Kapitel 52

Unten saß die Familie Adjani bei Kaffee und Gebäck. „Darfst du denn einfach in die Küche?" fragte ihr Vater Fabienne, als sie die Kaffeemaschine anschaltete. Verblüfft sah sie ihn an.

„Ja! Ja, natürlich! Wir sind Freunde!" antwortete sie.

„Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt, wie seid ihr euch so nah gekommen?" fragte ihre Mutter.
Fabienne entschied sich für eine Art von Notlüge, oder für nicht die ganze Wahrheit.

„Annika und Felix sind Freunde von Philip. Sie haben uns eingeladen, und ich habe gemerkt, dass Felix das Trauma des Unfalls noch nicht überwunden hatte. Deshalb habe ich angefangen, mit ihm zu sprechen. Es hat ihm gut getan, also bin ich geblieben!"
„Und Philip hatte nichts dagegen?" fragte Birgit verwundert.

Fabienne sah sie an. „Nein! Natürlich nicht! Zum einen ist er Arzt und versteht, dass man manchmal helfen muss, wenn man es kann. Zum zweiten ist er der Meinung, dass ich ein selbstständiger Mensch bin, auch wenn ich ihn liebe und er mich liebt!"
Birgit lächelte glücklich. Dieser Philip schien wirklich der Richtige für ihr Mädchen zu sein!

Die Eltern wurden müde, zogen sich in ihre unfassbar luxuriöse Suite zurück.
Fabienne und Bernard spazierten durch den riesigen Park.
„Willst du reden?" fragte sie ihn.

Sein Blick wurde dunkel, glitt in die Ferne. „Nein! Noch nicht! Irgendwann schaffe ich es vielleicht!"

„Du hast das alles für mich getan, Bernard! Du weißt, dass ich mein Leben lang für dich da sein werde, oder?" fragte sie.

„Ja!" antwortete er. „Die Adjani-Geschwister! Zwei Menschen und doch eins!" Das war immer ihre gemeinsame Kampfansage gegen alle Ungerechtigkeiten gewesen.

„Annika ist echt fantastisch! Hat sie echt dafür gesorgt, dass Dr. Gaspard sein Fett wegbekommt und Dr. Houdin seine Belohnung!" Er war noch immer hin und weg von dem Bericht der schönen jungen Frau, die sich gegen die Ungerechtigkeiten gewehrt hatte, die einem wildfremden jungen Mann widerfahren waren.

Sie hätte jeden Tag shoppen, sich in Schönheitssalons aufhalten, sich mit Freundinnen treffen können.
Aber sie hatte statt dessen mit dem Maire von Paris telefoniert, um die Welt etwas gerechter zu machen.
Eine Welt, die so gar nicht ihre war.

Oder doch? Für Madame Vanderberg schien es nur eine einzige Welt zu geben, und die musste für alle funktionieren!

Fabienne erzählte ihm von dem Engagement, das bewirkt hatte, dass Alayas Familie nach Saint-Tropez kommen konnte. „Sie passen aber beide perfekt zusammen! Sie sind sich vollkommen einig über die soziale Verantwortung der Reichen!"

Bernard hatte nicht gedacht, dass es solche Menschen geben konnte. Wie weit entfernt war doch da die Welt in den Banlieues, der einzigen, die er kennen gelernt hatte.
Außer der Welt des Gefängnisses.

„Es war die Hölle!" begann er zu reden, ohne sich darüber bewusst zu sein. „Schon am ersten Tag haben sie mich zusammengeschlagen. Die Wärter haben in die andere Richtung gesehen, haben so getan, als würden sie nichts bemerken. Ständig bin ich über irgendwelche Beine gestolpert, ständig habe mich Ellbogen getroffen. Dann ging es los mit den Vergewaltigungen. Zwei haben mich festgehalten, das dritte Tier ist in mich eingedrungen. Ich habe vor Schmerzen gebrüllt, aber niemand schien etwas zu hören. Sie haben gesagt, ich könnte mich freikaufen, aber womit hätte ich das tun sollen? 

Einmal pro Woche war ich dran, die Zeit dazwischen haben sie mir gelassen, damit alles ein wenig heilen konnte. Ich habe danach immer die ganze Nacht gekotzt, mein Zellennachbar hat mich verprügelt deswegen. Ich habe ihn immer mehr provoziert, habe gehofft, er würde mich irgendwann todschlagen! Aber er hat immer rechtzeitig aufgehört. 

Mein Leben hat nur aus Ekel und Schmerzen bestanden. Für die Franzosen war ich der Algerier, für die Algerier der Franzose! Alle hatten nur ein Ziel: mich fertig zu machen! Ich habe keine Ahnung, Fabienne, wie ich die zwei Jahre überlebt habe! Aber ich weiß, ein drittes hätte ich nicht geschafft!" 

Die Tränen liefen über sein Gesicht, er konnte sie nicht zurückhalten.

