𝐈𝐈𝐈

𝐋 ⋆

Zayn hatte Angst vorm Wasser.
Das war ja auch okay.

Aber man lernte schwimmen, um keine Angst mehr vor dem Wasser haben zu müssen. Wer schwimmen konnte, ertrank nicht. Das war kinderleicht und ich hatte es Zayn oft genug erklärt. Man hat Angst vorm Wasser; man lernt schwimmen; man hat keine Angst mehr vorm Wasser. Aber aus irgendeinem verrückten Grund hatte es trotzdem Monate gebraucht, bis ich Zayn dazu überredet bekommen hatte, meine Schwimmstunden mit mir zusammen durchzustehen.

Die meisten der anderen Kinder in unserer Klasse konnten längst schwimmen – alle außer Freya Brawl, um genau zu sein. Ich konnte mich auch daran erinnern, wie meine Mum mich vor ein paar Jahren gefragt hatte, ob ich mich für einen Kurs einschreiben wollte. Aber Zayn hatte Nein gesagt, als ich ihn überreden wollte, und ohne Zayn hätte ich nicht mal das Alphabet lernen wollen.

Für mich war das Problem nicht der trübe See oder der tiefe, blaue Pool, sondern die blassen Gesichter der fremden, zitternden Kinder, die mit vorgebeugten Schultern am Beckenrand aufgereiht sein würden. Nichts ohne Zayn.

Zehn war eigentlich zu alt, um schwimmen zu lernen. Nicht, weil man schon zehn Jahre lang die Chance zum Ertrinken gehabt hatte, sondern weil Zayn und ich mitten in der Reihe alle anderen Kinder überragen würden. Das wusste ich schon in dem gefliesten Raum voll mit Duschen, aus denen allen nur kaltes Wasser rann. Keine Ahnung, in welchem Mittelalter die gebaut wurden. Wer wollte bitte kalt duschen?

»Das ist der schlimmste Tag meines Lebens, Louis.«, zischte Zayn leise in mein Ohr. Die Dusche rauschte so laut, dass ich ihn beinahe nicht verstanden hätte. Aber ich wusste, dass er so leise sprach, damit die anderen Kinder uns nicht verstanden, oder die Mutter, die eins der kleinsten Mädchen bis hier in die Duschen begleitete, obwohl Erwachsene schon im Umkleideraum verboten gewesen waren. Doch so war das immer. Erwachsene machten Regeln, aber hielten sich selbst nicht dran.

»Wir müssen schwimmen können, wenn wir eines Tages Atlantis entdecken wollen.«, erinnerte ich meinen besten Freund. Er vergaß solche Sachen manchmal. Aber wieso hatte man bitte auch Angst vor Wasser? Er trank es jeden Tag! Zayn war schlau, aber manchmal konnte er wirklich ein bisschen dumm sein.

»Mein Boot muss schwimmen können, nicht ich.«, verkündete Zayn mit grimmiger Miene.

Ich beugte mich ein Stück aus unserer Duschkabine – die nicht nur kein warmes Wasser, sondern auch keine Tür oder einen Vorhang hatte; jemand ziemlich Dämliches musste sich das ausgedacht haben. Einige der anderen Kinder hatten sich schon an der Tür aufgestellt, hinter der ich die verschwommenen Umrisse eines großen rechteckigen Beckens erkennen konnte. »Seefahrer müssen schwimmen können.«

»Können Astronauten fliegen, Louis?«, erwiderte er missmutig. Meine Augen mussten groß geworden sein, denn er grinste ein winziges Bisschen. »Na siehst du.«

Ich trat vollständig aus unserer Dusche. Mir war jetzt schon kalt. Vielleicht würden die Duschen bei unserer zweiten Schwimmstunde repariert sein. Hoffentlich. Wie viele Stunden brauchte man, um schwimmen zu lernen?

»Jetzt komm schon, Zayn.«, feuerte ich ihn an. »Das ist eh Quatsch. Wozu sollen wir uns mit Wasser duschen, bevor wir ins Wasser gehen?«

Er nickte, aber er sah nicht glücklich aus. Eigentlich sah er ziemlich unglücklich aus. »Da ist was dran.«

»Dann komm.« Ich griff nach seiner Hand und zog ihn aus der Dusche. »Je schneller wir anfangen, desto schneller ist es vorbei.«

Das war am Ende doch nicht ganz wahr. Immerhin mussten wir warten, bis auch alle anderen Kinder fertig waren. Es war kalt und das Schild hinten in meiner Badehose, das Dad versprochen hatte, herauszuschneiden, kratzte. Er war nicht viel zuhause in letzter Zeit.

