutes Zeichen, eines der besten. Ihre warmen Augen, die mir von der ewigen Willkür des Genstrudels vorenthalten worden waren.
Ich befreite meine Hand aus ihrer, verbarg sie unnatürlich auf meinem Schoß. Wenn ich sie schon hinterging, dann wenigstens ohne ihre Haut dabei zu versengen. »Dad hat angerufen.«
Sie wartete auf mehr, aber schon dieser einzige Satz war zu viel. Aufmunternd nickte sie, als ich nicht fortfuhr. Manchmal ging sie vielleicht davon aus, dass mein Dad und ich regelmäßig Kontakt hatten und uns austauschten. Über unsere Leben, über Veränderungen, die großen und mittelgroßen. Nicht aus intimstem Interesse, aber aus familiärer Selbstverständlichkeit heraus; der unweigerliche Schatten von über einem Jahrzehnt geteilter Zeit und gemeinsamen Raums. Aber Schatten existierten nur im Licht und ihr Gutglaube coexistierte mit ihrem sehr genauen Realitätsverständnis. Vielleicht wollte sie mir auch nur das Gefühl geben, zu glauben, dass das Verhältnis zwischen meinem Dad und mir okay war. Damit ich mir weniger Sorgen machte. Was für ein endloses Geflecht potentieller Missverständnisse – die ich vielleicht gar nicht aufklären wollte. Keine Schatten ohne Licht.
»Er hat mich eingeladen. Zu einem Essen. Zu einem Bankett.«, erklärte ich.
Und die Reaktion war so so direkt, so erwartet, dass sie fast verzögert war. Ein Echo meiner eigenen Überraschung, als ich davon gehört hatte, ein spannungsloser Kiefer, schleppende Wangen, Unglaube so ehrlich, dass ich bei ihrem Anblick lachen wollte. Sie wusste offensichtlich nicht, was sie sagen sollte, ob es etwas zu sagen gab.
»Ja.«, stimmte ich schließlich zu. »Keine Ahnung.«
Sie blinzelte und ich wusste ganz genau, wer daran schuld war, dass ich es bemerkte. Langsam faltete sie die Hände in ihrem Schoß. Sie trug schon lange keine Ringe mehr. Ein oberflächliches Räuspern, nur eine Sicherheitsmaßnahme, und dann ein Blick in meine Augen, der genau das sein sollte; eine gespiegelte Absicherung, dass wir einander sahen. »Möchtest du hingehen?«
Wie schaffte sie es, so ausnahmslos urteilsfrei zu klingen? War sie es wirklich? Gab es eine falsche Antwort; gab es eine richtige? Ich setzte mich doch noch ein bisschen gerader hin. »Ich könnte mir selbst nicht verzeihen, wenn ich hingehen wollen würde.«
»Aber willst du hingehen?«, fragte sie behutsam bestimmt nach.
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht.« Oder auch: Wieso sollte ich hingehen wollen?
Sie nickte langsam. Es war richtig, aber schien unfair, dass es ihr immer noch gelang, Gedanken vor mir zu maskieren. Und, ob das ihre Strategie war oder nicht; sie funktionierte. Ich musste weiterreden. Irgendwas sagen. Eine Erklärung abliefern, die ich nicht besaß.
»Es ist am 3. Dezember.« Ich klang jetzt schon, als würde ich mich rechtfertigen. Vielleicht war genau das mein Problem. Ich wollte mich rechtfertigen – dafür, dass ich meiner Mum nicht direkt final ablehnend geantwortet hatte. Dafür, dass ich meinem Dad das Wort abgeschnitten und einfach aufgelegt hatte. »Ich weiß weder Ort noch Zeit. Hat er mir nicht gegeben.« Oder konnte ich mich nur nicht erinnern?
Meine Mum kippte ihren Kopf an. »Wolltet ihr nicht ins Stadion?«
Sie kannte mein Leben besser als ich. »Am 4.«, half ich.
»Vielleicht kann ich dich im Fernsehen sehen.«, spekulierte sie, offensichtlich sehr befriedigt von der Vorstellung.
