Kapitel 19

Zu Hause lag ein Menschen-Paket auf dem Boden. Felix wies die beiden Männer an, Ben auf das Sofa zu heben. Er wollte ihm in die Augen sehen.

„Warum?" fragte er nur.
„Warum?" äffte Ben ihn nach. „Weil ich mein Leben lang die Nummer zwei war, weil ich dir nie das Wasser reichen konnte! Du warst besser in der Schule, kamst bei den Mädchen besser an! 

Ich habe immer nur die abbekommen, die du durch hattest!

Du hast die Firma geleitet, ich war nicht einmal mehr gut genug als dein Stellvertreter.
Dann hast du dir auch doch dieses junge Ding da geschnappt!
Hätte doch gepasst, oder? Junge dumme Kokserin fährt Firmenerben in den Tod!" 

Er spuckte Gift und Galle, Speichel lief ihm übers Kinn.

„Gut, jetzt hätte ich eben abgewartet, bis du sie mal totschlägst! Dann hätte sich die Sache auch erledigt gehabt!"
Felix hob fragend die Augenbrauen. Er hatte nicht gewusst, dass sein Bruder Bescheid wusste über seine Handgreiflichkeiten. Sie hatten nie darüber gesprochen.
Ben grinste ihn an. „Ich habe so meine Informanten in deinem Haushalt! Alles nur eine Frage des Geldes! Und davon habe ich ja nun genug!"

„Wer?" fragte Felix.
„Deine dir so ergebene Haushälterin Maria! Ein sadistisches Weib, das sich einen großen Spaß daraus gemacht hat, dein Püppchen zu quälen! Die Ideen dazu stammten allerdings von mir!"

Annika dachte an die vielen ungenießbaren Gerichte, die Maria ihr serviert hatte. Felix hatte seltsamer Weise immer alles gegessen. Aber sie hatte Kaffee mit Salz, Suppe mit Zucker, Braten gespickt mit Peperoni, die sie nicht vertrug, bekommen. Die eine oder andere Darmgrippe hatte sicher auch den Ursprung bei dem bösen Weib genommen!
Ein paar Mal hatte sich auch heiße Flüssigkeit über sie ergossen, immer rein zufällig, begleitet von vielen hämisch vorgebrachten Entschuldigungen.

Als einmal der Haushälterin die Pfanne mit heißem Öl auskam und sie um Haaresbreite verfehlte, war es sogar Felix zu viel geworden, und er hatte sie böse zusammengestaucht.
Den Blick, den Maria ihr danach zuwarf, würde sie nie vergessen.
Und all das hatte Ben ausgeheckt?

Sie baute sich vor ihm auf und holte aus. Mit der Rückseite ihrer linken Hand schlug sie ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Der große Brillant ihres Verlobungsringes, den sie seit heute Morgen wieder trug, riss seine Wange auf.

Annika hatte noch nie einen Menschen geschlagen, und es hatte sich auch jetzt nicht richtig angefühlt, es zu tun. Aber es war ein reiner Reflex gewesen.

Ben wollte aufspringen, doch seine gefesselten Beine brachten ihn ins Stolpern, und er landete wieder auf dem Boden.

Felix rollte mit seinem Stuhl gefährlich nahe an den Bruder heran. Er war fassungslos. Gut, sie waren nie die besten Freunde gewesen. Ben war immer schon arrogant, verzogen, egoistisch gewesen, dazu auch nicht mit den besten geistigen Gaben ausgestattet, aber sie waren Brüder!

Er dachte nach. Der andere musste aus der Firmenleitung verschwinden, aus seinem Leben verschwinden. Aber einen öffentlichen Skandal mussten sie auf alle Fälle vermeiden. Der Aktienkurs hatte sich gerade wieder stabilisiert.

„Du wirst heute deinen sofortigen Rücktritt als leitender Geschäftsführer erklären. Deine Anteile wirst du zur Hälfte an mich und an Annika übertragen."
Damit hielten er und seine Frau die Mehrheit. Er wunderte sich selbst über sein wieder entflammtes Interesse am Geschäft. Fünf Jahre lang war ihm alles herzlich egal gewesen!

„An die Nutte? Niemals!" brüllte Ben.

Felix rollte etwas näher an ihn heran, berührte seine flach auf dem Boden liegende Hand.
„Okay! Hast du gehört, Annika? Er bittet darum, dir seine gesamten Anteile zu übertragen! Na, den Wunsch wollen wir ihm doch erfüllen, nicht wahr? Vielleicht ist es ja sein letzter!" Er überrollte die Hand seines Bruders, der vor Schmerzen schrie.

„Ja, brüll nur, du Kretin! Wie ich gebrüllt habe, nachdem Julio mich aus dem brennenden Auto gezogen hast, während du nur daneben gestanden warst und auf mich eingekeift hast!" Felix' Stimme war eiskalt.