„Ich habe immer wieder gedacht: Was habe ich denn falsch gemacht? Ich wollte doch nur studieren, einen guten Job finden, leben! Wofür werde ich denn so bestraft?"

Fabienne nahm ihn in die Arme. Ihre Tränen mischten sich mit seinen.
„Das alles war nicht wirklich, Bernard! Das war nur ein böser Traum, verstehst du? Du bist zur Uni gegangen, und dann haben wir dich hierher geholt! Diese zwei Jahre hat es nie gegeben! Du wirst hier oder in Deutschland weiterstudieren! Du musst daran glauben, dass alles nicht real gewesen war!"

Bernard sah sie unsicher an. „Du meinst, dass ich das alles vergessen kann?"
„Ja!" antwortete sie. „Und ich werde dir dabei helfen! Ich kann das! Ich bin gut darin!"
Und zum ersten Mal seit zwei Jahren lächelte Bernard. „Na gut, Schwester! Dann will ich dir mal glauben!"

Dann legten sich die Geschwister auf die Liegen am Pool, hielten sich an den Händen, schliefen erschöpft ein.

Annika und Felix lagen erfüllt nach einer heißen Liebesrunde engumschlungen nebeneinander.
„Du wirst immer besser!" merkte sie in ihrer trockenen, offenen Art an, die ihm schon manchen Lachanfall beschert hatte – so auch heute.
„Na – das hört ein Mann doch immer wieder gern!" japste er.
Er erinnerte sich, als sie ihm das erste Kompliment für seine Qualitäten im Bett gemacht hatte.

Sie war neben ihm aufgewacht, hatte ihn angestrahlt. Sein Herz lief vor Liebe fast über.
„Du siehst noch schöner aus als gestern!" hatte er geflüstert.
„Das liegt am guten Sex!" hatte sie gesagt.

Er hatte erst geschluckt, dann gegrinst, dann laut gelacht. Sie war so wunderbar erfrischend.
„Dann gefällt dir, was ich mit dir mache?" hatte er zum ersten Mal im Leben eine Frau gefragt.

Sie hatte ihn mit ihren riesengroßen Bernsteinaugen verwundert angesehen.

„Das wird dir wohl schon mehr als eine gesagt haben, dass du ein fantastischer Liebhaber bist!"
Nein, eigentlich nicht! hatte er gedacht. Darüber habe ich mich bisher noch mit keiner unterhalten!
„Wichtig ist nur, dass du zufrieden mit mir bist!" hatte er ausweichend geantwortet.

„Zufrieden? Ja, so könnte man das ausdrücken!" hatte sie gemeint.

„Das hast du damals auch gerne gehört, oder?" zog sie ihn heute auf.
„Von dir schon, ja!" gab er zu.
„Das erste Mal warst du aber ziemlich geschockt!" Sie lachte leise.
„Nein, nicht geschockt! Angenehm überrascht!" widersprach er.

„Ich hab dir ein paar Mal so Dinger hin gehaut, bei denen du erst einmal tief durchatmen musstest!" erinnerte sie sich.
„Na ja! Ich war es nicht gewohnt, alles im Bett so offen auszusprechen! Aber ich habe schnell gelernt, oder, Baby?"

„Als du das erste Mal: Fuck! Das war geil! gesagt hast, bist du fast daran erstickt!"
Er zog sie auf sich. „Dafür habe ich dich mit anderen Stellungen durcheinander gebracht!"

„Eigentlich nur einmal! Als du mich auf meine Knie gezogen hast, und ich dachte, du willst, du willst....!" Das konnte nicht einmal sie jetzt aussprechen.

Plötzlich wurde ihm klar, nach alle der Zeit, dass sie befürchtet hatte, er wollte Analverkehr!
„O Gott, Süße! Da verstehe ich jetzt, dass du so erschrocken bist!"

„Aber ab da wusste ich, dass ich dir vertrauen kann. Dass du nichts machen würdest, was mir unangenehm ist!" Es kam ihr seltsam vor, dass das alles heute so hoch kam. All diese Erinnerungen!
Aber es war wohl so, dass die schlimmen verblasst waren, und nun Platz war für die schönen.

„Und du hast nie etwas mir zuliebe gemacht, oder? Das hätte ich schon gemerkt, nicht wahr, Baby?" fragte er.

„Ganz sicher!" bestätigte sie ihm.
„Und was gefällt dir ganz besonders?" wollte er wissen, wenn sie schon bei diesem Thema waren.
„Keine Ahnung! Ich kann mich nicht erinnern!" erklärte sie grinsend.
„So so! Madame kann sich nicht erinnern! Na, dann muss ich mal das ganze Programm abspulen und dich dann nochmal fragen."

„Eine sehr gute Idee, Monsieur Vanderberg!" stimmte sie zu. „Aber nur, wenn du Lust darauf hast!"

Sie sah an ihm hinunter. „Du hast!"
Er fühlte mit seinen zärtlichen Fingern nach. „Du auch!"
Dann gab es eine Weile lang keine sehr sinnvollen Sätze mehr, aber ein paar sehr sinnliche!