»Du könntest niemals ein ganzes Spiel durchhalten.« Nicht mal glatte 90 Minuten ohne Halbzeit.
Ein Zucken in ihren Augenbrauen. »Nicht Fußball, Louis. In London.«
»Oh.« Es war raus, bevor ich meine Lippen kontrollieren konnte. Ich fühlte mich nur so unglaublich dumm, wenn das passierte. Und jetzt noch dümmer. London. »Wenn das Fernsehen da ist, drehe ich direkt wieder um.«
»Dann kann ich vielleicht wenigstens deinen Rücken sehen. Das wäre auch schon aufregend!« War sie sorglos, um mich zu beruhigen oder wollte sie wirklich, dass ich ging?
»Willst du mich überreden?«
»Ich möchte, dass du das tust, was du möchtest.«
Als könnte sie wissen, was ich wollte. Als könnte irgendwer wissen, was ich wollte. Wäre das nicht wunderbar? Jemand, den man immer fragen konnte, der all die Dinge über dich wusste, die du niemals oder immer zu spät erfahren würdest?
»Ich möchte nicht«, fuhr sie fort, berichtigend, »dass du ein vielleicht spannendes Erlebnis verpasst, nur, weil du starr an deinen Prinzipien festhältst, Louis.«
Ich zwang mich, meine Zunge zu entknoten. »Ich glaube nicht, dass es sonderlich spannend wird.«
»Du weißt, was ich meine.«
»Ich habe meine Prinzipien nicht grundlos.«
»Ich weiß. Und ich bin sehr stolz auf dich. Es ist gut, dass du Werte hast und an ihnen festhältst. Aber«, sie hob zwei Finger, als wäre das eine eindeutige Geste, »ich möchte nicht, dass ich dir im Weg stehe.«
»Tust du nicht!«, protestierte ich ohne Atempause. »Es geht nicht um dich.« – was mindestens eine partielle Lüge war.
»Es ist okay.«, versicherte sie trotzdem, mit der warmen Stimmlage, die nur die selbstlose Liebe für ein Kind erschaffen konnte. »Überleg dir nur nochmal, was du zu der Sache denkst. Nicht für deinen Vater und nicht für mich. Ja?«
Es war der Moment gekommen, an dem ich ihre Hand nehmen – und ihr meine ewige Loyalität schwören – sollte, aber stattdessen nickte ich nur. Was bedeutete auch Ewigkeit im Angesicht von so viel Endlichkeit? Und schlimmer noch als meine ausbleibende Berührung; der kleine Digitalwecker in heller Plastikschale, der direkt hinter ihrem Profil tickte. »Ich muss los, Mum.«, seufzte ich mit dem ewigen schlechten Gewissen. Berechtigte Ewig- in so viel Endlichkeit.
Überrascht presste sie die Lippen zusammen und nickte. Der Glanz konnte so schnell aus ihren Augen sickern, ich sah es zweimal pro Woche und es würde seine Wirkung nie verlieren. Ich sehnte mich nach einer Version von mir, die nicht enttäuschen konnte. Der perfekte Sohn konnte nur der ewige sein.
»Ich bin Samstag wieder zurück.«, versicherte ich und zwang mich, noch sitzen zu bleiben, als hätten meine Worte keine Wirkung in der Zukunft.
»Darauf freue ich mich.« Sie lächelte, so tapfer, so einsam. Offen hielt sie mir ihre Hand hin und dieses Mal zögerte ich nicht, als ich meine hineinlegte und den warmen Druck erwiderte. »Ich liebe dich, Lou.« Es brauchte viel meiner spärlichen Beherrschung, ihr die Hand nicht direkt zu entziehen und durch den Flur aus diesem verfluchten Haus über alle Berge zu fliehen, bevor sie die nächsten Worte auch nur gedacht hatte. Ich blieb brav sitzen. »Ich werde dich noch lieben, wenn ich nicht mehr atme.«
Schlucken, als müsste ich die Wüste heraufbeschwören. Geier über unseren Köpfen. »Und danach. Meine Luft und deine, Mum. Ich muss mich beeilen, dass ich den Bus noch kriege.« Eine halbe Lüge, keine. Der Bus würde nicht auf mich warten – aber nichts hielt mich davon ab, den nächsten zu nehmen. Ich schälte meine Finger aus ihren, ohne sie spüren zu lassen, dass die Bewegung alleine von mir ausging. Mit steifen Knien stand ich auf. Drückte doch nochmal ihre Hand. »Ich habe dich auch lieb.«
Ich musste definitiv ein ernstes Wörtchen mit Harry reden, was das alles hier anging.
