Kapitel 30
Annika erwartete auch eine Überraschung, als sie engumschlungen das Schlafzimmer betraten.
An der Wand hatten seit der Hochzeit zwei Bilder gehangen: Eines von der standesamtlichen Trauung, eines von der kirchlichen.
Keine professionellen Aufnahme, sondern Schnappschüsse, die Patrick gemacht hatte, die das vollkommene Glück der beiden eingefangen hatten.
Er hatte sie rahmen lassen und ihnen geschickt. Felix hatte sie überglücklich aufgehängt, hatte sich dabei einen blauen Daumennagel geschlagen. Er hatte viele Begabungen, Handwerken gehörte nicht dazu!
Nun hing unter den beiden alten Bildern ein neues, das sie im Pavillon bei der Erneuerung ihres Ja-Wortes zeigte. Dieses Mal hatte Julio den innigen Augenblick festgehalten, das Bild schnell ausgedruckt, gerahmt und aufgehängt.
Sie stand vor den Aufnahmen, Felix hielt sie vor sich in den Armen, sein Kinn lag auf ihrem Scheitel. Sie deutete auf die Wand.
„Gestern – gestern – heute!" sagte sie leise. „Und nichts dazwischen, das zählt!"
Felix atmete tief ein. Nein! Er wollte nicht schon wieder heulen.
„Danke, Nicki!" flüsterte er nur.
In dieser Nacht hielten sie sich nur im Arm. Sie waren erschöpft, emotional und körperlich. Aber nie waren sie glücklicher gewesen.
Am nächsten Tag nahm Annika ihre Familie mit an ihren neuen Arbeitsplatz. Die drei staunten nicht schlecht, wie gewandt sich ihr kleines Mädchen in der Welt eines Großunternehmens bewegte. Die Menschen grüßten sie ehrfürchtig, vom Portier bis zum Vorstandsvorsitzenden Rafael. Sie schenkte ihr Lächeln allen und bekam es tausendfach zurück.
Sie hatte Felix die Quittungen ihres letzten Raubzuges durch die Geschäfte abgeluchst, eröffnete ein Konto für die Sozialabteilung, überwies die Summe vom Firmenkonto, schickte ihm eine Textnachricht darüber. Er schickte einen Smiley und drei Herzen zurück.
Es war also okay, was sie gemacht hatte. Zum Mittagessen gingen sie alle in die Kantine. Die Mitarbeiter sahen sie etwas seltsam an, freuten sich aber dann darüber, dass die junge Frau des Chefs die Nähe zu ihnen suchte.
Annika wusste schon, dass Geschäftsleitung und Führungskräfte normaler Weise im Kasino speisten, aber sie wollte heute einmal eine von denen sein, die den Erfolg des Unternehmens ausmachten.
Anfangs verstummten die Gespräche noch, wenn man sie erkannte, aber bald ging das fröhliche Geplauder weiter. Den Leuten schien es hier gut zu gehen. Sie sah nur zufriedene Gesichter. Auch das Essen schmeckte überraschend gut, war ausgewogen, es gab sowohl vegane als auch vegetarische Gerichte und Halal für die Mohammedaner.
Das Bedienungspersonal war zuvorkommend allen gegenüber, wie sie wahrnehmen konnte.
Und vor allem: Das Essen war kostenlos für die Beschäftigten!
Sie war zufrieden mit dem, was sie erlebt hatte, hier gab es keine Notwendigkeit für eine Verbesserung.
Danach besuchten sie die firmeneigene Kita, in der der Nachwuchs im Alter von einem bis zu fünf Jahren betreut wurden.
Ein Jahr lang nach einer Geburt zahlte der Konzern das volle Gehalt eines Elternteiles weiter, wie sie erfuhr. Sie staunte nicht schlecht! Felix war ja noch sozialer eingestellt als sie!
Die Leiterin erzählte ihr: „Das hat ihr Mann eingeführt. Sein Vater hat sich wohl im Grab umgedreht. Der war ganz anders! Bei dem zählte immer nur Geld, Umsatz, Aktienkurse! Ben wollte wieder all die Sozialleistungen zurücknehmen, ist aber an den anderen Vorstandsmitgliedern gescheitert! Wir sind alle sehr froh, dass wir ihn los sind.
Hoffentlich kann Ihr Mann bald wieder zurückkommen! Wir haben ihn sehr vermisst in den letzten Jahren!"
„Ich denke, in ein, zwei Wochen ist er soweit! Er arbeitet hart an sich, hat einen Personaltrainer, die Lähmung ist praktisch verschwunden!" informierte sie die Erzieherin.
Als sie wieder in der Villa waren, baute sie sich vor Felix auf, stemmte die Hände in die Hüften.
