Kapitel 77
Annika wachte mit einem schweren Knödel im Magen auf.
Heute!
Heute war der Tag!
Heute war ihr Geburtstag, fünf Jahre lang der schrecklichste Tag ihres Lebens!
Bis auf letztes Jahr, als sie Philip traf, als sie die Zwillinge zeugten.
Beim ersten Mal, als ihr Felix seinen perfiden Plan erklärt hatte, hatte sie gehofft, dass es eine einmalige Sache bleiben würde.
Im Jahr darauf hatte sie geahnt, dass es wohl eine jährlich wiederkehrende grausame Form der Rache werden würde, Rache, wofür auch immer.
Dann kam Philip, sie wehrte sich gegen Felix, bezahlte bitter dafür.
Würde sie tauschen, wenn sie könnte?
Würde sie dieses Jahr im Koma tauschen gegen die Alternative, Philip nie getroffen zu haben?
Jahr für Jahr wieder losgeschickt zu werden, wäre dann ihr Schicksal gewesen!
Jahr für Jahr die Demütigungen zu ertragen!
Die kleineren Verletzungen, die Schmach, wenn sie wieder zurück kam!
Nein! Das Jahr im Krankenhaus relativierte sich absolut.
Sie hatte Philip, durfte ihn lieben!
Ihn zu treffen, war das Beste gewesen, was ihr hatte passieren können.
Und das war doch durchaus ein Grund zu feiern, diesen Tag zu feiern!
Sie würde ihren Geburtstag ignorieren, hoffte, dass er es auch tat!
Aber wenn nicht, wenn er das Bedürfnis hätte, sie zu feiern, ihr zu gratulieren, würde sie das akzeptieren.
Sie würde nicht sauer sein, weil er ja nach der kurzen Zeit, die sie sich kannten, nicht alles im Fokus haben konnte, nicht alles vollkommen durchschauen konnte, so sensibel er auch war, mit ihr umging.
Trotzdem war sie erleichtert, als er sich ganz normal verhielt, als sie aufwachten. Er schmuste sie ab, wie jeden Morgen, machte Frühstück, versorgte mit ihr zusammen liebevoll die Babys. Sie suchte in seinem Gesicht nach verräterischen Spuren, nach Schalk oder etwas Ähnlichen, doch er sah sie offen an.
Philip fühlte, dass auch sie zwiegespalten war. Sie dachte offensichtlich an den Tag vor einem Jahr, erwartete irgendeine Reaktion von ihm, war leicht verunsichert, weil gar keine kam.
Aber sie schien auch erleichtert, dass er das Thema Geburtstag ganz außen vor ließ.
Fast war er versucht, zu lächeln, schaffte es aber, sein Pokerface zu behalten.
Gegen Mittag überraschte er sie mit einem Vorschlag. „Wir könnten doch einen Ausflug ins Grüne machen. Ich könnte dir den Bayerischen Wald zeigen!"
Sie klatschte vor Freude in die Hände. „Super! Mit den Süßen an die frische Luft! Ein bisschen wandern, in einen eurer tollen Biergärten gehen!" Sie tanzte durchs Zimmer, fiel ihm um den Hals. Ein wenig überrascht war er schon von ihrer Begeisterung. Und ein wenig erregt von ihrer duftenden Nähe.
Aber der Plan musste durchgezogen werden, wenn er sich auch kurzfristig entschied, ein etwas weiter geschnittenes Jeans-Modell anzuziehen.
Er hatte sich mitten in der Nacht aus dem Bett geschlichen und eine geschlossene Box gepackt.
Nun musste er nur noch abgekochtes heißes Wasser in einer Thermoskanne für die Babyfläschchen dazu stecken. Das machte er, während sie sich duschte, trug dann die Kiste auch gleich nach unten, stellte sie in den Kofferraum seines Autos.
Wir brauchen dringend eine Familienkutsche! dachte er.
In seinem Flitzer war der Platz für vier Personen und Gepäck schon sehr begrenzt!
Kinderwagen mitzunehmen war zum Beispiel ein Ding der Unmöglichkeit. Sie mussten die Kleinen eben tragen, wenn sie ein wenig wandern wollten. Zur Sicherheit räumte er noch die Rückentragen ein.
Sie starteten aufgedreht. Die Babys waren sicher verstaut in den gesicherten Tragetaschen.
„Ich fühle mich, als würde ich in Urlaub fahren!" rief sie überglücklich.
Philip notierte auf seinem geistigen Notizzettel: Urlaub!
Vielleicht schafften sie es ja, eine oder zwei Wochen wegzufliegen, bevor er mit dem Job anfing.
Er fuhr über die Autobahn, fuhr halb so schnell wie früher. Er hatte ja die kostbarste Fracht der Welt an Bord.
An einem Wanderparkplatz hielt er an, sie luden Amelie und Moritz aus und machten sich auf einen schönen Rundwanderweg, den er aus seiner Jugend noch kannte.
Nur zum Spaß hatten sie versucht, dass Annika Amelie nahm und Philip Moritz, lachten sich wieder kringelig darüber, wie die beiden die Gesichter verzogen und sich sperrten.
Sie tauschten die Kinder - und alles war gut!
Biergarten war jetzt nicht eingeplant gewesen, aber er wollte ihr natürlich jeden Wunsch erfüllen.
Er kannte eine schöne Gaststätte mit herrlichem Weitblick. Außerdem waren dort die Brotzeit-Portionen besonders groß.
Sie bestellten sich eine Käse- und eine Wurstplatte, dazu gab es frisches Bauernbrot. Bevor Philip seine erste Scheibe gegessen hatte, war alles leergefegt.