✩
Er fand mich beim Zähneputzen. Die Badtür hing offen in ihrer Angel, weil ich alleine in der Wohnung war, oder gewesen war, oder Harry sowieso nichts aufhalten konnte. Mit der Erleichterung, dass ich nicht nackt oder – schlimmer – singend unter Dusche stand, nickte ich ihm mit nur ein wenig Erschrockenheit zu. Der Zahnpastaschaum in meinem Mund war plötzlich sehr viel flüssiger geworden.
Er strahlte ungewöhnlich offen, als er über die Türschwelle trat. »Hallo Louis.«
Ich musste grinsen, als ich Schaum ausspuckte, um mit ihm sprechen zu können. Er trug eine Jeans meines Granddads und das Shirt von meiner Nan, das ich schon direkt beim Schenken mental aussortiert hatte. Es war immer noch seltsam zu sehen, dass seine Taille wirklich existierte. »Hey Harry.«
»Du siehst sehr müde aus.«, bemerkte er und ließ sein Lächeln etwas schleifen. »Du bist sehr müde.«
Ich zuckte mit den Schultern und drehte den Wasserhahn auf. »Es war ein langer Tag.« Ich musste ihn nicht sehen können, um seinen forschenden Blick auf mir zu spüren, während ich mir den Mund ausspülte. Das Wasser war kühl gegen mein Zahnfleisch und ich schluckte den letzten klaren Rest herunter. Hatte ich den ganzen Tag nichts getrunken?
»Schläft du genug, Louis?«
Also wirklich sein Forschungsprojekt. Ich trocknete mir nur die Hände ab, Lippen noch feucht. »Wer kriegt schon genügend Schlaf?«
»Das ist kein Ja.«
»Ich schlafe, Harry. Ob du's glaubst oder nicht; ich wollte jetzt gerade schlafen gehen.«
»Dann tu das bitte.«
»Ich bin auf dem Weg.«, erwiderte ich, fast ein bisschen trotzig, und wischte mir doch noch mit dem Ärmel den nassen Mund ab.
»Du schläfst schlechter, seit ich nicht mehr da bin.«, sagte er, einfach so, und so endgültig, dass ich ihm den Rücken zuwenden musste und das Bad verließ.
»Hm.«, brummte ich, obwohl ich wusste, wie richtig er lag. Das gab ihm trotzdem nicht das Recht, es auszusprechen, als wäre es nichts.
»Vielleicht habe ich mit dem Melatonin etwas übertrieben.«
Ich blieb stehen. »Du hast was?«
»Vielleicht etwas mit dem Melatonin übertrieben.« Er neigte wohlwollend den Kopf, als ich ihn weiter ungläubig anstarrte. »Melatonin ist das Hormon, das deinen Körper müde-«
»Ich weiß, was Melatonin ist!«
»Sehr gut. Dann verstehst du die Umstände ja. Es tut mir leid, Louis. Das ist genau der Zustand, den ich vermeiden wollte.«
Fast hätte ich nach seinen Schultern gegriffen, um nochmal sicherzugehen, dass er wirklich hier vor mir stand. »Was hast du mit meinem Melatonin gemacht?«
»Ich habe nur die Bildung etwas angetrieben. Ein kleines Bisschen.« Er hob seine Hände, weiße Handflächen, keine gute Verteidigung. »Abends vor dem Schlafengehen. Ich musste zurück in den Himmel. Ich konnte nicht allzu lange warten, bis du einschläfst.«
»Du kannst einfach so in meinen Kopf eingreifen?!« Die Vorstellung gefiel mir nicht. Sie gefiel mir gar nicht.
