Kapitel 18

„Heute kommt Ben zu einem Geschäftsfrühstück!" erklärte er, als sie geduscht und angezogen waren. „Leistest du uns Gesellschaft?"

Annika erstarrte. Ben! Sie war ihm in all der Zeit aus dem Weg gegangen. Am Krankenbett während des Komas hatten sie sich zwangsläufig ein paar Mal getroffen, sein drohender Blick hatte ihr immer den Atem genommen.

Manches Mal hatte sie versucht, Felix zu erzählen, was sein Bruder ihnen Beiden angetan hatte, aber er hatte nie zuhören wollen.
Später hatte sie es aufgegeben, hatte sich auf ihr Zimmer zurückgezogen, wenn der Schwager im Haus war.

Er hatte die Geschäfte übernommen, wie sie mitbekam, Felix brauchte ihn.

Die Aktien waren nach seinem Unfall und dem vollkommenen Rückzug aus der Öffentlichkeit abgestürzt, wie sie aus dem Netz erfahren hatte. Durch Bens Einsatz hatten sich die Kurse dann wieder stabilisiert.
Sie hatte aus Langeweile all die BWL- Bücher von Felix' Studium durchgeackert, die Bibliothek war in den letzten Jahren der einzige Ort, der ihr Ablenkung verschaffen konnte.
Sie wusste, wie wichtig eine stabile Geschäftsführung für ein Unternehmen wie die Vanderberg AG war, wie sensibel der Markt auf persönliche Schicksale der Geschäftsleitung reagierte.
Felix war das Gesicht des Unternehmens gewesen, doch er hatte sich komplett zurückgezogen.

„Nein! Das möchte ich nicht! Ihr habt sicher Interna zu besprechen!" antwortete sie auf Felix' Frage.

Der sah sie verwundert an. „Aber ich habe doch früher auch nie Geheimnisse vor dir gehabt! Tu mir doch bitte den Gefallen! Ich möchte, dass er sieht, dass mit uns beiden alles wieder in Ordnung kommen kann!"

Annika suchte nach Argumenten, fand aber keine, die ihn nicht verletzen würden. Und das Eis war noch so dünn, über das zu gehen sie bereit waren.

Sie musste sich eben zusammenreißen, und sie hoffte, dass auch Ben dazu bereit war.
Julio führte Ben ins Esszimmer, er sah, dass auch Annika am Tisch saß. Sicherheitshalber blieb er vor der Türe stehen.
Ben erstarrte, als er die Frau seines Bruders sah.
„Was will sie hier?" fragte er ungehalten.

„Sie ist meine Frau, falls du das vergessen hast!" wies Felix ihn zurecht.
Sein Bruder sah ihn überrascht an. Fünf Jahre lang war sie die Persona non Grata gewesen, und heute war sie plötzlich seine Frau? Hatte sie geplaudert? Er hatte sich all die Jahre gefragt, warum sie nichts von diesem Abend erzählt hatte! Die Drogenfahrt war schließlich längst verjährt!

Er war da, wo er immer hingewollt hatte. An der Spitze des Unternehmens! Er war nicht länger die Nummer zwei! Er war die Nummer eins! Sein Plan war aufgegangen!

Und jetzt saß das Girlie seines Bruders plötzlich am Tisch!

„Und deshalb muss sie bei Geschäftsbesprechungen dabei sein?" wagte er einen erneuten Vorstoß. „Nach allem, was sie dir angetan hat?"

Da platzte Annika der Kragen. „Was ich ihm angetan habe?" schrie sie los. „Wer hat mir denn das verdammte Kokain in den Mund geschoben? Wer hat denn wirklich Schuld an allem, was passiert ist?"

Felix glaubte, nicht richtig zu hören.

Ben ging auf Annika los. „Halt die Klappe, verdammte Hure! Du willst dich doch nur rausreden! Du hast das Zeug geschnupft, weil du es toll gefunden hast, eine Nacht so richtig geil zu sein! Weil er alleine dich nicht mehr anmachen konnte! Ich wollte dich davon abhalten!"

