Kapitel 68

Philip und Annika

Philip glaubte an eine Sinnestäuschung.
Dachte, dass sein Blick durch die Tränen getrübt war!
Glaubte zu träumen!
Er wischte seine Augen trocken, doch das Bild blieb.
Sie sah ihn an!

„Annika!" flüsterte er.
Sie konnte wegen des Tubus nicht sprechen, drückte aber seine Hand.
Philip! dachte sie. Der hübsche Junge mit den blauen Augen, die vor Tränen schwammen!
Er sah müde aus, müde und blass!
Aber er war es!

„Annika!" jubelte er und erwiderte den Druck ihrer Hand. Er drückte den Alarmknopf, läutete Sturm.
Eine Schwester kam angerast, der behandelnde Arzt folgte ihr im Laufschritt.

„Sie ist wach!" brachte Philip gerade noch heraus, dann sank er auf den Stuhl.
Der Arzt strahlte ihn an.
Der junge Mann hatte es geschafft!
Vorsichtig zog er den Beatmungsschlauch, hatte den Blick auf den Monitor geheftet.

Sie schnappte einmal, zweimal!
„Atmen Sie bitte!" bat er sie ruhig und professionell. „Atmen Sie vorsichtig! Sie können das!"

Seine Stimme klang so überzeugend, dass Annika es noch einmal versuchte.
Verdammt! dachte sie. Atmen! Das konnte doch nicht so schwer sein! Sie schnappte noch einmal, da fühlte sie, dass wirklich Luft in ihre Lungen drang.
Von da an ging es leichter. Es brannte zwar höllisch, aber sie fühlte es bei jedem Atemzug, dass es besser wurde.

„Wir geben Ihnen noch etwas Sauerstoffunterstützung, dann müssen Sie sich nicht so anstrengen!" erklärte der Arzt und befestigte etwas an ihrer Nase, was ihr das Atmen deutlich angenehmer machte.

Dann untersuchte er ihre Reflexe. Die Augen reagierten vollkommen normal, was wie ein Wunder nach dem langen Koma war. Ihr Freund hatte sie wohl ordentlich beschäftigt während des letzten Jahres.

Die Geschichte dieses jungen zukünftigen Kollegen, der kaum von ihrem Bett wich, der sie hingebungsvoll pflegte, der sich auch liebevoll um die gemeinsamen Kinder kümmerte, war in der ganzen Klinik in aller Munde.

Und niemand ahnte, dass die beiden nicht Jahre verbanden, sondern nur eine Nacht!

Der Arzt machte noch ein paar weitere Untersuchungen, während denen ihre Augen sich nicht von Philip lösten.
Sie hatte so viele Fragen an ihn!
Wann würden die anderen sie endlich alleine lassen mit ihm?

Dann endlich schloss sich die Türe hinter dem Arzt und der Schwester.
Philip nahm sie in die Arme, hielt sie einfach fest, ließ die Tränen laufen.

Sie war wach, sie reagierte, sie würde wieder ganz gesund werden.
Er hatte keine Ahnung, wie es mit ihnen beiden weitergehen würde, ob sie ihn lieben konnte, aber das war im Augenblick nicht wichtig!
Sie würde leben!
Und vielleicht bekamen sie eine Chance auf ein gemeinsames Leben, als Familie!

Sie versuchte zu sprechen, doch es kam kein Ton heraus. Entsetzt sah sie ihn fragend an, griff nach ihrem Hals.
„Das sind die Stimmbänder, Süße! Durch die lange Intubation sind sie ziemlich eingerostet. Du solltest nicht versuchen zu sprechen!"

Sie nickte und lächelte.
Und dieses Lächeln zauberte ihre Schönheit zurück in das blasse, eingefallene Gesicht.
„Erinnerst du dich am mich?" fragte er.
Sie nickte.
„An Regensburg? An unsere Nacht? An meinen Namen?"
Sie nickte und zeigte auf ihre Augen.

Er verstand erst nicht.
Sie wiederholte die Geste, deutete dann auf ihn.
Da fiel der Groschen.
„Du erinnerst dich an meine Augen!" sagte er schmunzelnd. „Die haben dir wohl gefallen?"

Sie nickte eindringlich.
„Und sonst? Was hat dir sonst noch gefallen?" neckte er sie.
Sie fasste nach seinem Körper, legte dann die Hand auf ihr Herz.
„Alles hat dir gefallen? Und du hast gespürt, dass etwas mit uns geschehen ist? Etwas wie Liebe?" fragte er leise.
Sie dachte kurz nach, nickte dann wieder.

Da öffnete sich die Türe, und Julio kam herein.
Er bewachte abwechselnd mit seinen Kollegen, die früher für Felix gearbeitet hatten, seit einem Jahr ihr Zimmer. Sie lebten von ihren Ersparnissen, hatten früher gut verdient, wussten, das waren sie ihr schuldig.
Seit ihr früherer Chef aus der Untersuchungshaft freigekommen war, fürchteten sie um das Leben seiner Frau.