»In deinen Körper.«, berichtigte Harry, schon jetzt behutsam. »Ja.«
»Du hast mich unter Drogen gesetzt!«
»Melatonin, Louis. Es hat dich nur ein bisschen müde gemacht.«
»Ja! Narkotisieren – nennt man das. Unfreiwillig. Unbewusst. Dafür könnte ich dich verhaften lassen.«
»Verhaften?«
Noch einmal wandte ich ihm den Rücken zu und durchquerte jetzt wirklich den Flur. »Ja. Vielleicht mache ich das. Ein gemeingefährlicher Mensch weniger da draußen.«
»Ich bin kein Mensch.«
»Aber gemeingefährlich.«
Meine Schritte auf dem Linoleum und keine Antwort, nur sein Schweigen in meinem Rücken. Er könnte einfach wieder verschwunden sein, ohne dass ich davon wüsste. Mir war bewusst, dass er sich nicht an die Naturgesetze halten musste, und erwartete trotzdem, dass er es tat. Wann wurde Gewohnheit zu Naivität?
Mit kribbelnden Fingerspitzen zog ich die Vorhänge zu und zwang mich, keinen Blick über die Schulter zu werfen. Harry war da, er war da, auch wenn ich nicht hinsah, es waren nicht meine Augen, die ihn real machten. Er war hinter mir, irgendwo in meinem Zimmer, auf nackten Füßen und in der Kleidung meiner Großeltern. Er war hier, auch wenn ich ihn nicht heraufbeschwor. Ich war hier, er war hier.
»Ich war sehr vorsichtig.«, sagte seine Stimme schließlich. Hinter mir, über mir, in mir. Seine Stimme war viel tiefer, wenn das Gesicht dazu fehlte. »Mit dem Melatonin. Aber nicht vorsichtig genug, wenn du nicht mehr gut schläfst. Ich wollte keine physische Abhängigkeit induzieren, Louis. Das tut mir leid. Du musst mir nicht verzeihen.«
Ich drehte mich um, seines Gesichtes wegen. Ohne das dumpfe Licht der Straßenlaternen waren seine dicken Locken um Jahrzehnte gealtert. Auch wenn er diesen Zustand niemals erreichen würde. 25 für immer. Melatoninentzug oder eher die aufgereihten Albträume, wer wusste das schon? »Ich dachte, du kannst mich überwachen. Meinen Körper auswerten. Nicht mich steuern.«
Seine Augenbrauen zuckten. Überraschung; die Emotion, die niemals müde wurde. »Ich bin dein Schutzengel, Louis.«
»Ja. Ich weiß. Aber nicht mein Programmierer!«
»Programmierer?«
Ausnahmsweise wusste sogar ich, dass er keine Ahnung hatte, was ein Programmierer war. Ausnahmsweise konnte ich es ihm nicht vorwerfen. »Ich wusste nicht, dass du mich kontrollieren kannst!«
»Wie sollte ich dich schützen, ohne Einfluss auf deinen Körper zu haben?«
»Keine Ahnung! Ich dachte, du siehst die Gefahren voraus und...schubst mich von der Straße, bevor das Auto mich erwischt. Aber du weißt nicht mal, was eine Ampel ist!«
Sein weiches, ernstes Gesicht. »Es ist unmöglich für mich, die Zukunft vorauszusehen. Ich bin nur ein Engel.«
Nur ein Engel, nur ein Engel. Er war einfach unglaublich. Wie konnte er so viel über das Universum wissen und trotzdem nichts verstanden haben? Nur ein Engel.
»Gut. Dann kein Hellseher. Aber...wie steuerst du mich noch? Außer mit Melatonin?«
Er senkte den Kopf nur kurz, wie zu einem Nicken, aber es sah nicht aus wie eines seiner Nicken. »Ich habe nie anders eingegriffen, Louis. Es ist eine Maßnahme für Notfälle.«
»Notfälle und wenn du zu ungeduldig bist, mein Einschlafen abzuwarten?«
»Es war nicht einfach Ungeduld. Du verstehst noch nicht, wie wichtig es ist, dass das hier läuft wie vorgesehen.«
»Ich kann es nicht verstehen, solange du es mir nicht erklärst.« Zwischen einem spielerischen Grinsen und schonungslosen Augen entschied ich mich für letztere Option.