„Und?" fragte er schließlich.
„Was und?" So ganz klar war ihr Kopf noch nicht.
„Was gefällt dir jetzt am besten?" Er spielte den Genervten gut.

„Oh! Jetzt habe ich nicht aufgepasst!" gestand sie ein.
„Nein! Diese Frau!" stöhnte er, rollte dann lachend mit ihr durchs Bett, wie schon so oft in der Vergangenheit.

Sie tauchten erst kurz vor dem Abendessen wieder auf, entschuldigten sich bei den Gästen.
„Sorry! Wir waren echt groggy!"
Fabienne unterdrückte ein Grinsen. Geschlafen hatten die beiden sicher keine Minute!

Am Abend saßen sie im Wohnraum zusammen. Felix fragte Bernard, ob er sich schon Gedanken über seine Zukunft gemacht hatte.
„Ja, ich würde schon gerne weiter studieren! Aber ich weiß nicht, welche Pläne meine Eltern haben! Vielleicht sollte ich mir ja einen Job suchen, um sie zu unterstützen!" antwortete der offen.
„Du musst jetzt in erster Linie an dich denken!" machte Felix ihm klar. „Alles andere lass unsere Sorge sein, Philips und meine!"

Bernard schüttelte den Kopf. „Aber ihr kennt uns doch gar nicht! Warum tut ihr das alles für uns?"
„Wir kennen Fabienne! Das genügt! Sie hat uns beiden, Annika und mir sehr geholfen, unsere Vergangenheit zu bewältigen!"

„Ich denke, ich sollte versuchen, in Regensburg einen Studienplatz zu bekommen. Fabienne will mir helfen, mit meiner Vergangenheit, also mit den letzten beiden Jahren, klar zu kommen!" Bernards Blick glitt ab.

„Sie ist sehr gut darin, einen die Vergangenheit vergessen zu lassen!" bestärkte Felix Fabiennes Bruder.
Der tauchte wieder auf, seine Augen klärten sich. Es war vorbei! Er war in Sicherheit! Heute würden sie ihn nicht holen! Heute wäre wieder der Tag!

„Musstet ihr auch vergessen?" fragte er verwundert. Die beiden waren doch das personifizierte Glück!
„Ja! Vor allem ich! Aber kein Unrecht, dass ich aushalten musste, sondern Unrecht, das ich ihr angetan habe!" Mehr wollte er im Augenblick nicht darüber erzählen. Er setzte sich zu den Eltern.

„Habt ihr schon überlegt, wo ihr leben wollt?" fragte er.

„Schön wäre es schon, in der Nähe der Kinder zu sein!" erklärte die Mutter.
„Aber ich muss da halt einen Job finden!" wandte der Vater ein.

„Mach dir keine Sorgen darüber! Philips Mutter hat schon Pläne gemacht, falls ihr euch für Deutschland entscheidet. Wir denken, ihr wärt da auch sicherer. Zu mir können sie leichter Bernards Spur verfolgen!"

Er rief nach Julio. „Du könntest uns eigentlich eine Konferenzschaltung aufbauen! Im Büro. Wenn Philip zu Hause ist, lass dir die Nummer seiner Eltern geben. Ruf uns dann!"

Der Sicherheitschef, Computerfreak und Freund brauchte zehn Minuten, dann rief er alle zu sich.
Zuerst mussten natürlich Philip und Fabienne ein wenig turteln, dann schossen sich Philip und Felix gegenseitig hinauf, dann bedankten sich ihre Eltern bei seinen, dann ging es wild durcheinander, weil die drei Schwestern Wind von der Sache bekommen hatten.

„Oh! Ist das Fabienne?"
„Mannomann! Die ist ja echt superhübsch!"
„Wo ist Annika?"
„Und das ist Felix? Wow, den würde ich auch nicht von der Bettkante schubsen!"
„Was für ein Body!"

„Annika ist aber total schön!"

„Und wer ist der andere hübsche Junge?"
„Und der große Kerl da im Hintergrund?"
„Hört auf! Die müssen uns ja für mannstoll halten!"
„Na, mit diesen Prachtexemplaren kann dein langweiliger Tom nicht mithalten!"

„Ruhe!" brüllte Philip schließlich. „Mama, sperr bitte die schnatternden Gänse ein!"

Felix und Annika hielten sich den Bauch vor Lachen. Fabienne schmachtete Philip an, hatte auf das Gequatsche gar nicht geachtet. Sie vermisste ihn so sehr!

Markus von Bergen scheuchte seine Töchter aus dem Zimmer. Dann konnte er endlich die Familie Adjani begrüßen.

Die Begrüßungen gingen eine Weile hin und her, ebenso wie die Dankesworte und deren Abwehr.
Schließlich erklärte Felix seinem Freund und seinen Eltern von den Plänen und der Entscheidung der Familie.



Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top