Annika zuckte zusammen, als sie Julio sah, ihre Augen wurden dunkel vor Angst.
Philip drückte beruhigend ihre Hand. „Keine Angst, Süße! Er ist ein guter Freund von uns geworden. Er und die anderen passen seit einem Jahr auf dich auf!"
Sie zog fragend die Augenbrauen hoch, hob den Daumen.
„Ja, Mädchen! Du hattest dich für ein Jahr von der Welt verabschiedet!"

Sie schüttelte ungläubig den Kopf.
„Doch! Fast zwölf Monate lang liegst du hier und schläfst und schläfst und schläfst!"
Sie deutete auf ihn, dann auf sich.

„Ja! Ich war die ganze Zeit hier bei dir. Ich musste dich doch aufwecken! Ich wusste, irgendwann schaffe ich es!" Die Tränen begannen schon wieder zu laufen.
Sie simulierte eine Ohrfeige, lächelte aber dabei. Das war so süß, dass er wieder lachen konnte.
„O je! Ja, ich musste dich ohrfeigen! Du musstest heute wach werden! Aber ich war sehr vorsichtig!"

Sie nickte wieder zustimmend, fuhr mit der Hand quer zu ihrem Hals.
„Ja! Sonst wärst du gestorben!"
Sie streckte die Hand aus, legte sie auf sein Herz. Danke! sollte das bedeuten, und er verstand es auch so.

Julio trat etwas näher, auch er hatte feuchte Augen. Sie war aufgewacht! Die schöne junge Frau, die sein Chef fast totgeschlagen hatte, war wieder wach, konnte denken, hatte keine sichtbaren Schäden davongetragen.

Als die Nachricht ihn erreicht hatte, hatte er in der Krankenhauskapelle alle Kerzen angezündet, die da gelegen waren und alles an Bargeld, das er dabei hatte, in den Opferstock gesteckt.
Er hatte während dieses Jahres sooft um Vergebung gebeten dafür, dass er so lange nichts unternommen hatte. Vielleicht würde sie sie ihm gewähren!

Annika hob die Hand. Sie wusste genau, dass er ein Scherge von Felix gewesen war.
Sie erinnerte sich an viele Demütigungen, die der große Kerl ihr in seinem Auftrag zugefügt hatte.

Doch sie war am Leben, wusste, sie konnte gesund werden.
Wusste, Philip war da!
Darum konnte sie auch vergeben.
In Philips Geschichten war Julio ein Freund von ihnen gewesen, er würde schon wissen, warum er ihr das erzählt hatte.

Sie streckte die Hand aus, Julio küsste sie ehrfürchtig. „Danke, Madame Vanderberg!" sagte er leise.

Sie schüttelte heftig den Kopf.
Diesen Namen wollte sie nicht mehr tragen!
Auf gar keinen Fall!
„Madame Grünwald?" fragte Julio.

Sie deutete eindringlich auf sich
„Sie will, dass du sie Annika nennst!" übersetzte Philip und sie nickte.
„Danke, Annika!" brachte er gerade noch heraus.
Dann musste er das Zimmer verlassen.
Seine Tränen musste niemand sehen!

Annika machte Handzeichen, die bedeuteten, dass sie etwas zu schreiben haben wollte.
Sie hatte so viele Fragen, die konnte sie nicht mit den Fingern stellen.

Philip verstand, ging zum Stationsbüro und bat die Schwester um einen Block und einen Stift.
„Aber überfordern Sie sie nicht!" bat sie.
Er lächelte sie an. „Ich denke, sie hat genug geschlafen!"

Im Zimmer gab er ihr das Gewünschte.
Das erste Wort, das sie schrieb, war: Felix?

Sein Herz blieb einen Moment lang stehen. Wollte sie ihren Mann sehen? Hatte sie Sehnsucht? Glaubte sie an das Märchen, das er ihr erzählt hatte?

Einen Augenblick lang sah er sie nur an, suchte nach Worten.
Annika sah den Schmerz in seinen Augen, merkte, dass er sie ganz falsch verstanden hatte.
Wie im Fieber schrieb sie los, der Stift flog über das Papier.

Felix ist böse! Er ist nicht der liebevolle Ehemann, den du beschrieben hast! Er hat mich gequält und geschlagen, immer wieder verletzt! Ich habe Angst vor ihm! Kann er mir hier etwas tun? Ich will ihn nie wiedersehen!

Erleichtert las er ihre Worte. „Nein! Julio und seine Männer passen auf! Und ich passe auch auf!"

Dann schrieb sie ein Wort, einen Namen, an den sie sich erinnerte. Ein Name, den zu hören ihr gar nicht gefallen hatte.
Fabienne?

Er lächelte sie an, war zufrieden über seinen Einfall!
„Sie war nur eine Erfindung! Ich habe gemerkt, dass es dich aufregt, von meiner Freundin zu hören. Und Aufregung war gut, sie hat dein Gehirn wach gehalten! Aber es hat nie eine Fabienne für mich gegeben! Seit unserer Nacht hat es keine Frau mehr für mich gegeben!"

Sie drückte seine Hand, und wieder belohnte ihn ein Lächeln für das vergangene Jahr.
All diese Geschichten? Woher sind sie gekommen?


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