»Du möchtest jetzt schlafen gehen, Louis. Das werde ich nicht verhindern.«
Ich sah auf meine nackten Füße hinab. Ungewohnt genug; seine Zehen, meine Zehen, kein Parkett, aber Linoleum. Ich hob beide Augenbrauen, vielleicht herausfordernd. »›Es ist eine lange Geschichte‹?«
Geschlagen spannten sich seine Wangen an, dabei war es längst sein Sieg. »Ja.«
»Dann bleibe ich wach. Ich möchte das hören.«
Harry warf einen Blick auf die lose zusammengelegte Decke auf meinem Bett. »Ich werde dich nicht am Schlafen hindern.«
Das Seufzen unterdrückend wandte ich mich von ihm ab, schwarzen Spiegeln blinder Fenster entgegen und schloss den zweiten Vorhang. »Ich beantrage einen anderen Schutzengel.«
Pause des Horrors. Ich konnte seine Verwirrung sehen, ohne sie zu sehen. Sehen, bevor ich sie hörte. »Das geht nicht.«
»Ich hätte eh noch ein paar Minuten gelesen. Du setzt dich da hin.« Wie vor einer Woche. Ein Anbeter mit seinen Fingerspitzen auf meiner Matratze. »Und erzählst mir eine Gute-Nacht-Geschichte.«
»Ich kenne keine Gute-Nacht-Geschichte.«
Ich war so versucht, so versucht, mir mit der flachen Handfläche gegen die Stirn zu schlagen. Dumpf und unsinnig. Die idiotischste aller Gesten. Aber das war ihre Macht; erst wirksam in Reaktion auf etwas, das es schaffte, noch idiotischer zu sein. Harry als allererster Anwärter. »Du erzählst mir die lange Geschichte, Harry! Meine Rolle im Himmel und warum alles laufen muss wie vorgesehen. Das ist die Gute-Nacht-Geschichte.«
Seine Augen waren klein, nüchtern. »Du wirst nicht schlafen, solange ich erzähle.«
Ein Idiot mochte er sein, aber das hieß nicht, dass er dämlich war. »Ich werde auch nicht schlafen wenn du es mir nicht erzählst.«
»Du wirst schlafen.«
»Ist das eine Drohung?«
»Nein!« Schock, so bittersüß.
Ich zog meine Schlafanzug-Boxershorts mit ihrem ausgeleierten Gummiband ein bisschen höher auf meinen Hüften. »Du drohst mir mit Melatonin.«
»Ich drohe dir nicht, Louis.«, versicherte er so schnell, als könnte ich wirklich daran glauben. »Das würde ich niemals tun. Niemals.«
»Sag niemals nie.«, grinste ich, und es war ein Scherz, aber zu spät. Zu schnell vergaß ich, dass Harry nichts als reinen Ernst zu kennen schien.
»Das ist ein Widerspruch.«, erkannte er sofort, wie ein Vierklässler mit einem kurzen Moment von Klarheit, auf den er für den Rest seines Lebens stolz sein würde. Was für ein geniales Genie. Denkender Denker, Harry mit den mindestens zwei Synapsen in seinem Kopf.
»Ich werde dir das alles nicht jetzt erzählen, Louis.«, fiel er ein, bevor ich meine Chance der Ablenkung nutzen konnte. »Das machen wir, wenn du Zeit und mentale Kapazität hast.«
Ich wollte ihn aufschlagen wie ein Buch; mit dickem Einband, das offen liegen bleiben würde. Mentale Kapazität, es war ein Spielplatz für ihn, oder auch nicht. Ich setzte mich zu schwungvoll auf mein Bett, als hätte ich eine weitere Bewegung geplant. »Kann ich deine Meinung noch ändern? Oder wäre das verschwendete Energie?«
»Verschwendete Energie.«, loggte er sachlich ein. Die eine Sache, auf die ich bei ihm zählen konnte. Ehrlichkeit.