Er lachte sich halb kaputt über die drohende Haltung der kleinen Schönheit!
„Du bist ein ganz falscher Fuffziger!" haute sie ihm um die Ohren.
Er konnte nicht anders, er musste sie in die Arme nehmen und küssen. Sie sah zu drollig aus.
„Was habe ich denn angestellt?" fragte er schließlich.
„Du nennst mich eine Sozialistin, tust so, als müsste ich einen Kampf gegen unternehmerische Ausbeutung führen, richtest mir eine Sozialabteilung ein! Dabei bist du sozialistischer als ich, und ich habe gar nichts mehr zu tun!" schimpfte sie.
Zerknirscht sah er sie an. „Oh! Hat die Kleine gedacht, sie müsste den bösen Felix bekehren, der seine Arbeiter bei Wasser und Brot gefangen hält?"
„So ungefähr, ja!" gab sie zu. In dem glücklichen Jahr damals hatte sie sich nicht um seine Arbeit gekümmert, er hatte ja auch nicht viel gearbeitet. Sie waren zu beschäftigt mich sich selbst und all den Events und Reisen gewesen. Sie hatten das Leben in einer Art von Glücksrausch verbracht.
Er hob sie hoch auf seine Hüften. „Ich habe ja auch nicht gemeint, dass du unsere Unternehmen sozial reformieren sollst, sondern, dass du Gelder nimmst, um außerhalb etwas zum Guten zu verändern! Da, wo du Missstände siehst, sollst du helfen können. Ob einer Person oder einer Organisation, entscheidest du. Ich habe immer ziemlich wahllos nach dem Gießkannenprinzip gespendet, aber ich möchte, dass das gezielter abläuft, Madame Vanderberg! Wenn dann die Presse hin und wieder etwas davon erfährt, habe ich nichts dagegen!"
Sie legte den Kopf schief. „Aha! Tue Gutes und rede drüber?"
„Natürlich! Besser als: Tue nichts und rede darüber, als ob du etwas tätest! So findest du vielleicht Nachahmer!"
Und zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass er geistig doch ein Stück älter war als sie, also im absoluten positiven Sinn! Reifer war als sie! Dass er vieles schon durchdacht hatte, als sie noch keine Gedanken an Probleme verschwendet hatte. Und vor allem: Dass er nicht nur ein verdammt kluger, sondern auch ein verdammt guter Kerl war!
„Wir sind ein gutes Team, glaube ich!" sagte sie leise und ein wenig demütig.
Er fand keine Worte darauf, wusste, sie erwartete auch keine.
Ja, sie waren ein verdammt gutes Team!
Damals hatten sie keine Zeit bekommen, das herauszufinden. Da war das Unglück mitten im höchsten Glück über sie hereingebrochen, hatte ihnen jede Gelegenheit genommen, vom Liebespaar zu Team zu werden:
Er, der lebenserfahrene Unternehmer und sie, das lebensfrohe, intelligente Mädchen, sie hätten die Welt aus den Angeln heben können, wenn Ben ihnen das nicht angetan hatte.
Und zum ersten Mal merkte er, dass er nicht mehr die ganze Schuld bei sich suchte, dass er sich nicht mehr zerfleischte, sondern, dass er die Schuld beim wirklich Schuldigen sah.
Er atmete auf.
Das tat gut, sich selbst nicht mehr so hassen zu müssen!
Und in diesem Moment der nächsten Nähe fühlten sie es beide: Gestern waren sie eigentlich richtig zu Mann und Frau geworden. In dieser intimen Atmosphäre im Pavillon bei Kerzenlicht und ihnen nahe stehenden Gästen.
Damals war es eher eine schöne Show für die Welt gewesen, aber gestern hatten sie für sich den Bund fürs Leben geschlossen.
„Es ist wunderbar, dass du meine Frau bist, Nicki!" sprach er ihrer beider Gedanken aus. Ihr Kopf lag an seiner Brust, und sie nickte nur.
Dann gingen sie Hand in Hand in den Park. Auf einer Bank legte sie ihren Kopf in seinen Schoß und erzählte von ihrem Tag. Er hörte aufmerksam zu, während er mit einer Strähne ihres Haares spielte. Sie waren sich so vertraut wie noch nie, und das war das schönste Gefühle für beide!
Er berichtete von seiner Jugend, seinen Eltern - etwas, wozu er sich in der losgelösten Zeit damals nie hatte aufraffen können.
„Meine Mutter war Französin, hatte sich nie wohl gefühlt in Berlin. Sie hat viel Zeit hier verbracht. Wir blieben zu Hause mit einem despotischen Vater und wechselnden Kindermädchen und Haushälterinnen. In der Schule und auch während des Studiums war ich immer der reiche Erbe, nie Felix. Dann hat mein Vater das Unternehmen hier übernommen, also geschluckt trifft es wohl besser. Ich habe in Deutschland fertig studiert, das war meine beste Zeit.
