Kapitel 78

Aus dem ersten Wagen sprangen seine Schwestern und seine Eltern, fielen den beiden um den Hals.

Als sich die Türen des zweiten Wagens öffneten, glaubte sie eine Augenblick lang, in Ohnmacht zu fallen. Ihre Eltern und Patrick, ihr Bruder, umarmten sie herzlich
Doch damit nicht genug! Julio, Ben und Jean-Pierre stiegen aus und nahmen sie in die Arme. Fassungslos stand sie inmitten der Menschen, die ihr am meisten bedeuteten.

Nicht einer gratulierte ihr zum Geburtstag, weil alle wussten, dass sie dieses Wort nicht ertragen konnte.
Aber sie waren alle gekommen, um mit ihr zu feiern, was auch immer!

Fassungslos stand sie vor Philip, dem ein Stein vom Herzen fiel, dass sie nicht sauer war.
„Danke!" sagte sie wieder.
„Danke!" antwortete er wieder.
Beide fassten gleichzeitig nach ihrem Herzen.
„Es platzt nicht! Wenn es sich auch manchmal so anfühlt!" beruhigte er sie leise.

„Gut zu wissen, Herr Dr. von Bergen!" flüsterte sie und versank in seinem Kuss.
Aber so ganz sicher bin ich mir auch nicht! dachte er.

Markus heizte den gemauerten Grill an. Bald duftete es nach Fleisch, Salaten, Saucen.

Sie saßen auf Stühlen, Mauern, im Gras und ließen sich alles schmecken.
Alkoholfreies Bier floss in Strömen, ein Glas Champagner war für alle gestattet.

Dann fand Annika es an der Zeit, Philip und all den anderen ein Zeichen zu geben.
Sie hob ihr Glas, alle wurden still.

„Ich danke euch von ganzem Herzen, allen voran natürlich meinem unvergleichlichen Philip dafür, dass ihr diesen Tag mit mir, mit uns feiert! Den Tag, als ich den hübschen Kerl da neben mir kennengelernt habe, den Tag, als wir unsere unvergleichlichen Zwillinge zusammengebastelt haben, den Tag, der mein Leben verändert hat." Sie holte tief Luft. „Und meinen 25. Geburtstag!"

Es war eine Weile still, dann verstanden alle, was sie ihnen hatte sagen wollen.
Zuerst nahm Philip sie in die Arme. „Happy Birthday, Baby!" sagte er überglücklich. „Ich wünsche dir tausend Jahre Glück, aber nur an meiner Seite!"

Alle umarmten sie danach, sprachen ihre Glückwünsche aus, drückten sie liebevoll.
Dann begannen sie zu singen. „Wie schön, dass du geboren bis! Wir hätten dich sonst sehr vermisst!"

Annika ließ die Tränen einfach laufen, wusste, dass sie Geburtstage in Zukunft mit dem Tag heute in Verbindung bringen würde und nie mehr mit.....? Was war da gewesen? Sie hatte es vergessen!

In der Woche darauf holte Philip lachend und singend vor Glück die Post nach oben. Ein paar Werbeschreiben, eine Rechnung, eine Fachzeitschrift und – ein Umschlag aus teurem Papier. Er war an Annika adressiert. Verwundert sah er nach dem Absender - und sein Herz setzte ein paar Schläge lang aus.

Felix Vanderberg las er aufgewühlt. Annika kam angetanzt, hatte links und rechts ein Baby auf den Hüften sitzen. Schnell steckte er das Kuvert in seine Zeitschrift, trug sie ins Arbeitszimmer.

„Was ist los?" fragte sie ihn, als er zurückkam. „Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen!"

Er war wirklich weiß wie eine Wand. „Nein! Nichts! Ich bin vielleicht etwas schnell die Treppen hochgelaufen, weil ich zu euch zurückwollte!" Er versuchte ein Lächeln, das gründlich daneben ging.
Zweifelnd runzelte sie die Stirne. Ein durchtrainierter Kerl wie er wurde blass bei drei Stockwerken?

Wie kam er denn da wieder raus? Er konnte ja nicht wirklich ihre Post unterschlagen!
Er konnte den Brief auch nicht einfach öffnen, um zu sehen, ob der andere sie verletzen würde!
Und ignorieren ging scheinbar auch nicht, weil sie in ihm lesen konnte wie in einem Buch!

„Setz dich!" bat er und nahm ihr Amelie ab.
Annikas Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie wusste nicht, wovor sie solche Angst bekam, aber sie wusste, dass ihr Herz panisch raste.
Was wollte er ihr sagen, was hatte ihn so erschüttert?