»Schade. Du spannst mich wirklich auf die Folter, weißt du das?« Ich zog die Decke halb über meine nackten Beine. Es war seltsam, Harry hier zu haben ohne die Luftmatratze auf dem Boden. Als würde er gleich die Jeans abstreifen und mit mir unter die Decke schlüpfen. Nicht, dass ich streng etwas dagegen gehabt hätte. Wenn er mit Armen, Bauch und Beinen hier neben mir läge; würde er Wärme ausstrahlen?
Harry schien nicht über uns gemeinsam in einem Bett nachzudenken, sein Blick war rätselnd und düster. Oder etwas, das ich als düster an ihm empfand. »Du findest, ich foltere dich?«
Ich wollte Ja sagen, ehrlich sein mit ehrlicher Miene, den Gefallen erwidern, aber wozu? Was würde er dann als nächstes tun? »Das sagt man nur so.«, beschwichtigte ich stattdessen. »Es ist hart für mich, geduldig zu bleiben, das heißt es.«
Er nickte. Es gab diesen Gesichtsausdruck, weich auf seinem Gesicht, wenn er etwas sehr bewusst in einem Register seines Gehirns abspeicherte. All die Redewendungen, all die Regeln. Wenn er sein Bestes gab und geben würde. Ich war nicht darauf vorbereitet, als er unaufgefordert näher an mein Bett herantrat. Ich war weniger darauf vorbereitet, als er unaufgeforderter auf seine Knie sank. Dabei wusste ich, wie sehr er sich an Gelerntes hielt. Er kannte genau eine Bewegung bezogen auf mein Bett, und die gab ihm Sicherheit. Ein Altar und der Engel kniete vor dem Sünder.
»Ich bin auch ungeduldiger, als ich sein dürfte.«, sagte er dann und ich erkannte nur an seiner Stimme, dass es für ihn ein Geständnis war. Verletzlichkeit in seinem schwachen Bewusstsein, und in meinem gespiegelt. Meine Fehler, deine Fehler, unsere Chance. Aber es war lächerlich. Harry war die geduldigste Person – Person; war das erlaubt? – die mir je begegnet war. Er konnte stundenlang bewegungslos in einer Ecke sitzen und darauf warten, dass ich nicht mehr auf mein Laptop starrte und dann immer noch lächeln. Wenn Harry ungeduldig war, dann...was war hier der superlative Superlativ? Ich hätte ihn gerne auf seinen naiven Irrtum hingewiesen, aber ich konnte nicht einfach übergehen, wie sehr seine Augen hier von unserer Ungeduld überzeugt waren. Unsere Schwäche als unsere Stärke und jede weitere Imperfektion ein neuer Baustein für ein Harry-und-Louis. Mein Herz schmolz ein bisschen, an der Hinterfläche.
»Ich habe eine Überraschung, Harry.«, seufzte ich, anstatt mich auf unbewusste Spielchen einzulassen.
Die Ankündigung war Überraschunng genug. Spannung fiel von seinen Schläfen, ein offener Blick. Auf seinem Shirt stand in brutalen Buchstaben ›PHILADELPHIA Pennsylvania‹. Wie absurd, so etwas auf seiner Brust, und dann das himmlische Gesicht. Es gefiel mir viel zu gut. Ein bitterer Kontrast und pure Lebensfreude in meinen Adern. Harry war der bestaussehende Idiot in der Weltgeschichte. Und wie ich ihm diesen Titel gönnte.
»Eine Überraschung?« Auf seinen Knien, hoffnungsvoller Unglauben. Könnte ich ihm einfach so anbieten, sich zu mir zu setzen?