Jahrelang hatte er seine Süße gequält, jahrelang hatte er als Tier gelebt, schlimmer als ein Tier, denn die verletzten keine Artgenossen, die zum Rudel gehörten!
Jahrelang hatte er unter seiner Hilflosigkeit gelitten, hatte aber auch nicht die Kraft gefunden, etwas dagegen zu tun.

Und dieser Kretin da am Boden, der aus irgendwelchen Gründen, die nur das Schicksal verstehen konnte, sein Bruder war, trug die Schuld an allem! Vom selben Vater gezeugt, von der selben Mutter geboren! Er fasste es kaum!

Dann rief er die drei weiteren Vorstandsmitglieder an, bat sie, zu einer außerordentlichen Sitzung in seine Villa zu kommen.

Die drei waren hocherfreut, wieder einmal von ihrem früheren Vorsitzenden zu hören. Sie hatten unter seinem Verlust ebenso gelitten wie unter der Unfähigkeit seines Bruders. Noch hatten sie alles ausbügeln können, was er verbockt hatte, noch hatten die Aktionäre nichts von all dem mitbekommen, was im Unternehmen schief lief, aber lange wäre es nicht mehr so weiter gegangen.

„Und Ben?" fragte Gisele vorsichtig.
„Ist gerade zurückgetreten. Seine Anteile übernimmt Annika, ebenso wie seinen Posten im Vorstand!"
Das junge Ding? dachte Gisele. Was war passiert?
Aber sie sagte nichts.

Felix wandte sich an Julio. „Du bringst ihn ins Büro, lässt ihn seinen Schreibtisch räumen, nimmst ihm die Schlüsselkarte ab, gehst mit ihm auf die Bank, siehst zu, dass er meine Wünsche erfüllt!"
Zu Ben sagte er: „Ich denke mal, dass du genug Geld zur Seite geschafft hast, um abgesichert zu sein. Wenn ein Wort von all dem nach draußen dringt, bist du auch das los! Denk daran!"

Julio schnürte Ben wieder auf, der Wachmann stand drohend daneben.

Sie verließen das Haus. Felix rief über die interne Sprechanlage Maria zu sich.
Untertänig kam sie an.
„Pack deine Sachen, in einer Viertelstunde hast du unser Haus verlassen!" knallte er ihr hin.

Die Haushälterin spürte, dass sie besser nicht nachfragte, geschweige denn, ihren ausstehenden Lohn oder ein Arbeitszeugnis einforderte.

Sie schenkte sich sogar einen sarkastischen Blick auf Annika.

Müde ließ Felix den Kopf in den Nacken fallen, Annika massierte wie selbstverständlich die verspannten Muskeln, wie sie es oft getan hatte, wenn er nach anstrengenden Meetings spät nach Hause gekommen war.

Er seufzte genießerisch. Doch dann hielt er ihre Hände fest, zog sie auf seinen Schoß.

„Wie kann es sein, dass du so schnell alles verzeihen kannst, was ich dir angetan habe, Annika?" fragte er, und seine Stimme brach bei diesen Worten. Er streichelte ihr Gesicht. „Ich meine, schon dass du mir eine Chance gibst, ein wenig davon gutzumachen, ist so großartig von dir. Aber du scheinst mir vergeben zu haben, von einem Tag auf den anderen! Wie schaffst du das?"

„Du warst das nicht! Der Kerl der letzten Jahre warst nicht du, Felix! Diesem Monster hätte ich nie verzeihen können! Ich habe hin und wieder den wunderbaren Mann, den ich geheiratet habe, aufblitzen sehen hinter dieser schrecklichen Maske aus Schmerz und Wut. 

Und am deutlichsten bei diesem Es tut mir leid! Da wusste ich, ich könnte die Mauer durchbrechen, die du um dein Herz gebaut hast! Ich hatte nicht gehofft, dass es so schnell geht, wirklich nicht! Aber ich bin überglücklich darüber!"

Während dieser langen Rede streichelte sie die Narben auf seiner linken Wange, und er hatte das Gefühl, sie streichelte sie weg.

Und er wusste, sie hatten beide gestern und heute alles gesagt, was es zu sagen gab.
Sie hatten sich wie durch ein Wunder wieder, konnten da weitermachen, wo ihr Glück vor fünf Jahren zerstört worden war.
Oder neu anfangen!

„Du bist so schön!" flüsterte er in ihr Ohr.
„Du auch!" antwortete sie leise, und er wusste, dass sie ehrlich war.

Da meldete Marcel vom Sicherheitsdienst auch schon die drei Vorstände an. Gisele, Eric und Rafael erschraken kurz, als sie Felix sahen, hatten sich aber schnell unter Kontrolle. Sie hatten gehört, dass er schwer verletzt worden war bei dem Unfall, den seine junge Frau verursacht hatte. 

Ben hatte keine Gelegenheit versäumt, firmenintern darauf hinzuweisen.

Aber der Anblick des ehemaligen und nun wieder neuen Chefs erschreckte sie doch.

Felix nahm die Blicke natürlich wahr, überspielte sie aber. Die Gäste wunderten sich, dass die Verursacherin des ganzen Dramas neben Felix saß, dass er ihre Hand hielt, sie glücklich anlächelte.

