Kapitel 65
Philip - ein Jahr vorher
Sie war weg! Sie war gegangen ohne ein Wort des Abschiedes, der Erklärung.
Er konnte es noch immer nicht fassen.
Er konnte auch nicht fassen, wie sein Herz schmerzte!
Wie. Fucking. Weh. Das. Tat.
Er grübelte und grübelte, wie er sie finden konnte, wie er Antworten bekommen konnte.
Da fiel ihm das Bild ein, das sein Kumpel ihm von den Aufnahmen der Überwachungskamera im Club ausgedruckt hatte, und da fiel ihm sein Onkel ein, der beim LKA war, sein Patenonkel.
Zum Glück war der im Büro, zum Glück verstand er das Problem seines Neffen.
„Wenn du versprichst, dass die Sache unter uns bleibt, schick ich das Foto durch ein Bilderkennungsprogramm! Aber wehe, du hast irgendwas mit ins Netz stellen oder so im Sinn!"
„Nein!" versprach Philip. „Ich brauche nur einen Namen, eine Nummer, einen Wohnort, eine Antwort! Ich werde sie auch nicht stalken oder so was!"
Er fotografierte das Bild ab, sandte es an das Privathandy seines Onkels.
Es dauerte keine halbe Stunde, bis der Rückruf kam.
Sein Onkel schwieg erst einmal. Dann atmete er tief ein. „Also! Ich fürchte, da hast du ein ziemliches Problem, Philip!" Wieder schien er eine Weile nachzudenken. „Die Frau ist nämlich eine echte Berühmtheit. Du kannst sie ja mal googeln. Ihr Name ist Annika Vanderberg."
"Danke!" brachte Philip gerade noch heraus und beendete das Gespräch.
Er rieb sich über sein Gesicht. Er hatte einen Namen, ihren Namen, der sein Leben verändern sollte.
Wie sehr, wusste er noch nicht.
Als Unternehmers-Sohn sagte ihm der Familienname natürlich etwas. Aber mit dieser Familie hatte sie doch sicher nichts zu tun!
Er gab "Annika Vanderberg" in die Suchmaschine ein. Hunderte von Seiten wurden angezeigt. Er klickte zuerst auf „Bilder", scrollte durch die riesengroße Galerie.
Sie war es eindeutig! Jünger, aber es war seine Bella!
Meine Bella! Er lachte bitter auf.
Die Frau eines Großindustriellen! Dem Besitzer eines DAX-Unternehmens!
Er sah auf die Aufnahmedaten. Die letzten Fotos waren vor ziemlich genau fünf Jahren datiert.
Was hatte diese Frau von ihm gewollt?
Was hatte sie bei ihm gesucht?
Warum gerade er?
Warum gab es seit Jahren keine neuen Fotos mehr von ihr?
Er ging zurück zu den Hochzeitsbildern.
Eine wunderschöne, sehr junge, glücklich in die Kameras strahlende Braut!
Ein gelangweilt, arrogant dreinschauender Bräutigam.
Er scrollte noch einmal zu den ersten Bildern zurück. Da hatte dieser Felix, der sicher doppelt so alt war wie sie, noch gelächelt, hatte sie stolz angesehen. Aber sein Blick war immer uninteressierter geworden, innerhalb von nur neun Monaten!
Er ging zu den Meldungen, orientierte sich wieder an den Erscheinungsdaten.
Eine Headline, auch ziemlich genau vor fünf Jahren erschienen, ließ ihn hochschrecken.
Firmenchef Vanderberg schwer verunglückt
War Kokain im Spiel?
Er las den Artikel der Saint-Tropez-Nachrichten:
Nach einer Feier anlässlich des 19. Geburtstags der schönen Annika Vanderberg raste der Sportwagen der Frau auf der kurvigen Strecke gegen einen Baum. Gefahren war wohl der Ehemann, der schwer verletzt wurde. Aus informierten Kreisen haben wir erfahren, dass nicht nur Alkohol, sondern auch eine nicht geringe Menge an Koks im Spiel gewesen sein soll.