Zayn zupfte weiter unruhig an seiner Gummibadekappe herum. Ich hoffte nur, dass er sie jetzt aufbehalten würde, sie hatte allen hier schon genügend Aufregung beschert.

Zayn liebte seine Haare. Mehr als alles andere auf der Welt, hatte ich manchmal das Gefühl. Als wir jünger waren, hatte ich ihn noch mit ›Wenn du deine Haare so sehr liebst, dann heirate sie doch!‹ aufziehen können, aber mittlerweile war ihm ganz egal, was man über seine Haare sagte – es sei denn, man sagte, dass sie nicht gut aussahen; dann nahm man sich besser vor Zayn in Acht.

Aber das passierte eigentlich nie. Denn das einzige, das Zayns Liebe zu seinen Haaren vielleicht rechtfertigte, war, dass sie immer perfekt aussahen. Immer immer. Sie waren nachtschwarz und glänzten und machten den Eindruck, als würde man beim nächsten Friseurbesuch ein Bild von ihnen im Schaufenster hängen sehen.

Das vertrug sich nicht so gut mit Badekappen und ich fand es ziemlich gemein, dass Zayns Mum es mir überlassen hatte, ihm mitzuteilen, dass wir welche tragen mussten. Und ihn dann auch noch dazu zu bringen, sie wirklich zu tragen. Das war alles andere als einfach gewesen. Aber jetzt war sie auf seinem Kopf und ich würde eher alleine schwimmen lernen, als Zayn dazu zu bringen, die Badekappe nochmal aufzusetzen, wenn er sie jetzt wieder abnehmen würde.

Zum Glück saß sie noch eng auf seinem Kopf, als endlich alle Kinder fertig waren. Die Mutter des kleinen Mädchens öffnete die hohe Milchglastür, die ins Schwimmbad führte. In einer chaotischen Traube drängten wir uns in den Raum mit der weit entfernten Decke. Ich hing hinterher; meine perfekt passenden, neuen Badelatschen, die wir extra für diesen Unterricht gekauft hatten, waren gestern kaputt gegangen, als Zayn und ich Schuhweitwurf auf der Schaukel in meinem Garten gespielt hatten. Weil entsprechende ›Fußbekleidung‹ – ich hatte drei Anläufe gebraucht, um meinen Eltern dieses Wort auf der kleingedruckten Liste vorzulesen – aber gefordert war, trug ich jetzt ein paar alter Flipflops meiner Mum mit pinken Flamingos und türkisen Schmetterlingen. Mit einem steten flip-flop-flip-flop-flip begleiteten sie meine Schritte über die rutschigen Fliesen, alle zwei Meter verabschiedete sich einer der Schuhe. Zayns Grinsen wäre breiter ausgefallen, wenn er nicht gleichzeitig mit bebenden Nasenflügeln das Wasser anstarren würde. Ich griff nach seinem Oberarm und zog ihn mit mir – in meinem schleifenden, eiernden Schritt – in Richtung der Plastikränge, die hinter einer niedrigen Glaswand nah am Beckenrand lagen.

Meine Mum saß wie einige der anderen Eltern auf einer der Bänke in der ersten Reihe. Sie stand auf und lächelte ermutigend, zwei Handtücher in der Hand, die sie uns über das Glas hinweg reichte.

»Die habt ihr vorne vergessen.« Mit einer Hand strich sie sich ein paar Strähnen ihrer braunen Haare hinters Ohr. »Ihr seht so toll aus! Wie zwei Profischwimmer.«

Profischwimmer hörte sich gut an, aber ich musste kein Profi werden. Nur Schwimmer wäre genug. Und das gleiche für Zayn.