Ben ist mit hierhergezogen, er hat sich irgendwie durchs Studium gemogelt, hat eigentlich gar keinen richtigen Abschluss geschafft. Aber das war nicht wichtig. Hauptsache war, dass ich, der Firmenerbe, funktioniert habe. Wenn ich mal Zweitbester war, hat es Vorwürfe gehagelt.
Dann war ich fertig, wollte eigentlich in Berlin bleiben, aber das Werk hier war ziemlich runtergewirtschaftet, er hatte es regelrecht ausbluten lassen. Die Leute schlecht bezahlt, schlecht behandelt, so dass wir kaum noch Mitarbeiter gefunden haben. Vor zehn Jahren hat ihn dann der Herzinfarkt hingerafft, Berlin lief gut unter der Führung dort, also habe ich mich hier reingehängt und war auch relativ schnell erfolgreich."
„Und deine Mutter? Lebt sie noch?" fragte sie. Von seinem schweren Job als Unternehmer, der für so viele Menschen weltweit verantwortlich war, hatte er ihr bei ihrer ersten Unterhaltung damals im Café schon einiges erzählt, ganz offen, was sie ziemlich verwundert hatte. Aber über seine Familie hatten sie noch nie gesprochen.
Er lächelte etwas bitter. „O ja! Cher maman lebt noch sehr gut auf Guadeloupe! Sie wirft das Geld mit vollen Händen raus, schikaniert das einheimische Personal, hält sich schnell wechselnde Gigolos. Ich war einmal dort, wir sind uns gewaltig in die Haare gekommen, seitdem ist Funkstille. Ben war öfter da, sie ergänzen sich gut, beim Geld ausgeben und beim Leute schikanieren!"
Da hörten sie auch schon Philips brüllende Stimme. „Alter Mann! Wo steckst du? Willst du wieder zurück in deinen Rolli?"
Seufzend stand Felix auf. „Der Typ ist deine Rache an mir, gestehe!"
Verblüfft stellte sie fest, dass sie über das Geschehene scherzen konnten, über ihre Nacht in Regensburg wie auch über die schlimmen Jahre.
„Jeder, wie er es verdient!" antwortete sie lachend.
„Na! Da bin ich noch gut weggekommen, Süße!" Er küsste sie auf ihre Nase. Mehr wäre zu gefährlich gewesen. Zwischen seinen Beinen regte sich schon wieder etwas sehr Hartes.
Gut, dass wir beim Einkaufen die Sportklamotten wieder nicht geschafft haben! dachte er. Wahrscheinlich hat das Unterbewusstsein Einspruch dagegen erhoben.
Julio schien seinen Auftrag auch vergessen zu haben, warum auch immer!
Philip kam näher, suchte sie im Park, als er sie im Haus nirgends hatte finden können.
„Ach, da turteln sie rum! Das gibt fünf Kilo extra Gewicht heute!" drohte er, grinste dabei aber freundschaftlich.
Sich gegenseitig boxend liefen die beiden Männer zum Haus zurück.
Annika sah ihnen lächelnd nach.
Mann Nummer eins und Mann Nummer zwei! dachte sie.
Freunde!
Sie dachte wieder einmal an das Schicksal, was für seltsame Wege es doch ging.
Was wäre geschehen, wenn sie nicht Philip getroffen hätte, der ihr Herz berührt hatte?
Wenn es wieder nur irgendein Mann gewesen wäre, wie die Jahre davor, der ihr nichts bedeutet hätte?
Wäre sie noch ein Jahr in diesem Gefängnis geblieben, hätte sich quälen lassen?
Wäre sie an ihrem 25. Geburtstag wieder dorthin geflogen, wohin ER sie schickte, damit er seine sadistische Rache an ihr nehmen konnte?
Hätte sie noch jahrelang in Städten Männer aufgerissen für eine Nacht im Jahr, um sich selbst zu bestrafen?
Hätte ER irgendwann seine Mauer selbst eingerissen?
Hätte sie den Mut dazu gehabt, sie für ihn einzureißen?
Hätte sie ihm irgendwann die Wahrheit ins Gesicht geschrien, die ER nie hatte hören wollen?
Hätte Julio irgendwann einmal geredet?
Felix hatte gesagt, er hätte sie gehen lassen, wenn sie sich verliebt hätte!
Aber auf die Idee wäre sie in hundert Jahren nicht gekommen!
Zu böse war ER gewesen, als dass sie eine so menschliche Regung hätte erahnen können.
Aber sein Panzer war brüchig geworden im Lauf der fünf Jahre. Sein „Es tut mir leid" hatte sie das spüren lassen.
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