Kapitel 44

Am Nachmittag forderte ihn Fabienne zu einer neuen Therapiestunde auf. Dieses Mal wechselte sie die Vorgehensweise, wurde noch brutaler.
„Erzähle, was du gefühlt hast, als du sie zum ersten Mal geschlagen hast!"

Nein! Das nicht! Das wollte er nicht!
Doch ihm war klar, dass sie wusste, was sie tat!

Er atmete tief ein, sah das Bild vor Augen.
„Sie hatte nach meiner Hand gegriffen, wollte mich erreichen, wollte Nähe, wollte uns wieder finden! Ich habe mich losgerissen und im Reflex mit der Faust in ihr Gesicht geschlagen. Blut schoss aus ihrer Nase! Sie hat mich ungläubig angesehen. Ich habe mich einen Moment lang gut gefühlt, im Recht gefühlt! Sie war schuld an meinem Zustand, an meinem Aussehen! Sie sollte so hässlich werden, wie ich es war! Ich wollte Rache! Ich wollte ihre verdammte Schönheit zerstören!

Doch da war der Blick aus ihren wunderschönen Augen! Ich wollte noch einmal zuschlagen, damit sie aufhörte, mich so anzusehen! Es war wie ein Rausch in mir! Ich wollte dieses Gesicht zerstören, wie sie meines zerstört hatte. Ich holte wieder aus, aber die Erinnerung daran, wie meine Hand sie getroffen hatte, ließ Übelkeit in mir hochsteigen! Ich bin in mein Badezimmer gerollt und habe die halbe Nacht gekotzt. Die andere Hälfte habe ich versucht, ihren Blick zu vergessen! Ich habe einen Tag und eine Nacht mein Zimmer nicht verlassen! Dann war ich wütend! Aber nicht auf mich, sondern auf sie, weil sie mich so weit gebracht hatte, eine Frau zu schlagen!"

„Wie hat sich der Schlag angefühlt?" bohrte Fabienne weiter.
Er atmete schwer, versuchte sich zu erinnern, obwohl er nichts weniger wollte.

„Schlimm! Fürchterlich! Meine Hand hatte sie so oft liebkost! Und jetzt schlug sie hart auf! Ja, diese Härte fühle ich noch heute! Meine Finger hatten ihre Haut zärtlich gestreichelt, das war immer schön gewesen! Aber das wollte ich nicht mehr! Ich wollte diese Härte! Ich spürte die Knochen unter ihrer Haut bei diesem harten Schlag! Ich spüre sie noch heute!" Die Tränen liefen wieder.
„Aber ich habe auch gehofft, dass die Brutalität sie vertreiben würde! Und ich hatte Panik, dass genau das geschehen würde. Sie musste weg von dem Krüppel mit dem entstellten Gesicht, aber sie durfte es nicht!"

Fabienne sah ihn ernst an. „Schlag mich!" forderte sie.
Er sah sie an, als wäre sie ein Geist. „Was?"
„Schlag mich! Versuche es!"
„Nein! Niemals! Ich kann nie wieder einen Menschen schlagen! Schon gar nicht eine Frau!" wehrte er ab.

„Warum?" bohrte sie weiter.

„Weil das ein fürchterliches Gefühl ist! Weil es nichts Schlimmeres gibt, als wenn meine Hand auf einen Knochen trifft! Weil es ekelerregend ist!" antwortete er,
„Und doch hast du es immer wieder getan!" forderte sie ihn heraus.
„Weil sie nicht gegangen ist! Sie hätte weglaufen sollen! Sie war nicht abhängig von mir! Sie hatte keinen Grund, bei einem gewalttätigen, entstellten Krüppel zu bleiben!"

„Also war sie schuld?" provozierte sie ihn. „Die wunderschöne Frau, die du über alles geliebt hattest, war schuld, dass du ausgerastet bist?"
„Nein! Natürlich nicht!" Er kämpfte um einen Rest an Beherrschung. „Sie war vielleicht schuld an meiner Wut, meiner Verzweiflung!"

„Hast du sie gehasst?" wechselte sie ein wenig die Richtung.

„Ja! Nein! Ja! Wenn ich sie geschlagen habe, habe ich sie gehasst! Also, danach! Weil sie mich so weit gebracht hatte! Dann habe ich sie wieder verzweifelt geliebt! Dann wollte ich zu ihr, sie um Verzeihung bitten! Dann hatte ich Angst, dass ich ihre Liebe zerstört habe! Dass sie nur aus Mitleid noch immer bei mir war!" Er merkte selbst, wie wirr seine Worte waren. Er dachte nach.

„Nein! Ich glaube, ich habe sie nie gehasst!"