„Oh!" sagte sie entschuldigend. „Alles weggefuttert! Sorry!"
Er bestellte sich noch Bratwürste, die Bedienung wundert sich über den gesegneten Appetit des jungen Mannes. Zwei erwischte er, weil er Tempo machte, vier landeten in ihrem Magen.
Lachend gingen sie das letzte Stück zum Auto.
Er fuhr ein Stück auf der Landstraße, bog dann in einen Waldweg ab.
„Oh!" sagte sie zu den Kindern. „Jetzt entführt uns der Papa in den tiefen, schwarzen Wald!"
Nach ein paar hundert Metern hielt er an einer Hütte an. Sie lag am Waldrand, die gepflegte kleine Terrasse war möbliert. Von dort hatte man eine herrliche Aussicht.
„Kaffeepause!" sagte er nur.
„Können wir hier einfach bleiben? Das gehört doch jemandem!" wandte sie unsicher ein.
„Ja! Klar! Einem Freund von mir!" antwortete er.
Er packte die Kiste und die Zwillinge aus. „So! jetzt bekommt ihr etwas zu futtern! Die Mama ist ja erst einmal satt! Hoffe ich zumindest!"
Er machte die beiden Fläschchen zurecht, sie schaute bewundernd zu. Er war schon ein wahnsinnig toller Vater!
Nachdem die beiden satt waren, holte er eine dicke Decke aus dem Kofferraum. Windeln, Feuchttücher, Puder und Creme aus der Wunderkiste.
Sie wickelten die strahlenden Babys, legten sie auf die Decke im Halbschatten, er cremte vorsichtshalber die Gesichtchen mit Lotion ein.
Annika verbesserte sich in Gedanken. Er kein toller Vater, er war der beste Vater aller Zeiten!
Sie spielten noch ein wenig mit den beiden Süßen, bis denen die Augen zufielen.
Sie hielten sich an den Händchen, brabbelten noch ein wenig in ihrer eigenen Sprache miteinander und schliefen lächelnd ein.
„Hast du gehört? Amelie hat gesagt: Papa ist der Beste!" sagte Annika lächelnd zu Philip.
„Und Moritz hat geantwortet: Nein! Mama ist die Beste!" antwortete er und zog seinen Sonnenschein an sich.
Und wieder einmal war er sicher, nie in seinem Leben glücklicher gewesen zu sein.
Vor einem Jahr! In ein paar Stunden wären es genau 365 Tage, seit er sie zu ersten Mal gesehen hatte!
Als ihr Anblick ihm vollkommen den Atem genommen hatte!
Seitdem hatte ihn keine andere Frau mehr interessiert!
Er verlor sich in einem Kuss.
Einem Kuss wie auf der Tanzfläche.
Vorsichtig, tastend, streichelnd, fordernder, als er keine Abwehr spürte.
Schweratmend löste er sich von ihr. „Kaffee?" fragte er, schon wieder einmal heiser vor Erregung.
Sie grinste ihn an, und er konnte ihre Gedanken lesen.
„Nein! Nein! Nein! Sprich es nicht aus!"
Sie sah ihn frech an. „Ach wo! Ja, ich möchte gerne einen Kaffee!"
„Hu!" Er wischte sich theatralisch den Schweiß von der Stirn. „Sie hat das L-Wort nicht gesagt!"
Grinsend packte er einen Gaskocher, eine italienische Kaffeekanne, Pulver und Milch aus.
zehn Minuten später blubberte die braune Brühe. Er wärmte Milch, schäumte sie mit einem batteriebetriebenen Gerät auf.
„Voila, Madame, ein Cappuccino!"
„Kuchen gibt es nicht?" zog sie ihn auf.
Er schlug sich vor die Stirne, zauberte aus der Kiste vier kleine Fertigkuchen.
„Ah! Drei für mich, einer für dich! Perfekt!" freute sie sich und grinste ihn an.
Doch wider Erwarten teilte sie den dritten Kuchen mit ihm. Sie war wahr und wahrhaftig satt!
Er suchte auf seinem Handy einen Sender mit leisen Love-Songs, zog sie in seine Arme, drehte sich zur Musik mit ihr.
Sie schwebte davon, direkt auf Wolke sieben im Zentrum des siebten Himmels.
Nein, er wollte ihren Geburtstag nicht feiern, weil er ein so einfühlsamer Mensch war!
Aber er wollte den Tag feiern, als sie sich kennengelernt hatten! Sie verstand! Noch ein paar Stunden, dann war es soweit.
Sie hatten ein gemeinsames Jahr!
Er fasste in seine Hosentasche, holte ein kleines Päckchen heraus. Sie fand darin ein weiteres Bead für die Kette, die sie täglich trug. Sie las die Gravur, der Geburtstag ihrer Kinder, die sie in dieser Nacht gemacht hatten. Links und rechts davon zwei riesige Brillanten.
„Danke!" sagte sie leise mit gebrochener Stimme.
„Danke!" antwortete er ebenso heiser. Mehr Worte brauchte keiner von beiden.
Sie setzten sich auf die bequemen Stühle, hielten sich bei den Händen, sahen in die wunderbare Landschaft. Sie waren sich so nah, dass sie nicht reden mussten.
Um acht Uhr fuhren zwei Autos, ein SUV und ein Kleinbus, vor.
„O je! Jetzt kommen die Besitzer und verjagen uns!" befürchtete sie.
„Das kann schon sein!" antwortete er, lächelte sie aber dabei an.
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