»Macht euch keine Sorgen, ihr beiden, das wird schon! Waliyha hatte ihren Unterricht bei Ms. Cloyd erst letzten Winter und jetzt schwimmt sie schon wie ein Fisch. Nicht den Kopf hängen lassen, Zayn, euch kann nichts passieren.« Sie beugte sich so weit über die dünne Glaswand hinweg, dass sie Zayns perlennasse Stirn küssen konnte. Dann tätschelte sie sanft meinen Kopf – oder viel mehr die dunkelblaue Badekappe darauf. »Viel Glück! Und versucht, ein bisschen Spaß zu haben!«

Ich wartete geduldig darauf, dass sie nochmal wiederholte, was sie vorhin beim Aussteigen aus dem Auto Zayn zugeflüstert hatte. ›Wenn es zu viel wird, kannst du jederzeit abbrechen.‹ Aber stattdessen winkte sie nur mit der Hand in Richtung einiger der anderen Kinder am Beckenrand. Und der jungen Frau, die in kurzen, schwarzen Shorts und mit einer Trillerpfeife um den Hals bei ihnen stand. »Na los. Die anderen warten schon auf euch.«

Das stimmte nicht wirklich, aber wir trotteten trotzdem zurück. Das kleine Mädchen hatte ein rotes, tränenertrunkenes Gesicht, ihre Mutter schaukelte sie beschwichtigend auf ihrer Hüfte. Ich konnte sehen, dass Zayns nackte Schultern sich bei dem Anblick anspannten. Er weinte nicht besonders häufig – nur, wenn er sich beim Fußball wirklich, wirklich doll verletzte. Mit Blut und so. Ihm passierte das zumindest öfter als mir; ich war viel besser im Fußball.

»Im Wasser kann man nicht hinfallen, Zayn.«, murmelte ich ihm zu, weil mir das gerade wie eine gute Ermutigung erschien. Mir war nicht wirklich ganz klar, wovor man Angst hatte, wenn man sich vor dem Wasser fürchtete. Ertrinken, na gut, aber das war ja kein Problem, weil wir schwimmen lernten. Und sonst? Monster? Fische? Monsterfische? Nicht im Schwimmbad, hier konnte ich den kleingefliesten Boden nämlich bis zum anderen Ende des Beckens sehen. Keine Monsterfische weit und breit.

Die junge Frau, Ms. Cloyd, unterhielt sich mit den anderen Kindern. Sie hatte hübsche, große Haare – fast so dunkel wie Zayns – und eine Stimme, die klang wie die von Peter Pan.

»Dann müsst ihr beiden wohl Zayn und Louis sein!«, erkannte sie und machte mit einem Kugelschreiber ein paar Zeichen auf ihrem Klemmbrett.

»Ja. Ich bin Zayn.«, sagte ich, um Zayn aufzumuntern. Es klappte. Als ich ihn ansah, lächelte er ein bisschen.

Auch Ms. Cloyd lächelte. »Dann trägst du aber eine falsche Badekappe, Zayn.« Sie zwinkerte mir zu und ich erinnerte mich erst jetzt an die schwarzen Eddingbuchstaben, die ›L O U I S‹ verkündeten. Sie wusste, wer ich war.

Zayn stieß mir leicht mit dem Ellenbogen in die Seite. Sein Lächeln hatte einem unbeeindruckten Ausdruck von zusammengepressten Lippen und halb offenen Augen Platz gemacht. »Du bist so dämlich, Louis.«, flüsterte er. Jeder konnte es hören.

»Ich bin Ms. Cloyd!«, fuhr Ms. Cloyd fort. Sie hatte die Stimme gehoben und sprach jetzt nicht zu mir, oder zu Zayn, sondern zu allen Kindern, sogar dem kleinen, schluchzenden Mädchen, und vielleicht sogar zu den Eltern auf den Plastikrängen. Laut genug war sie dafür auf jeden Fall. »Und es wird mir eine Freude sein, euch allen zu zeigen, wie einfach es ist, schwimmen zu lernen!«

Sie erzählte und erzählte. Erwachsenenworte in einer Kindersprache, für die Zayn und ich längst viel zu schlau waren. Brust, Frosch, Wasser, Nase, niemals ohne Erlaubnis ins Wasser springen! Aber die Fünfjährigen hingen an ihren Lippen, irgendwann war sogar das Mädchen bereit, auf ihren eigenen Füßen zu stehen. Zayn zitterte, aber ich auch, also war es wohl die Kälte.

Ich beobachtete, wie die Härchen auf meinen Armen sich alle paar Sekunden steil aufstellten und dann wieder glätteten. Ms. Cloyd verlas eine Namensliste und führte uns zu einem Tisch, auf dem kunterbunte Scheiben und Brettchen lagen. Ich war mir nicht sicher, was mit denen passieren sollte, bis Ms. Cloyd uns je einen Ring in die Hand gab und wir sie einen nach dem anderen in das klare, blaue Wasser werfen durften. Sie schwammen alle friedlich auf der Oberfläche.