Felix' Kopf flog von einem zu anderen, wusste nicht, was für ein Film da gerade ablief!

Da betrat Julio das Zimmer. Es war ihm egal, ob er seinen Job verlieren würde! Er konnte nicht länger schweigen! Er hätte längst sprechen sollen! Längst die Wahrheit sagen sollen!
Aber sein ehemaliger Freund und jetziger Chef war vollkommen unzugänglich gewesen in den letzten Jahren!

Doch er hatte den Freund vermisst, hatte viele Demütigungen und Drohungen des Chefs weggesteckt.

Hatte zugesehen, wie er seine Frau misshandelt hatte, die Frau, die die Liebe seines Lebens gewesen war.
Und an allem war dieser Bastard von Bruder schuld!

Julio baute sich vor Ben auf. „Ich habe dich gesehen an jenem Abend! Im Spiegel der Dametoilette! Du hast ihr mit Gewalt das Pulver eingeflößt! Ich habe gedacht, ich könnte sie vom Fahren abhalten. Doch du hast mir einen Kinnhaken verpasst! Ich bin zu spät gekommen! Du hattest das alles geplant, weil du deinen Bruder loswerden wolltest! Die beiden haben bezahlt dafür, was du verschuldest hast!"

Felix hing an Julios Lippen. Er glaubte ihm jedes Wort! Er war ein Freund gewesen, bevor er selbst durchgedreht war und ihn zu einem Angestellten gemacht hatte, den er auch noch bedroht hatte, falls er ihn verließ!

Seine Blicke durchbohrten Ben. „Was hast du getan?"

„Nichts! Der spinnt doch!" wehrte sein Bruder ab.
Felix sah Annika an, die bleich wie eine Wand geworden war. „Was hat er getan?" fragte er sie.
Und sie redete.
Endlich hatte sie Gelegenheit, alles zu berichten!

Felix wurde immer blasser.
Mein Gott! Warum hatte er nicht schon längst nachgefragt?
Warum hatte Julio geschwiegen all die Jahre?
Warum hatte sie geschwiegen?

Doch er kannte die Antwort.

Beide hatten es mehrmals versucht.
Er hatte nicht hören wollen.
Hatte nicht zuhören wollen!
Hatte sein Urteil gefällt!
Über eine Unschuldige!

Ben hatte blind vor Wut über das verdammte Weib, das verdammt schöne Weib, um das er seinen Bruder immer beneidet hatte, das Brotmesser vom Frühstückstisch ergriffen, hielt es ihr an die Kehle, während er sie von hinten umklammerte.
„Halt deine Fresse, du Miststück!" brüllte er ihr ins Ohr.
Felix hatte sich am Tisch hochgezogen, aber er konnte ihr nicht helfen!

Er konnte seinem Mädchen nicht helfen.

Doch Julio war da.
Der Freund!
Er hatte eine Vase in der Hand, ließ sie auf Bens Kopf niedersausen. Der fiel um wie ein gefällter Baum. Doch im Fallen ritzte das scharfe Messer ihren Oberarm auf. Blut schoss heraus.
Julio raste zum Schrank, in dem er Verbandsmaterial gebunkert hatte.
So waren die Wege nie weit gewesen, wenn ihre Lippe geplatzt war, ihre Nase geblutet hatte durch einen der Schläge, die sie stets stoisch ertragen hatte.

Doch der Blick aus ihren Rehaugen hatte ihn, den harten Kerl, immer fertig gemacht.
Deshalb war er immer patziger und unverschämter zu ihr geworden, um sein Herz vor dem Blick aus diesen Augen zu schützen.
Ums sich davor zu bewahren, auf den Chef loszugehen!

Er rief einen der Jungs vom Wachdienst, der sich um Ben kümmern sollte.
„Verschnür ihn ordentlich, aber unternimm nichts, bis wir wieder da sind!" ordnete er an. Ihm war klar, dass die Polizei im Haus nicht gut für die Geschäfte wäre.
Ein neuer Skandal konnte verheerende Folgen haben.