„Er hat dir einen Brief geschrieben!" stieß er hervor.
Sie verstand nicht. „Wer?"
„Vanderberg!" Er brachte den Namen kaum über die Lippen.
„Felix?" Ihre Stimme klang unnatürlich hell. „Und? Was steht drin?" Ihre Hände zitterten.
„Ich habe ihn doch nicht gelesen!" wehrte er ab.

„Tu es!" bat sie. „Bereite mich dann ein wenig vor! Ja? Vielleicht muss ich auch gar nicht wissen, was er von sich zu geben hatte!"

Philip stand auf, gab eine widerwillige Tochter an sie zurück und verzog sich nach nebenan. Er atmete zweimal durch, bevor er den Mut fand, den Umschlag aufzuschlitzen.

Er zog ein Blatt Büttenpapier heraus, auf zwei Seiten eng beschrieben und zwang sich zu lesen.

Liebe Annika,
ich hoffe, du erlaubst mir diese Anrede. Sie kommt aus meinem Herzen.

Ich hoffe, dieser Brief erreicht dich, und ich hoffe, du liest ihn. Wenn nicht, habe ich auch das verdient.

Was ich getan habe, ist unverzeihlich, und damit meine ich nicht nur die fürchterlichen Schläge, die dich beinahe getötet hätten.

Ich meine jede körperliche und seelische Grausamkeit, die ich dir zugefügt habe. Und glaube mir, ich muss mich tagtäglich an jede einzelne davon erinnern.

Mein erster Fehler war, dich anzusprechen, dich in mein Leben zu zwingen!

Ein junges, schönes, fröhliches Mädchen wie du musste neben einem Mann wie mir zerbrechen.
Ich könnte nach Ausflüchten suchen, meinen dominanten Vater als Schuldigen vorschieben, meine Drogensucht als Ausrede.

Aber so feige bin ich nicht mehr.

Ich war einfach ein verzogener Kretin, ein arroganter Mistkerl.

Ich musste erst ganz, ganz tief sinken, bevor ich das zugeben konnte, und ich habe dich mit in diesen Abgrund gerissen.
Dafür gibt es keine Entschuldigung!
Und trotzdem flehe ich um deine Vergebung.

Du weißt, dass Ben mich über jeden deiner Schritte zurück in das Leben, das du verdienst, informiert.

Was du nicht weißt ist, dass ich Gott stundenlang angefleht habe, dass du diese Schritte tun kannst, trotz allem, was ich dir angetan habe.
Du hast die Abfindung abgelehnt, die meine Anwälte für dich angelegt haben, und es hat mich nicht verwundert.

Sechs Jahre deines Lebens habe ich dir gestohlen. Wie konnte ich nur glauben, das mit Geld wieder gut machen zu können?

Ich lasse das Konto auf deinen Namen aber weiter bestehen, vielleicht findest du ja einmal einen Verwendungszweck dafür.

Ich habe eine Stiftung gegründet, die den Namen deiner Kinder trägt. Im Nachhinein kommt mir das wieder einmal sehr übergriffig vor, denn das heißt, die beiden mit einem Menschen wie mir in Verbindung zu bringen.

Aber der Name hat sich schon so sehr in den Medien verbreitet, dass ich ihn nur ungern ändern würde.
Wenn du mir auch diesen Schritt verzeihen könntest, oder auch nur diesen Schritt, wäre ich dir dankbar.

Ich weiß heute, Annika, dass ich dich hätte lieben können, wenn das Rauschgift mich nicht so verändert gehabt hätte, denn du bist ein so liebenswerter Mensch.

Und von Ben weiß ich, dass du die Liebe deines Lebens gefunden hast.
Nichts könnte mich glücklicher machen. Ich bin gerade dabei, mich einer Frau zu öffnen. Sie würde dir gefallen. Sie ist keine der Damen aus der Gesellschaft, unter denen du so gelitten hast. Sie war meine Therapeutin während meines Entzuges, hat ein freches Mundwerk und nicht den Hauch von Respekt vor mir. Also, genau die Frau, die ich brauche.

Ich weiß nicht, warum ich dir das erzähle, warum ich sehr gerne möchte, dass du das alles erfährst.

Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich erst wieder glücklich werden kann, wenn du mir vergeben hast!
Du siehst also, es sind wieder sehr egoistische Gründe!

Doch ich glaube zu wissen, dass du die Größe hast, mir eine Chance zu geben.