»Sie funktionieren wie Schwimmflügel«, erklärte Ms. Cloyd und fischte die Ringe mit einem riesigen Kescher aus dem Wasser, »nur besser! Wie machen sie um eure Arme und dann können eure Köpfe gar nicht untertauchen.«

»Sie sehen aus wie Froot Loops.«, bemerkte Zayn neben mir leise. »In Wasser.«

Ich verzog mein Gesicht und versuchte, das Bild von Zayns Vorstellung nicht in meinen Kopf zu lassen. »Baaah.«

Zayn öffnete den Mund mit dem Anflug eines Grinsens, aber unsere Schwimmlehrerin kam ihm zuvor. »Und diese hier funktionieren wie Gürtel. Ihr werdet alle einen umkriegen, der wird auch euren Bauch an der Oberfläche halten. Das heißt, ihr müsst keine Angst haben! Nichts kann passieren!«

Nach und nach verteilte sie je vier Reifen und einen der Gürtel an uns. Die Eltern durften durch eine fast unsichtbare Tür in der Glaswand kommen und helfen. Zayn kam mit seinem Namen – Malik – sehr viel früher dran als ich und war schon fertig, als ich ihn bei meiner Mum ablöste. Zayns Mum hatte keine Zeit gehabt, um heute auch zu kommen.

Ich gab mir Mühe, nicht zu lachen, als er aufsah und an mir vorbeilief. Zayn sah aus wie die Kinder, die sich beim letzten Abfall-Kostümwettbewerb in der Schule als Clowns verkleidet hatten. Nur, dass sein Oberkörper und seine dünnen Beine nackt waren.

Meine Mum warf mir einen strengen Blick zu, als Zayn zurück bei den anderen A-bis-P-Kindern war, die alle schon ihre Schwimmhilfen trugen. »Lach ihn jetzt nicht aus, Lou.«, belehrte meine Mum mich sanft. »Du solltest ihm ein bisschen gut zureden. Geh hin und nimm seine Hand. Das wird ihn vielleicht etwas beruhigen.«

Ich nickte, weil ich wusste, dass sie recht hatte. Hoch auf dem rechten Arm trug ich einen blauen und einen roten Ring. Auf meinen linken fädelte Mum mir einen gelben. »Aber es wird schwer werden mit diesen Dingern hier.«, erklärte ich ihr, weil sie solche Sachen manchmal nicht zu verstehen schien. »Wir sind jetzt so breit, dass wir bestimmt einen Meter auseinander stehen müssen.«

»Ihr kriegt das schon hin.«, versicherte sie mit wenig Verständnis. Gelb-rot auf dem linken Arm. Meine Mum kniete sich hin und ich hielt mich an ihren Schultern fest, während ich in den Gürtel stieg und sie ihn bis über meine Hüften zog. Auch wenn ich mich ein bisschen wie ein Baby fühlte.

Sie lächelte warm, nachdem sie geprüft hatte, ob nichts rutschen würde. »Dir geht es doch gut, nicht wahr? Es ist okay, wenn du Angst hast, Lou, das weißt du doch?«

»Mhm. Aber ich hab keine Angst, Mum.«

»Das weiß ich doch, mein Kleiner.«

Ich war nicht mehr klein, aber ich ließ es sie trotzdem sagen. Weil ich wusste, was als Nächstes kommen würde.

Sie küsste meine Stirn zärtlich, wie vorhin bei Zayn. »Ich liebe dich, Lou.« Ihr Daumen fuhr die Wölbung meines Ohres unter der Badekappe nach. »Ich werde dich immer lieben, das weißt du. Ich werde dich lieben, bis ich nicht mehr atme.«

Ich beugte mich vor, um ihre warme Wange zu küssen. »Und danach. Deine Luft und meine. Ich hab dich auch lieb, Mum, aber ich muss jetzt los.« Ich wartete nicht auf eine Antwort, sondern drehte mich um und schlitterte in den zu großen Schuhen zurück an Zayns Seite. Wortlos nahm ich seine Hand. Unsere Armringe stießen dumpf zusammen. Er zitterte immer noch.

Erst als wir uns alle nebeneinander an den Beckenrand setzen mussten, hatte ich keine andere Wahl, als Zayns Hand loszulassen. Meine Füße baumelten im Wasser. Es war weich und wärmer als erwartet. Keine Ahnung, was Zayn daran so schlimm finden konnte.