„Ist es dir nach dieser ersten Ohrfeige immer leichter gefallen, sie zu schlagen?" fuhr Fabienne fort.

„Nein! Ganz und gar nicht! Es ist ja nicht so, dass ich sie täglich geohrfeigt habe! Es waren Monate dazwischen, in denen ich mich im Griff hatte. Jedes Mal habe ich gedacht, ich hätte es geschafft! Aber dann kam ein nichtiger Auslöser, ein Traum, eine Erinnerung, ein bestimmtes Kleid, das sie trug. Ich wollte diesen Schmerz in mir betäuben! Dann schlug ich zu, und die Wut half, kurzfristig!"

„Du nennst sie nie beim Namen! Du sagst immer nur: Sie!" stellte Fabienne fest. „Sag mal: Ich habe Annika geschlagen!"

Er schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht! Ich habe auch nie ihren Namen gedacht! Sie war sie, eine neutrale Person! Nicht meine geliebte Frau!"

„Hast du während dieser Zeit getrunken? Oder Medikamente genommen?" Sie merkte, dass er an seine Grenzen für heute angekommen war.
„Nein! Nie! Das war mir schon klar, dass ich den Rest der Kontrolle verlieren würde, wenn ich das täte. Dann hätte ich sie sofort wegbringen lassen müssen!"

Sie nahm ihr Handy. „Ich habe dieses Gespräch heute aufgenommen. Also nur den Ton. Wenn ich es dir vorher gesagt hätte, hättest du dich nicht so geöffnet. Ich würde es gerne Annika vorspielen. Aber du hast jedes Recht, nein zu sagen! Jedes!" betonte sie.

Ohne nachzudenken antwortete er: „Nein! Das ist vollkommen okay!"
„Gut! Und ich mache das auch nie wieder! Du brauchst dich also bei der nächsten Sitzung nicht zurückzunehmen!" versprach sie.
„Wir spielen jetzt die Szene durch, ohne dass du sie ohrfeigst."
Sie griff nach seiner Hand, er sah sie böse an.
„Lass uns reden, Felix!" bat sie.
„Worüber sollen wir noch reden? Du bist schuld, dass ich so aussehe und in diesem Stuhl sitze!"

„Nein! Ich bin nicht schuld! Ben hat mir das Koks in den Mund geschoben, Julio hat es gesehen!"
„Wirklich? O mein Gott! Julio, komm bitte!"

„So einfach wäre es gewesen!" fasste Fabienne zusammen.

Dann bat sie ihn, Annika zu schicken, sah ihm zu, wie er dem Haus entgegentaumelte. Er tat ihr leid, wahnsinnig leid, und sie fühlte sich selbst ausgelaugt. Aber sie war sicher, dass sie helfen konnte.

Felix ließ sich wieder auf die Liege fallen, fühlte sich aber nicht ganz so fertig wie noch gestern.

Annika hörte sich den Teil an, als er gefragt worden war, ob er sie gehasst hatte.
„Hast du dich gehasst gefühlt?" fragte Fabienne.

„Nein! Bestraft! Ich habe mich bestraft gefühlt!" antwortete Annika. „Ich war schuld, weil ich nichts gesagt habe! Weil ich nicht gewusst habe, was das Koks anrichtet!"

Fabienne sah sie erstaunt an. „Du hast dich schuldig gefühlt, weil du keine Erfahrung mit Koks hattest?"
„Ja! Irgendwie schon! Ich war so jung und dumm! Alle hatten das Zeug sicher schon einmal ausprobiert! Also, so dachte ich damals!"

„Und bei der ersten Ohrfeige? Wie hast du das empfunden?" bohrte Fabienne weiter.
„Ich habe das als Strafe hingenommen! Der verwundete Blick in seinem Gesicht musste verschwinden! Dafür hätte ich alles in Kauf genommen!"
„Du hast gedacht, wenn du alles klaglos hinnimmst, geht es ihm besser?" Ihre Gedankengänge waren ja noch verquerer als seine!
„Ich war 19! Ein behütetes Mädchen! Eine sehr junge Ehefrau! Und ich hatte einen Fehler gemacht!" verteidigte sich Annika.

„Und würdest du heute wieder so handeln?"

„Für Felix? Vielleicht!" gestand sie ein. „Aber es wird nie wieder so weit kommen!"

Nach einer halben Stunde gingen die beiden zu den Männern zurück.

Am Abend blieben sie zu Hause. Die Stimmung war heiter, losgelöst, jung. Sie tanzten zur Musik aus dem Radio, sahen sich sogar eine Quizshow im Fernsehen an.
„Jetzt sind die Spießer komplett!" kommentierte Philip, ließ sich aber dann doch von Ratefieber anstecken.
Als Fabienne vorschlug, Scharade zu spielen, verzog Felix zuerst ein wenig das Gesicht, hatte aber dann doch Spaß daran. In seinem Elternhaus hatte es keine Gesellschaftsspiele gegeben, er kannte das nur vom Hörensagen.