Nicht dem Teufel, der ich war!

Aber vielleicht dem neuen Felix.
Ich bitte dich aus tiefstem Herzen und aus tiefster Seele darum.
Ich flehe dich an: Vergib mir!
Felix
PS: Falls ihr kirchlich heiraten wollt, ich kann unsere Ehe jederzeit annullieren lassen.
Gründe gibt es ja wahrlich genug!

Philip atmete schneller als gewöhnlich. Was nun? Was sollte er davon halten?
Er hatte diesen Typen nie kennengelernt, was für dessen Gesundheitszustand wohl auch förderlich gewesen war.

Alles, was er wusste, wusste er vom Hörensagen, und das war nichts Gutes!
Allerdings hatte Ben auch angedeutet, dass sein Bruder sich geändert hätte, einen Entzug und eine Therapie gemacht hatte.

Eigentlich sollte ihm der Kerl sonst wo vorbeigehen! Aber Annika musste entscheiden, ob sie zu dem bereit war, worum ihr Ex sie bat!
Vergebung!
Verzeihen!
Konnte man das vergeben und verzeihen, was er seiner Ex-Frau angetan hatte?
Der Frau, die mittlerweile zu ihm gehörte?

Mit dem Brief in der Hand ging er langsam zurück, hoffte irgendwie, der Weg würde Stunden dauern. Sie hatte die Kinder mittlerweile in die Wippe zum Füttern gesetzt und gesichert.

Aufmerksam sah sie ihm entgegen. Er hatte wieder Farbe im Gesicht, es stand also wohl nichts Schlimmes im Brief, keine Drohungen, keine Anschuldigungen, nichts, was ihr Angst machen würde.

„Und?" fragte sie leise.
Er räusperte dich. „Er bittet dich um Vergebung!"

Sie ließ die Lätzchen fallen, die sie den Kindern gerade umlegen wollte.
„Was? Felix? Mich?" Sie musste sich verhört haben. „Aber? Womit droht er, wenn er seinen Willen nicht bekommt?"
Er schüttelte den Kopf. „Mit nichts! Er bittet dich einfach!"

Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen, streckte die Hand nach dem Brief aus. Das musste sie selbst lesen, das glaubte sie sonst nicht!
Und sie las die Worte, die ein ihr vollkommen fremder Mann an sie gerichtet hatte.

Das konnte nicht dieser Teufel geschrieben haben, der sie so lange Jahre so sehr gequält hatte.
Aber es war seine Schrift, sie erkannte sie eindeutig.
War dieses Schreiben eine Therapieauflage?
Irgendeinen Zweck verfolgte er damit!

Lange saß sie bewegungslos da, starrte ins Leere. Wie ein Film zogen viele Grausamkeiten an ihr vorbei.
Eigentlich wartete sie auf den Schmerz, den solche Erinnerungen mit sich bringen sollten.

Doch überrascht stellte sie fest, dass die Vergangenheit nicht mehr zählte, denn sie war eben vergangen.
Das einzige was zählte, waren Gegenwart und Zukunft.
Und noch mehr überraschte sie die Einsicht, dass sie durchaus vergeben konnte, diesem fremden Mann, der auch Jahre seines Lebens vergeudet hatte.
Jahre, die nie wieder kommen würden.

Der auch bezahlt hatte für das, was das Rauschgift aus ihm gemacht hatte.

Langsam fand sie zurück, merkte, dass Philip sie nicht aus den Augen gelassen hatte.

Nicht, weil er befürchtete, dass sich alte Gefühle in ihr wieder melden würden, sondern weil er Angst hatte, dass der andere ihr noch einmal weh getan hatte.
Sie lächelte ihm beruhigend zu. „Alles gut!" sagte sie leise. „Es tut nicht einmal mehr weh! Du hast den Schmerz ausgelöscht."
Er riss sie in seine Arme, küsste ihren Scheitel.

„Meinst du, ich sollte ihm antworten? Vielleicht ist die Wandlung vom Saulus zum Paulus ja von Dauer! Er könnte viel Gutes tun mit seinem Haufen Geld!" fragte sie. Seine Antwort würde entscheiden, wie sie vorging.

Er wusste das und überlegte sich seine Worte genau. „Ich weiß, dass du das tun solltest, um mit ihm abzuschließen! Um daran glauben zu können, dass der Teufel nicht mehr existiert! Dass es kein Monster mehr gibt, vor dem du dich fürchten musst!"

Sie nickte. „Dann schreibe ich gleich!"


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