Nachdem alle Platz genommen hatten, servierte Marcel kalte Getränke und zog sich zurück.

Dann begann Felix zu reden. Er berichtete über alles, was geschehen war. Als er über seine Grausamkeiten seiner Frau gegenüber sprechen wollte, drückte sie seine Hand.
„Lass das!" bedeutete sie ihm dadurch. „Das geht nur uns beide etwas an."
Er küsste ihre Finger, dankte ihr damit.

Die drei waren fassungslos über das, was sie hörten. Sie hatten schon geahnt, dass mit Ben etwas nicht stimmte, aber so etwas hätten sie ihm dann doch nicht zugetraut.

„Der Stand der Dinge ist also folgender: Ben hat seine Anteile soeben meiner geliebten Frau Annika übertragen. Ich mache hiermit den Vorschlag, dass sie auch seinen Sitz im Vorstand übernimmt! Sie hat die letzten Jahre gut genutzt und sich durch meine Studienunterlagen in BWL gearbeitet. Sie hat zwar keinen Abschluss, aber einen ausgesprochen wachen Verstand. Sie kann uns sicher nützlich sein!"

Sie sah ihn verblüfft an. Woher wusste er das denn?

Er drückte dieses Mal ihre Hand. „Ich erkläre es dir später!" hieß das.

„Also, nehmt ihr meinen Vorschlag an?" fragte er in die Runde. Alle stimmten mit „Ja".
„Gut! Dann schreibe ich das so ins Protokoll. Ich bitte außerdem Rafael, mein Stellvertreter zu werden. Ich werde meine Therapie durchziehen, das kann dauern, bis wir beide als vollwertige Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Ich denke, wir gehen nach Berlin. Die Charité hat einen guten Ruf bei neurologischen Problemen!"

Gisele sah etwas säuerlich drein. Sie war eigentlich die Älteste, Felix hätte sie mit der Geschäftsleitung betrauen müssen.
Eric dagegen hatte kein Problem mit dieser Entscheidung. Rafael war Harvard-Absolvent, fachlich ein Ass.

Felix entließ die Kollegen, die nicht nur ihn sondern auch Annika herzlich umarmten. Der schwirrte der Kopf, was er natürlich bemerkte.

Er zog sie wieder auf seinen Schoß. „Ich habe dich genau beobachtet, ich habe viel Zeit vor dem Bildschirm verbracht, wenn du in der Bibliothek warst! Erst habe ich gedacht, du liest einfach nur etwas Literatur, aber dann hast du Blöcke und Kladden mitgebracht, hast dir Notizen gemacht. Ich hab dich rangezoomt, hab gesehen, dass du meine alten Studienunterlagen vor dir hattest. Viele Abende lang habe ich dir dabei zugesehen, hatte das brennende Verlangen, zu dir zu gehen. Oder dir ein Laptop zu besorgen, oder neuere Werke, aber ich habe es nie geschafft!" 

Er küsste sie leidenschaftlich. „Wir haben so viel Zeit verloren, Süße!"

Wieder sah sie ihn mit diesem ernsten Blick, den sie früher nicht gehabt hatte, an. „Nein! Das haben wir nicht, Felix!"

Und wieder wusste er, dass sie recht hatte.

Und er wusste auch, dass sie weise war, nicht nur klug! Er hatte damals richtig gewählt.
„Würdest du mir die Ehre erweisen, unseren Eheschwur zu erneuern? Nur wir beide? Oder im privaten Kreis?" fragte er aus diesen Gedanken heraus.

Sie schenkte ihm dieses strahlende Lächeln, das er immer so sehr geliebt hatte - und das er zum Erlöschen gebracht hatte.
„Ja, Felix! Das würde ich gerne tun!"

„Ich bin wieder Felix! Felix- der Glückliche!" antwortete er. Nach einem langen Kuss, der all die Zärtlichkeit ausdrückte, die er für sie empfand, fiel ihm der andere wieder ein, warum auch immer!

„Wolltest du dich nicht bei Philip melden?" fragte er wie beiläufig. Annika hatte den jungen Mann schon fast vergessen.
„Ich weiß nicht!" wehrte sie ab.

Er nahm ihr hübsches Köpfchen zwischen seine Hände, zwang sie vorsichtig, ihn anzusehen.
„Annika! Ein Mann, der sich wahrscheinlich in dich verliebt hat, verdient es, wenigstens eine Antwort zu bekommen. Weißt du, was ich gut fände? Wenn er hier käme, und wir erklären ihm alles. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass da ein Brief oder ein Anruf nicht genügt!"

Sie sah ihn verwundert an. „Du willst den Mann, mit dem ich eine Nacht verbrachte habe, hierher einladen?" Das kam ihr jetzt schon ein wenig crazy vor.
„Ja! Du hast ja nicht mich betrogen, sondern das Monster! Und das hat viel mehr Strafe verdient!" erklärte er.


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