Zwei Wochen später kam nur noch eine neutrale Meldung:
Felix Vanderberg noch immer im Koma.
Dann, nach weiteren 14 Tagen:
Felix Vanderberg aus dem Krankenhaus entlassen.
Philip stützte den Kopf in die Hände, sprang auf, tigerte durchs Zimmer.
Was war da los?
Was war geschehen?
Was war mit diesem ungleichen Ehepaar geschehen?
Er war versucht, sich wieder zu betrinken, fürchtete aber den Kater danach noch zu sehr.
Bella!
Annika!
Annika Vanderberg!
War hier gewesen!
In seiner Wohnung!
In seinem Bett!
In seinen Armen!
In seinem Herzen!
Warum?
Er machte sich die Mühe, die ganzen Berichterstattungen über die Hochzeitsfeiern zu lesen, um möglichst viele Informationen über sie herauszubekommen.
Eine Gazette verriet ihm ihren Geburtsnamen und ihren früheren Wohnort.
Annika Grünwald aus Köln.
Ein anderes Blatt hatte ein Porträt ihrer Familie gebracht. Vater Peter, Unternehmensberater, Mutter Margit, Charity-Lady, Bruder Patrick, Mathematiker.
Der Bruder schien ihm am Erfolg versprechensten. Er suchte im Netz, fand tatsächlich eine Telefonnummer.
Sofort wählte er.
Eine männliche Stimme meldete sich.
Mein Gott! Was soll ich jetzt sagen? Ich hätte mir das vorher überlegen sollen!
Dann entschied er sich einfach, ziemlich nahe an der Wahrheit zu bleiben.
„Hallo, Herr Grünwald. Mein Name ist Dr. Philip von Bergen. Ich bitte Sie von Herzen, nicht aufzulegen, bevor ich mit meiner Geschichte am Ende bin! Es geht um Ihre Schwester Annika. Sie war hier in Regensburg, und wir haben eine Nacht zusammen verbracht! Ich weiß, das klingt verrückt, aber es war so! Dann ist sie verschwunden, ohne ein Wort. Im Netz habe ich jetzt ihr Bild gesehen."
Hier musste er tricksen, um seinen Onkel rauszuhalten.
Doch Patrick fiel ihm ins Wort. „Annika war hier? Alleine? Bei Ihnen? Wie geht es ihr? Hat sie etwas erzählt?"
Philip versuchte so viel wie möglich zu berichten, ohne zu sehr ins Detail zu gehen.
„Wann genau war das?" fragte Patrick nach.
Philip sah auf den Kalender. „Am 22. August!" antwortete er.
„An ihrem Geburtstag! Ihrem 24. Geburtstag!" stöhnte Patrick. „Wir haben sie seit Jahren nicht mehr gesehen oder auch nur mit ihr gesprochen! Ihr Teufel von Ehemann hat jeden Kontakt unterbunden! Hat uns am Anwesen vom Sicherheitsdienst abführen lassen!"
Philip verstand immer weniger. Doch Patrick schien vollkommen verzweifelt zu sein. „Könntest du, könntest du nach Köln kommen und mit mir nach Saint-Tropez fliegen?" bat er und ging wie selbstverständlich zum du über. „Ich buche zwei Flüge!"
„Ja, natürlich! Ich mache mich gleich auf den Weg!" versicherte Philip.
Sechs Stunden später läutete er an der Türe von Annikas Bruder. Der nahm ihn in die Arme, während Tränen über sein Gesicht liefen.
Am nächsten Vormittag landeten sie an der Cote d'azur. Mit dem Taxi fuhren sie zur Vanderberg-Villa. Polizei-Autos kamen ihnen entgegen, aufgeregte Sicherheitsmänner schwirrten herum. Einen von ihnen erkannte Patrick.