»Ja. Ich habe mit Zayn alles abgeklärt. Morgen Abend kannst du ihn kennenlernen. Und Niall auch.«
Was auch immer ich erwartet hatte; die Enttäuschung in seinen Augenbrauen war es nicht gewesen. »Das ist keine Überraschung! Das hast du vor zwei Tagen schon gesagt.«
»Aber da hatte ich noch keine Garantie. Jetzt hat du die offizielle Einladung!« So war das wohl mit der Dankbarkeit. »Ich dachte, du würdest dich freuen.« Wochenlang hatte Harry gebettelt und jetzt, wo er bekommen sollte, was er sich so sehnlich wünschte, zeigte er nicht mal eine große Reaktion. Vielleicht war es auch nur die Engelsmimik; Muskeln und Emotionen streng getrennt.
»Ich freue mich. Aber eine Überraschung muss unerwartet sein.«
Ich sparte mir das Augenverdrehen. »Gut. Dann eben keine Überraschung. Aber eine positive Rückmeldung.«
»Sehr positiv.«, bestätigte er, und, da war es, endlich, das Grübchen. Rar und elektrisierend. Was für eine Macht; es schlief dort, in Harrys Wange, immer da, verborgen bis zu seinem Befehl. Unbegreiflich. Hatten alle Engel Grübchen? Lange Finger und große Augen? Sahen sie alle aus wie Kinder der Mnemosyne? War das das Geheimnis? Sie mussten nur aussehen, als sollte ich ihnen zu Füßen liegen und schon brach ich mir selbst den Rücken.
»Wann?«, fragte Harry mit einem Klingeln von Aufregung in der Stimme und als seine Augen fast auf Höhe von meinen waren, wusste ich, dass er nie gekniet hatte. »Wo? Kannst du mir die Koordinaten geben?«
Meine Nasenflügel zuckten, ein bisschen amüsiert, ein bisschen verächtlich. »Seit wann brauchst du Koordinaten, um mich zu finden?«
Große Augen groß und größer. »Du bist auch dabei?«
Also doch noch eine Überraschung, sogar für uns beide. War er ernsthaft davon ausgegangen, dass ich ein romantisches, diskretes Date nur für ihn und Zayn – und Niall? – organisiert hatte? »Natürlich bin ich auch dabei!«
Zum Glück war seine Enttäuschung, falls sie existierte, nicht greifbar. »Dann brauche ich keine Koordinaten.«, bestätigte, als wäre es ein wahnsinnig großzügiges Zugeständnis. Engel, Dämon; die Grenzen waren wahrscheinlich fließend. »Aber einen Zeitpunkt.«
Ich hatte noch keine Zeit mit Zayn ausgemacht. Wir setzten meistens eher auf Spontanität. »Ich würge mir einfach kurz-kurz-kurz, lang-lang-lang, kurz-kurz-kurz die Luft ab, und dann weißt du, dass es losgeht?«
Sein Schock, ich hätte ihn voraussehen müssen. So berechenbar. »Was?«, fragte er an der Grenze der berechtigten Verstörung für den Fall, dass er mich richtig verstanden hatte.
»Okay, ich weiß, du weigerst dich, Sprachen zu lernen, obwohl du sie alle auf einfachsten Abruf hast«, ich gab mir keine Mühe, nicht vorwurfsvoll zu klingen, »aber Morsen erscheint mir wirklich, wie eine obligatorische Engelskompetenz.«
»Morsen?«
Be-re-chen- »Wie hast du die Prüfung bestanden?!«
»Welche Prüfung?«
Er sah so unglaublich verloren aus, er war es auch, er tat mir leid, aber wofür? »Deine Schutzengel-Prüfung?«
»Es gibt keine Prüfung.«
»Sie lassen euch einfach los auf die nichtsahnende Menschheit.«
»Die Menschheit soll nichts ahnen.«
Und das war wahrscheinlich auch besser so. »Also Zayn und Niall werden ein paar Hypothesen aufstellen, wenn du morgen zwischendurch mal an die Decke schweben solltest.«
Er war schneller wieder unten, als ich gucken konnte. Wirklich. Schuld wie ein überführtes Kind direkt dort zwischen seinen Wangen. »Das werde ich natürlich nicht tun.«, versicherte er mit so viel Standhaftigkeit, dass ich fast das Gefühl bekam, er müsste sich selbst überzeugen. Dabei war ich mir ziemlich sicher, dass er morgen auf dem Boden bleiben würde. Mich hatte er immerhin auch für eine ganze Weile von seiner absurden Menschlichkeit überzeugt. Solche Dinge passierten ihm jetzt nur, weil er wusste, dass es in meiner Gegenwart keine Konsequenzen hätte. Davon war ich fest überzeugt.