Um Mitternacht lagen sie dann alle in den Betten, doch mit dem Schlafen ließen sich beide Paare noch Zeit.

Die letzten beiden Tage vergingen wie im Flug.
„Werdet ihr zu einem Therapeuten gehen?" fragte Fabienne kurz vor der Abreise. Felix wich ihrem Blick aus. „Wir werden sehen!" antwortete er.

Sie zog ihn von den beiden weg. „Wenn ihr jetzt nicht weitermacht, hätten wir uns das sparen können!" erklärte sie ernst.

„Aber ich glaube nicht, dass ich mich jemand anderem so öffnen kann wie dir!" stieß er hervor. Es erschien ihm unmöglich, einem Fremden seine Geschichte zu erzählen. Noch dazu er, in seiner Position! Das hatte nur bei einer Freundin, einer Vertrauten funktioniert.
„Und..... und wenn du bleiben würdest?" fragte er vorsichtig.

Fabienne hatte selbst auch schon daran gedacht. Natürlich war sie Philips Freundin! Natürlich sollte sie mit ihm zurückfliegen! Aber sie hatte das Gefühl, einen Patienten in Stich zu lassen, oder besser gesagt, zwei.

Annika führte mit Philip eine ganz ähnliche Unterhaltung. „Er wird nicht zu einem fremden Therapeuten gehen!" vermutete sie. Sie sah den Freund offen an.
„Sie könnte nicht hierbleiben?" wagte sie dann zu fragen.

„Puh!" antwortete er. „Wie lange?"
„Ich denke, zwei Wochen schon!"

Philip erstarrte. Zwei Wochen ohne sein Mädchen? Never!
Doch dann erinnerte er sich, dass er Arzt war, dass Fabienne Ärztin werden würde.

Dass sie beide Verpflichtungen hatten, Menschen gegenüber! Es würde immer wieder Zeiten geben, in denen ihr Beruf sie trennen würde. Aber das war ja nicht schlimm! Sie wussten ja, dass sie sich immer wieder zurückbekommen würden.

„Das muss sie selber entscheiden!" sagte er schließlich.
Als Fabienne mit Felix zurückkam, sah er an ihrem Blick, dass sie sich schon entschieden hatte.

Er lächelte sie an, wollte es ihr leichter machen.
„Ich werde noch zwei Wochen hier bleiben! Es muss sein!" sagte sie.

Sie fragte nicht, ob es ihm recht sei - und dafür liebte er sie noch mehr! Sie war nicht sein Eigentum, er hatte nicht über sie zu bestimmen.
Sie war eine selbstständige Frau, die ihren Weg kannte und ihn gehen würde, auch wenn sie erst 20 war. Sie hatte für diesen Weg gekämpft und bezahlt.
Sie liebte ihn, sie würde ihn vermissen, da war er sicher. Aber sie würde nicht Menschen in Stich lassen, die auf sie und ihre Fähigkeiten angewiesen waren!

„Natürlich!" antwortete er nur und küsste sie zum Abschied.
Es war ein Abschied, der ihn glücklicher denn je machte.
Denn wenn sie sich wieder sahen, hatte sie zwei Menschen geholfen, die ihm sehr nahe standen.
„Ich bin stolz auf dich!" flüsterte er in ihr Ohr. „Und was sind schon zwei Wochen gegen ein ganzes Leben!" Das war ein Versprechen, und sie verstand es auch so.

„Ich hoffe, das wird jetzt nicht zur Gewohnheit bei dir, dass du mir ein Mädchen klaust!" sagte er zu Felix und knallte ihm die Hand etwas fester als sonst auf die Schulter.

Der lachte laut. „Ich glaube nicht, dass es da noch mal eine zum Klauen geben wird!"

Philip grinste ihn an. „Da könntest du recht haben, alter Mann!"

Er umarmte Annika. „Aber in 14 Tagen gebt ihr sie mir zurück! Versprochen?"
„Versprochen! Und danke für alles!" gab sie zurück.
Er hob die Hände abwehrend. „Bei mir brauchst du dich nicht zu bedanken!"
„Doch!" sagte sie leise und trat zu Felix.
Der legte einen Arm um seine Frau, den anderen um seine Freundin.
Philip stieg zu Marcel in den Wagen und ließ sich zum Flugplatz bringen.

Er war froh, dass die Freunde und auch Fabienne nicht mitkamen. Er hasste Abschiede!


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