„Julio! Was ist los? Was ist passiert?" schrie er den Zwei-Meter-Schrank an.
Der Riese schien unter Schock zu stehen. „Er... er... er hat sie zusammengeschlagen! Sie .... sie... sie ist im Krankenhaus! Ich... ich...ich habe die Polizei gerufen! Endlich habe ich die Polizei gerufen! Sie haben ihn mitgenommen! Er hat so getobt! Hat geschrien, er bringt mich um! Er ist verrückt! Sie lag auf dem Boden! Er hat immer weiter auf sie eingeschlagen! Sie hat geblutet, aus der Nase!"
Philip und Patrick waren weiß wie die Wand geworden. „Kann uns jemand ins Krankenhaus bringen?" fragte Philip.
„Ja, klar! Ich bringe euch! Ich kenne den Weg gut. Ich bin ihn oft genug gefahren in den letzten Jahren!" erklärte er bitter.
An diesem Tag zog Philip in der Klinik ein und verließ sie sehr lange nicht mehr.
Dr. Philip von Bergen, der sich immer gegen Beziehungen gewehrt hatte, nahm auf einem Stuhl auf der Intensivstation der Klinik von Saint-Tropez Platz, der neben dem Bett einer Frau stand, die er eine Nacht lang hatte lieben dürfen.
Er dachte nicht nach, warum er das tat. Auch später nicht. Er wusste nicht viel von ihr, wusste nicht einmal, was sie für ihn empfand.
Aber er war sich sehr sicher, dass er bleiben musste.
Annika – ein Jahr vorher
Annika saß in ihrem Zimmer, bewacht von Julio am Bildschirm.
Aber es war ihr egal! Sie hatte dieses Mal keine Angst mehr, nicht vor dem Sicherheitsmann, nicht vor ihrem Mann.
Sie hatte einen Traum geschenkt bekommen, einen Traum von Liebe!
Sie sah diesen hübschen Jungen vor sich, sah seine blauen Augen, die dunkel wurden, wenn er erregt war.
Und er war oft erregt gewesen in dieser Nacht!
Sie lächelte bei der Erinnerung daran.
Diese Nacht würde ihr niemand wegnehmen können, nicht Julio, nicht Felix.
Und es würde keine der anderen, der entwürdigenden Nächte mehr geben!
Denn sie würde gehen!
Sie würde ihn endlich verlassen!
Sie konnte keinen einzigen demütigenden Satz aus seinem Mund mehr aushalten, keinen einzigen Schlag seiner Faust in ihr Gesicht ertragen.
Sie würde jetzt hinuntergehen, würde es ihm sagen.
Dann würde er toben, brüllen, nach Julio rufen.
Aber sie würde zurückbrüllen!
Sie würde Julio bitten, sie gehen zu lassen!
Er war noch ein Mensch, sie hoffte zumindest darauf.
Irgendwie würde sie es schaffen, aus diesem Alptraum zu kommen, der vor fast sechs Jahre in einem Café begonnen hatte, als sie geglaubt hatte, der gut aussehende Mann, der sie anflirtete, könnte mehr von ihr wollen als eine Bettgeschichte.
Anfangs war er sehr überzeugend gewesen!
Anfangs hatte sie ihm die Liebesschwüre geglaubt!
Anfangs war sie bis über beide Ohren verknallt gewesen!
Hatte sie seine Leidenschaft für Liebe gehalten!
Wie naiv sie doch gewesen war!
Die Zeit des überschäumenden Glücks, das nur eine 18jährige so empfinden konnte, war schnell vergangen.
Der Alltag war eingezogen in die riesige Villa.
Er hatte starke Stimmungsschwankungen gehabt, was sie anfangs auf den Stress geschoben hatte.
Mittlerweile wusste sie, dass es eher auf die Schwankungen der Kokain-Konzentration in seinem Blut zurückzuführen gewesen war.
Sie hatte ihn geheiratet und gewusst, dass sie einen Fehler machte.