Ms. Cloyd zeigte uns, wie wir unsere Beine bewegen mussten. Dann unsere Arme gleich dazu, in der Luft. Ich fühlte mich albern, wie ein Riese unter den Kleinkindern, aber ich machte es besser als Zayn. Seine Bewegungen waren angespannt, seine Füße zogen eckige Kreise.

Aber schlimmer war sein Gesicht. Ich konnte keinen Blickkontakt zu ihm aufbauen, weil er leer ins Wasser starrte. Seine Unterlippe zitterte etwas, aber er sah nicht aus, als würde er anfangen zu weinen. Seine Haut, die sonst niemals und zu keiner Jahreszeit blasser als meine war, hätte in Kreide getaucht sein können. Ich musste wegsehen, weil er selbst so noch schön aussah und ich es nicht ertragen konnte, sein Gesicht angstschön zu sehen.

Zayns Gesicht war hübscher als das aller Mädchen, die ich kannte. Auch als das aller Jungs, die ich kannte, um ehrlich zu sein. Sogar mit enger Badekappe und weißen Lippen. Er war hübscher, als die Prinzen und Prinzessinnen aus den Filmen, die Waliyha und Doniya gerne mit uns guckten – und die sollten hübsch aussehen, hatte Doniya gesagt. Ich hatte ziemliches Glück, weil ich Zayn fast jeden Tag meines Lebens ansehen durfte.

Aber jetzt konnte ich mich nicht wieder dazu durchringen. Die Schwimmlehrerin stand hinter ihm und redete ermutigend auf ihn ein. Die anderen Kinder waren gut im So-tun-als-ob-sie-Frösche-wären. Was gut war, denn wir taten es noch für mindestens zwanzig Minuten.

Dann durften wir ins Wasser. Einer nach dem anderen kletterten wir über eine runde Metallleiter in die Nässe und hangelten uns am Beckenrand entlang, bis wir alle dort hingen wie klamme Wäsche auf der Leine. Ich versuchte, die strampelnden Körperteile des Kindes auf meiner linken Seite nicht zu berühren oder seinem aufgeregten Atem zuzuhören. Zayn war rechts. Mit versteiften Fingern hing er an der aufgewölbten Fliesenkante. Ich war als einziges Kind stark genug, um mich mit beiden Unterarmen auf dem Beckenrand zu stützen. Das stetig überschwappende Wasser versickerte kitzelnd unter meiner Haut durch ein Plastikgitter wer-weiß-wohin.

Ms. Cloyd redete und redete und langsam fragte ich mich, wie wir bei ihr schwimmen lernen sollten. Worte würden mir ganz sicher nicht helfen, mich über Wasser zu halten. Etwas gelangweilt winkte ich meiner Mum zu, die inmitten der anderen Begleitpersonen wieder hinter der hüfthohen Glaswand saß. Die rothaarige Mutter des kleinsten Mädchens saß zu ihrer einen Seite, ein Junge mit braunen Locken auf der anderen. Meine Mum winkte zurück, auch wenn ihr besorgter Blick viel mehr auf Zayn lag.

»Atlantis.«, erinnerte ich ihn leise und dann nochmal lauter, weil ich nicht über die Geräusche der Schwimmhalle hinweg zu hören war. Am anderen Ende des Beckens sprangen ein paar Erwachsene in Schrauben von Sprungtürmen. Ich hätte mich für sie interessiert, wenn mein bester Freund nicht gerade in leise Schnappatmung verfallen wäre. Er antwortete mir nicht.

Die Gürtel, die wir trugen, spannten zwei große Bretter aus einem seltsamen Material auf unsere Bäuche und Rücken und ließen uns alle wie ausgestorbene, menschliche Schildkröten aussehen. Jetzt verteilte Ms. Cloyd ein drittes an jeden von uns, lose. Am sicheren Land zeigte sie uns, wie wir das Brett mit beiden Armen von uns weghalten sollten und auf dem Bauch mit den Beinen die gleichen Froschbewegungen machen würden wie eben im Sitzen. Und so dann ›ganz einfach!‹ zur entgegen liegenden Seite des Beckens schwimmen würden.

Die Kinder am rechten Ende der Reihe starteten. Als ich bemerkte, wie angestrengt es bei ihnen aussah, wandte ich den Blick ab. Zayn würde vor mir dran sein. Ms. Cloyd lief am Becken auf und ab und gab Hinweise und Lobe.