Was dagegen seine Zunge anging, hatte ich ein paar mehr Bedenken. Aber auch das würde sich alles irgendwie regeln – hoffentlich.
»Ich sag jetzt einfach mal 20 Uhr. Falls das zu spät ist...egal.« Zayn würde sich nicht beschweren dürfen; Harry war nicht der einzige, der morgen seine Träume erfüllt bekam. »Niall kommt meistens auch erst gegen acht. Das passt.« So wenig Zeit mit Zayn und Harry alleine wie möglich.
Harry nickte – fast normal – und lächelte. »Das klingt gut. Ich freue mich sehr.«
Gut, dass er nicht schlief, sonst würde er kein Auge zubekommen. Apropos. »Ich gehe jetzt schlafen, Harry. Wenn du mir keine langen Geschichten mehr erzählen willst.«
»Dein Schlaf ist wichtiger.«, beharrte er, ernst, aber ich sah die Aufregung hinter den starren Mundwinkeln. Kleiner Engel mit kleinen Träumen.
»Du weißt schon, dass ich, bevor du da warst, auch nicht jede Nacht acht Stunden Schlaf bekommen habe.«
»Ich war da, Louis.« Er stand auf, ohne Hände.
»Ja, aber...du weißt schon. Nicht hier.«
»Jetzt bin ich hier und ich werde mir alle Mühe geben, dass du den Füllschlaf bekommst.«
Füllschlaf. Ich ließ mich in mein Kissen fallen und entknotete die Decke mit den Beinen. »Vielleicht wäre ein bisschen Melatonin ganz attraktiv.« Der Schlaf mit Harry auf der Luftmatratze war wirklich – schwer, ein besseres Wort zu finden – himmlisch gewesen. Und vielleicht war es kein Zufall gewesen, dass ich in der Zeit keinen einzigen Albtraum gehabt hatte. Ein bisschen Nähe meines Schutzengels oder auch eine gute Dosis Melatonin waren vielleicht alles, was es brauchte, um mein verstörtes Unterbewusstsein zu beschwichtigen. Es war zumindest eine verlockende Vorstellung.
»Du musst dich wieder vollständig entwöhnen, Louis. Du hast dein eigenes Melatonin.« Er ging ein paar Schritte zurück. Warum er sich überhaupt die Mühe machte, seine Beine zu bewegen, wenn er nicht mal den Boden berührte, wusste ich nicht.
Er schickte mich also in den eiskalten Entzug. Dabei hatte ich gerade erst von seinen hormonellen Zauberkräften gelernt. Grausam. Es gab nur noch eine Frage; die Verbotene. Aber ich musste sie stellen.
»Harry?«
»Ja?«
»Bleibst du?«
Er neigte den Kopf sanft. »Hier?«
»Ja, hier..?«
Sein ›Nein‹ war so weich, dass ich fast vergaß, ob das die Antwort war, die ich mir erhofft hatte.
Ich ließ mich mit vollem Druck auf meinem Ohr ins Kissen sinken. »Okay.«
Harry lächelte. Wusste er nicht, was er hier anstellte? Hatte das Kommen und Gehen für ihn keine Bedeutung? »Schlaf gut, Louis. Wir sehen uns morgen.«
»Bis morgen, Harry.«
Aber er war schon weg. Das war das Seltsamste. Es hatte einen Grund, wieso Menschen sich nicht einfach willkürlich in Luft auflösen konnten, wann immer sie wollten. Eine Menge guter Gründe. Ich schloss die Augen, ohne Seufzen, und öffnete sie wieder. Meine Beine fanden die Bettkante und meine Zehen den kalten Boden.
Ich hatte das Licht nie ausgeschaltet. Harry auch nicht.
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