Doch immer noch hatte sie gehofft, der charmante Mann der ersten Wochen würde zurückkommen.
Der Mann, der sie voll Stolz auf Bälle geführt hatte!
Der sie der Presse vorstellte als seine zukünftige Frau!
Der sie vor allen anderen küsste, sie zärtlich berührte!
Zum ersten Mal zeigte er sein wahres Gesicht, als sie von einer Dame der Gesellschaft beleidigt wurde.
Sie hatte sich gewehrt, hatte nicht sehr liebenswürdig gekontert.
Sie war im Recht gewesen!
Doch er hatte sie böse angesehen, hatte ihr auf der Heimfahrt ziemlich deutlich gemacht, dass sie einen Fehler gemacht hatte.
Es hatte noch eine Reihe von solchen Situationen gegeben, er war immer ungnädiger mit ihr gewesen.
Dann hatte sie die Unverschämtheiten der fremden Menschen einfach geschluckt.
„Heute warst du aber brav, Baby!" hatte er sie im Schlafzimmer dann gelobt. „Dafür bekommst du jetzt einen besonders heißen Fick!"
Seine Worte stießen ihr sauer auf.
Zärtlichkeit war schon eine ganze Weile nicht mehr angesagt!
Als sie einmal andeutete, gehen zu wollen, hatte er sie grob ins Bett zurückgestoßen.
„Niemand verlässt einen Felix Vanderberg!" hatte er geschrien.
Sein Bruder Ben hatte sie immer mittleidiger angesehen bei seinen seltenen Besuchen.
„Ich kann dir helfen, wenn du gehen willst!" hatte er ihr einmal zugeflüstert.
Doch dann war Felix wie aus dem Nichts aufgetaucht, hatte ihn nur angegrinst.
„Willst du wieder einmal ein von mir abgelegtes Liebchen haben?" hatte er seinem Bruder hingeknallt.
Da wusste sie, dass sie den Fehler ihres Lebens nicht wieder gut machen konnte!
Sie war gefangen!
An ihrem 19. Geburtstag eröffnete er ihr, dass es Zeit wurde, einen Erben zu zeugen.
Um sie gnädig zu stimmen oder aus einer sentimentalen Stimmung heraus, hatte er eine Party für sie organisiert.
Sie bemerkte seine seltsame Aufgedrehtheit im Laufe des Abends.
Ben wollte sie warnen. „Er hat ordentlich Koks geschnupft! Lasst euch von Julio nach Hause bringen!"
Da hatte sie zum ersten Mal von seiner Kokainsucht erfahren. Sie weigerte sich, zu ihm in den Wagen zu steigen, doch er packte sie brutal am Arm, schob sie auf den Beifahrersitz.
„Setz dich jetzt endlich, Baby! Ich bin geil auf dich! Wir müssen heute Nacht einen Erben machen! Die Welt erwartet das von uns!"
Er bretterte die abschüssige Straße hinunter, und sie schloss mit ihrem Leben ab.
Doch wie durch ein Wunder überstand sie den Unfall nahezu unbeschadet. Ihn dagegen hatte es schwer erwischt.
Und dann begann ihr richtiger Leidensweg, gegen den die ersten Monate ein Vergnügen gewesen waren!
Aber damit würde heute Schluss sein!
Es musste einen Weg für sie aus diesem Albtraum geben!
Sie war erst 24, das Leben musste ihr noch mehr zu bieten haben als dieses Gefängnis mit einem Sadisten!
Sie musste es versuchen!
Sie baute sich vor ihm auf, sprach die Worte aus, die sie schon so lange hätte sagen sollen!
„Ich verlasse dich, Felix Vanderberg! Und du musst mich schon totschlagen, um das zu verhindern!"
Er sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. „Na! Dann mach ich das doch!" stieß er hervor, raste mit dem Rollstuhl auf sie los, drückte sie gegen die Wand und schlug auf sie ein. Es wurde schwarz um sie und in ihr.
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