»Dein Freund ist ein Angsthase.«, schallte eine hohe Stimme von links an mein Ohr. Zayn und ich wandten den Kopf beide gleichzeitig herum. Der zahnlückige Junge grinste zwischen meinen und Zayns Augen hin und her. »Du bist ein Angsthase.«, wiederholte er, dieses Mal direkt an Zayn gerichtet.

Er war jünger als wir, wie alle anderen. Sieben vielleicht. Keine Ahnung, kleinere Kinder sahen immer gleich aus. Er grinste über die blauen Ringe an seinem Arm hinweg ins Zayns eingefrorenes Gesicht.

»Mein Freund ist mutig!«, fuhr ich den fremden Jungen an. Seine Badekappe verkündete ›CoNNoя‹. »Wenn du größer bist, kapierst du, dass man mutig ist, wenn man sich seiner Angst stellt!«

»Louis«, zitterte Zayns Stimme schwach. »Lass es.« Das Mädchen neben ihm stieß sich von der Beckenwand ab.

Aber Connor grinste immer noch. »Mutig ist, wenn man keine Angst hat. Vor allem nicht im Schwimmbad!«

»Mutig ist nicht, wenn man sich über die Ängste anderer Leute lustig macht!«, zischte ich zurück. Am liebsten hätte ich ihm mit einem Schlag ins Wasser das Gesicht vollgespritzt. Aber dann wäre Mum enttäuscht, das wusste ich. Und wenn er mich im Gegenzug auch mit Wasser zuschaufeln würde, dann bekäme auch Zayn das ab.

»Wenigstens sehe ich nicht aus, als würde ich gleich wie ein Stein untergehen.«, erklärte Connor schadenfroh und nickte in eine Richtung hinter meinem Rücken. Erst als ich herumfuhr, realisierte ich, wie laut Ms. Cloyds Stimme geworden war.

Zayn war eine zappelnde Fontäne Meter vom Beckenrand entfernt. Ich konnte seine Stimme über das Wasserschlagen hinweg hören, aber ich wusste nicht wieso. Es war kein Sprechen oder Schreien oder Gurgeln, aber etwas dazwischen. Der grüne seiner Armringe ritt auf unruhigen Wellen einsam in Richtung der Perlenkette an Kindern, die auch mit beunruhigten Blicken noch immer brav weiterschwammen.

»Zayn?!«, rief ich lauter als Ms. Cloyd aus, aber nicht laut genug, dass Zayn aufhörte, panisch seine Gliedmaßen umherzuschmeißen. Keine Angst vor Wasser, aber Angst um meinen besten Freund machten sich in mir breit. Ich wusste, dass es fast unmöglich war, dass Zayn wirklich wie ein Stein unterging; er trug noch drei Armringe und den Schildkrötengürtel. Aber wenn er so weitermachte, mehr Wasser schluckte, mehr Stimme hustete, dann sah die Situation nicht so gut aus.

Mit aller Kraft stieß ich mich mit den Beinen von den glatten Fliesen ab. Meine Finger klammerten sich an das harte Brett, wie das aller anderen Kinder – außer Zayns; dessen dümpelte in Richtung der Sprungtürme. Meine Froschbewegungen schienen irre, wo waren meine Schwimmhäute? Aber ich versuchte es, für Schwung wenigstens. Ich vertraute den harten Ringen und der Konstruktion um meinen Bauch genug, um mich von ihnen über Wasser halten zu lassen.

Ms. Cloyds langer Kescher erreichte Zayn schneller als ich. Nicht mehr nur ihre und Zayns Stimme, sondern auch meine eigene und die meiner Mum dröhnten in meinen Ohren. Zayn schien den Kescher nicht mal zu bemerken. Er sah aus, als würde er gleich endgültig wie ein Feuerwerk aus Wasser und Regenbogen-Ringen explodieren. Ich fror im warmen Wasser und erreichte meinen besten Freund.

Dann tat ich etwas Dummes.

Ich ließ mein Brett los. Sofort wurde es von uns weggetrieben, meine Hände ruderten hilflos umher und meine Augen brannten vom Chlorwasser. Zayns Zehen streiften meine Rippen. Ich fädelte die Ringe meines linken Armes ab, dann die meines rechten. Irgendwie hielten meine Beine und der Gürtel mich auch in Zayns Tumult über Wasser. Ich konnte seinen Blick nicht finden. Mittlerweile war es heiseres Schreien, das seine Kehle verließ. Meine Augen begannen auf eine Weise zu brennen, die nicht vom Chlor herrührte.

