Kapitel 47

Nach einem Abendessen in gedrückter Stimmung wog er ab. Sollte er sich zurückziehen, um ihren Blicken zu entkommen, oder sollte er es auskämpfen? Heute, hier, gleich?

Er entschied sich für Letzteres. „Kommst du bitte mit in mein Büro?" bat er die Französin leise.
Sie sah ihn an, bewunderte ihn in diesem Moment wieder. Er ging der Konfrontation nicht aus dem Weg, stellte sich ihr mutig.

„Ja! Klar!" antwortete sie.
„Ihr habt über mein Verhalten rund um Annikas Geburtstage gesprochen, nicht wahr?" begann er.
Sie nickte nur, versuchte seinem Blick standzuhalten.

Sein Blick ging wieder in die Ferne.
„Dafür habe ich keine Entschuldigung, so gerne ich auch eine fände." begann er. „
Es war kurz vor ihrem 20. Geburtstag. Das Grauen würde sich zum ersten Mal jähren. Der Tag, der überglücklich begonnen und so grausam geendet hatte. Da brannte eine Sicherung durch in meinem Kopf, komplett und vollkommen. Ich suchte nach einer noch schlimmeren Strafe für mein Mädchen, weil sie das alles zerstört hatte und für mich, weil ich auch vollkommen falsch gehandelt hatte, was ich aber nur im Unterbewusstsein wahrnahm. Was wäre das Schlimmste, was mir passieren konnte, noch passieren konnte? Dass sie ein anderer Mann bekam, anfasste, liebkoste und und und!
Deshalb zwang ich Annika dazu. Und als sie zurück kam, bestrafte ich sie, weil sie es getan hatte. Weil sie mit einem anderen Mann geschlafen hatte. Und – weil sie zurückgekommen war!" Er wischte sich die Tränen aus den Augen.

„Beim ersten Mal habe ich mich sinnlos betrunken, bin im Stuhl eingeschlafen, habe in die Hose gepinkelt und mich vollgekotzt. So hat mich unsere damalige Haushälterin gefunden. Sie hat nach Julio geschrien und sofort das Haus verlassen, auf Nimmerwiedersehen. Ich hatte mich so gedemütigt, wie ein Mann sich demütigen kann, und ich habe es mit voller Absicht gemacht. Dafür musste ich Annika bestrafen, als sie zurückkam. Das war nicht so geplant gewesen, aber ich musste ihr etwas antun, was meine eigene Schmach auslöschte."

Sein Blick kehrte zu Fabienne zurück.
„Danach habe ich mich eine Woche in meinem Zimmer verbarrikadiert, wollte nur noch sterben. Doch Julio hat die Türe aufgebrochen, hat mich angebrüllt, was für ein gottverdammter Feigling ich wäre. Ich habe ihn wüst beschimpft, habe ihn bedroht, hab ihn hinausgeworfen.
Er hat sich vor mir aufgebaut und hat gelacht.

„Ich gehe, wann ich will!" brüllte er zurück. „Und glaubst du, dass ich vor einem weinerlichen Krüppel Angst habe, Chef? Du hast keine Ahnung, was an diesem Tag passiert ist. Er hatte schon öfter versucht, zur reden, aber ich habe ihn so niedergebügelt wie Annika. Damals hatte ich ein paar echt finstere Typen unter den Wachmännern, die hätten ihn auf ein Wort von mir aus dem Weg geräumt. Er wusste das. Und jedes Mal schwieg er! Aber er ging nicht! Wie Annika blieb er Jahr für Jahr!"

Fabienne wollte noch immer Abscheu empfinden, doch sie konnte es nicht. Er hatte sich vor ihr so nackt und angreifbar gemacht, hatte nichts zu beschönigen versucht, dass sie verstehen musste. Eine kranke Seele hatte damals um sich geschlagen. Wenn im Krankenhaus jemand richtig reagiert hätte damals, wenn sie ihm einen Therapeuten geschickt hätten, so lange er noch bettlägerig war, wenn nur ein Arzt das Trauma erkannt hätte, unter dem er litt, hätte alles nicht so eskalieren müssen.