Als die Ringe von meinen Armen waren und ich sie zwischen den Fingern umklammerte, tauchte mein Gesicht ins Wasser. Ich schnappte nach Luft, aber Flüssigkeit füllte meinen Mund. Hektisch versuchte ich das Wasser mit den Armen zu schieben, wie Ms. Cloyd es uns erklärt hatte. Ich atmete Sauerstoff und würgte Wasser. Zayn trat meinen Oberschenkel, mir entwischte ein leises Schluchzen.

»Zayn!«, versuchte ich es mit einer Stimme, die noch weniger nützlich als meine Gliedmaßen schien. Aber mir wurde klar, dass es unmöglich war, meine Schwimmringe über Zayns Handgelenke bis hoch auf seine Oberarme zu schieben. Ganz schlechter Plan. Einer der Ringe entwischte meinen Fingern und verfing sich kurz in einem von Zayns Strudeln, dann war er aus meiner Reichweite.

»Mum!«, rief ich so laut ich konnte. Chlor- und Salzwasser nässten meine Wangen. »Mu-um!«

Die anderen drei Ringe entglitten meinen Händen. Ich trat und schlug das Wasser, der Kescher war nur Zentimeter entfernt, aber außerhalb meiner Reichweite. Zayn war zu verloren in all seinem Chaos. Meine Schultern sanken nicht, wenn ich genug herumzappelte, aber meine Arme waren wie Hanteln. Wieso war das Wasser gleichzeitig leichter und schwerer als ich?

Meine Finger streiften den Kescher, aber ich bekam ihn nicht zu fassen. Irgendwo in meiner Brust hämmerte ein Pochen schwerer als ein Bleigewicht. Unten, unten, unten. Tiefer. Ich krallte mich ins Keschernetz. Für eine Sekunde spülte Wasser wie Erleichterung in meinen Mund.

Und Zayn trat. Dieses Mal traf sein Fuß mich so hart in die Tiefen meines trotz Gürtels ungeschützten Bauches, dass das Wasser wie Erde über meinem Kopf zusammenschlug. Die Welt wurde taub, meine Ohren rauschten. Luftbläschen hingen wie ein Vorhang vor meinen Augen, aber ich konnte sie nicht atmen. Oben, oben, oben. Hoch.

Aber es war nur die Luft, die aufstieg. Die schimmernden Fliesen vor meinen Augen waren nicht die wasserverzerrte Hallendecke. Es war der Beckenboden. Ich strampelte und schluchzte. Vielleicht weil Weinen im Wasser wie Atmen in der Luft war.

Wieso, wieso, wieso sah Wasser aus wie tanzende Luft? Wieso war flüssige Luft tödlich? Wieso hatte ich Angst vor etwas, vor dem ich keine Angst hatte?

Mir wurde warm, als mein Körper langsam begann, sich zu drehen. Nicht ich hatte das bewirkt, aber mir fiel der rettende Gürtel um meine Hüfte ein. Vielleicht musste ich stillhalten, damit er mich hochtrug. Zayns Beine wirbelten über mir. Und es klappte. Die Wasseroberfläche kam näher.

Bis ich realisierte, dass es nicht mein Bauch oder mein Rücken waren, die nach oben trieben, wie der Gürtel es tun sollte. Es waren meine Finger. Mein Kopf. Ich wurde gezogen, von nichts.

Es war ein Albtraum. Es war ein Albtraum! Nicht wie der andere, aber er hatte mich trotzdem gefunden. Ich weinte Luft und atmete Wasser und strebte mit meinen Fingern der Wasseroberfläche entgegen, weil ich niemals mein Bett verlassen hatte. Zayn schlief ein paar Häuser weiter, meine Mum schlief, eine Gruppe kleiner Kinder schlief irgendwo in ihre Decken eingewickelt, ohne jemals eine Badekappe gesehen zu haben.

Mein Kopf brach durch das Wasser und ich atmete ein – Luft – und es war doch kein Albtraum. Mein Körper kribbelte, Kinder schrien und ich war eines von ihnen. Zayn hing mit den Händen am Kescher, dessen Netz gerissen war. Meine Mum zog ihn langsam aus dem Wasser, ihr Gesicht kochte unter Tränen.

»Mum!«, hustete ich mit brennendem Rachen. Ein starker Arm schloss sich um meinen rechten. Plötzlich war er auf meinen Rücken geklemmt, Ms. Cloyds Stimme säuselte atemlos etwas in meine Ohren, das ich nicht verstand. Mit festem Griff umklammerte sie mein Kinn von unten und dann schwamm ich, aber sie schwamm.

Wasser rann aus meinen Augen und meiner Nase und meinem Mund. Über mir flackerten Deckenlampen und Zayn rief meinen Namen. Es war ein zu kurzer Weg zum Beckenrand, Ms. Cloyd schulterte meinen Körper als wäre ich ein Sack Federn. Dann saß ich wieder, feste Fliesen unter meinen Oberschenkeln, unter meinen Händen. Feste Arme um meine Schultern. Zayn. Mum.

Ich wollte weinen, also tat ich es. Mum kniete neben mir, sie presste ihre Stirn gegen meine Wange, dann küsste sie meine Schläfe, meine Stirn, meine Badekappe, meine Badekappe, meine Badekappe. Ich klammerte mich an ihre warmen Arme.

»Louis«, hauchte Zayn mit seinem wunderschönen Gesicht weiß wie Schnee. Fast blau wie Schnee. Es war seltsam, dass so etwas Sanftes wie Wasser eine Stimme so rau machen konnte. »Louis, ich hab dich getreten.«

Ich zog meine Nase hoch, meine Mum schaukelte meinen Körper sanft von einer Seite zur anderen. Ihr linker Arm lag um Zayns schmale Schultern. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie nicht bereit war, zu reden – dabei hatte sie keinen einzigen Tropfen Wasser geschluckt.

Meine Arme und Beine fühlten sich an, als wäre ich im Tiefschlaf. Ms. Cloyd zog sich ihr Shirt über den Kopf und wrang es aus. »Wenn wir das überlebt haben, dann können wir auch Atlantis finden.«, flüsterte ich in Zayns Richtung. Ein kleiner Hustkrampf setzte meine Kehle in Flammen.

»Das war nur ein Swimmingpool, Lou!«, flüsterte Zayn zurück, sein Kopf sank auf meine Schulter. Er atmete immer noch zu schnell.

Ich beobachtete das Wasser. Alle Kinder waren mittlerweile draußen, sogar Connor, der nie losgeschwommen war. Es war still, ein glatter Spiegel, nur dass er nicht reflektierte. Glas. Nicht mal die Turmspringer schickten noch Wellen zu unserer Seite des Beckens herüber; aufgereiht wie wir vor unseren Froschbewegungen standen sie am Fuß des höchsten Turmes und starrten zu Zayn und mir herüber.

Nur die vier der bunten Schwimmringe dümpelten noch auf der friedlichen Oberfläche; gelb, rot, rot, blau. Und die zerbrochenen Teile eines weißen Brettes aus bröselndem Material. Ich hatte bisher nicht mal gemerkt, dass Zayn mit seinem Tritt das Brett vor meinem Bauch zerbrochen hatte.

Unbewegtes, wunderschönes Wasser. Alles konnte zu Albträumen werden.

Und selbst wenn ich jetzt den schnellen Herzschlag meiner Mum gegen meinen Rücken spürte und Zayns kühle Badekappe an meinem Hals, wusste ich trotzdem noch nicht sicher, ob ich nicht doch alles geträumt hatte. Denn selbst jetzt; unberührt und in bläulicher Stille bewegte sich das Wasser sanft an der Stelle, an der Zayn und ich um unsere Atemzüge gestrampelt hatten. Fast als würde jemand auf federleichten Füßen über seine Oberfläche tanzen.

Ich wandte den Blick ab. Zayns Augen waren geschlossen. Ich ließ meinen Kopf gegen seinen sinken, dann erwiderte ich sein Flüstern bestätigend mit der Luft aus meinen wunden Lungen.

»Nur ein Swimmingpool.«

✩✩✩✩✩✩✩

Habe ich Louis' 50 Sekunden Clip von If I Had You ungefähr hundertmal für dieses Kapitel angesehen, um den zehnjährigen Louis zu channeln, auch wenn Louis da nicht mal zehn Jahre alt war?

Die Frage werde ich nicht beantworten.

(Habe ich ebenfalls Louis' 2 Sekunden Clip von Waterloo Road ungefähr dreitausendmal für dieses Kapitel angesehen, um den zehnjährigen Louis zu channeln, auch wenn Louis auch dort nicht zehn Jahre alt war?

ähm)

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