Wenn einer mit Annika gesprochen hätte, wenn sie Bens Verbrechen jemandem hätte erzählen können, wären die beiden nicht durch die Hölle gegangen.

Und sie wurde in ihrem Lebensplan bestärkt. Solchen Traumatas würde sie entgegentreten.

Sie sollte Felix antworten.
Es war ihre Aufgabe, die richtigen Worte zu finden. Aber ihr Gehirn war leer. Oder vielmehr angefüllt mit Bildern.
Bildern der unsäglichen Qualen, die die Freundin hatte erleiden müssen. Aber auch er!
Felix!


Der smarte Geschäftsmann, Liebling der Frauen, geschätzter Partner der Männer, der sein Leben verloren hatte und doch gezwungen war, weiter zu leben.

Der seinen Stolz und seine Selbstachtung verloren hatte.
Und dieser absolute Tiefpunkt war erst der Anfang gewesen. Vier Jahre hatten beide weiter gelitten. Es war unbegreiflich für sie, wie zwei Menschen das hatten aushalten können.

War die Liebe, die sie einmal für einander empfunden hatten, so mächtig?
Es musste so sein!
Die Hoffnung, das zurückzubekommen, was sie gehabt hatten, war nie ganz gestorben, hatte sie am Leben erhalten.

Nein, es war für beide nicht von Bedeutung, dass sie mit Philip geschlafen hatte. Genau so wenig, wie, dass sie im Bett mit vier anderen Männern vor ihm gewesen war.
Für die beiden zählte nur, dass sie sich wieder gefunden hatten.
Deshalb war es auch so schnell gegangen.
Weil sie fünf Jahre darauf gewartet hatten.

Annika machte ihm keine Vorwürfe, würde ihm nie welche machen, das wusste sie.
Und dass auch er mit seiner Schuld leben konnte, dafür musste sie sorgen.
Sie lächelte ihn an. „Ich verstehe dich! Jetzt verstehe ich dich! Und Annika tut das schon lange!"

Sie hielten sich im Arm, vergossen gemeinsame Tränen. Er fühlte sich wie von einer tonnenschweren Last befreit.
Das war heute der schlimmste Tag gewesen.
Er hatte sich der dunkelsten aller Erinnerungen gestellt.
Und Fabienne hatte verstehen können. Sie würde den Weg des Heilungsprozesses mit ihm weitergehen, bis zum Ende.

Als sie zu Annika zurückgingen, sahen beide erleichtert aus. Sie nahm ihn in die Arme, hielt ihn einfach nur fest.

„Philip hat schon ein paar Mal versucht, dich anzuskypen!" informierte sie Fabienne.
„Dann geh ich mal in mein Zimmer. Kann ich mir ein Glas Wein mitnehmen?" fragte Fabienne.
Annika sah sie grinsend an. „Nein!" sagte sie.
Da wurde Fabienne bewusst, wie blöd ihre Frage gewesen war. „Dann nehme ich die ganze Flasche!" erklärte sie. Sie küsste Felix und Annika auf die Wangen und verzog sich.

Philip freute sich wahnsinnig, als sein Mädchen sich meldete. Er war zwar schon fast eingeschlafen, aber sofort hellwach.

Sie erzählte ohne Punkt und Komma von den heutigen Gesprächen. Er hörte gebannt zu, machte sich aber auch ein paar Sorgen um sein Mädchen.

„Süße! Wenn es dir zu viel wird, brichst du ab, ja?" bat er sie.
„Ach ja? Und wenn du mitten unter einer Operation keine Lust mehr hast, nähst du einfach zu, oder?" hielt sie dagegen.
Er lachte. Sie hatte ja recht! Dann erzählte er ihr vom Interesse seines Chefs an ihrer Idee. „Er hat mich mehr oder weniger gebeten, dass du ein Praktikum bei uns machst!"

Sie klatschte vor Freude in die Hände. „Heute habe ich erst aus dem Netz erfahren, dass ihr in Deutschland so viele Praktika verlangt! Das wäre ja supertoll!"

Sie verabschiedeten sich liebevoll, aber ohne Anzüglichkeiten. Seine letzte Nacht war sehr kurz gewesen nach ihrem Chat.


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