Felix bewunderte den Freund für seine Weitsicht.
„Wir müssen ins Krankenhaus!" erklärte Julio, der die Lage vollkommen in Griff hatte, wie Felix dankbar erkannte.
„Wieder einmal!" fügte der Angestellte mit einem ernsten Blick auf den Chef hinzu.

„Ich komme mit!" bestimmte Felix.

Der junge Arzt erschrak, als seine Dauerpatientin blutüberströmt in Begleitung des bulligen Typen, der sie immer brachte, durch den Gang auf ihn zukam.
Doch etwas in ihren Augen war heute anders. Sie waren nicht stumpf, tot wie früher! Sie lebten, und ihre Hand hielt die eines Mannes, der in einem Rollstuhl neben ihr fuhr.
Ihn hatte er noch nie gesehen.
Oder doch?

Sie war ja eine Vanderberg, aber er wusste nicht, wie sie zur Familie gehörte, hatte sich nie für den Klatsch in der Stadt interessiert.

Aber ihn kannte er doch? Das war doch der frühere Chef, der wie vom Erdboden verschluckt zu sein schien, vor einigen Jahren aus der Öffentlichkeit verschwunden war.

Sollte das der Typ sein, der ihr all die Verletzungen zugefügt hatte, mit denen sie immer wieder auf seiner Station gelandet war?
Da sah er die Narben. Brandwunden. Eindeutig! Sie bedeckten seine linke Gesichtshälfte, Augen und Lippen waren verschont geblieben, zogen sich über den Hals hinunter.
Er ahnte ein Drama. Und doch hielten sie sich an der Hand, lächelten sich an.

„Das ist Dr. Marchon!" stellte sie ihn vor. „Er hat mir das Handy besorgt!"

Jean-Pierre zuckte zusammen. Bekam er jetzt eine aufs Maul?

Doch der Mann hielt ihm die Hand hin. „Vielen Dank! Ich stehe in Ihrer Schuld! Aber das regeln wir nachher!"
Sein Lächeln war aufrichtig, sein Blick offen und dankbar.
Jean-Pierre versorgte die Schnittwunde professionell.
„Ich hoffe, wir sehen uns eine Weile nicht mehr!" erklärte er, sah den Typen im Rollstuhl durchdringend an.

Der hielt überraschender Weise seinem Blick stand.

„Dieses Mal war ich unschuldig!" sagte Felix mit ziemlich belegter Stimme und feuchten Augen. „Aber ja, alles andere habe ich ihr angetan! Und ich werde mich mein Leben lang dafür schämen!"

Die Aufrichtigkeit in seiner Stimme nahm dem jungen Arzt den Wind aus den Segeln. Er wusste nichts von der Vorgeschichte, glaubte sich aber an einen Unfall zu erinnern.
„Sie bekommen noch Geld von uns!" sagte Felix dann, kam sich aber schäbig dabei vor, noch mehr, als er den Blick von Dr. Marchon sah.

„Nein! Entschuldigen Sie! Unsere Dankbarkeit genügt Ihnen, nicht wahr?" flüsterte er. „Aber ich werden dem Krankenhaus eine großzügige Summe spenden!"

Jean-Pierre lächelte. „Da werde ich nicht Nein sagen!"
„Kommen Sie doch morgen Abend zum Dinner zu uns!" bat Felix. „Dann können wir gemeinsam mit der kleinen Sozialistin hier durchsprechen, wo es am meisten fehlt!"

„Gut! Dann kann ich ja gleich nach der Wunde sehen. Und vielleicht erfahre ich auch ein paar Details, nach denen ich nie gefragt habe!" erklärte der Arzt.

Julio zog eine Visitenkarte des Chefs heraus, drückte sie dem Doktor in die Hand.

Auch er hoffte, die Notaufnahmestation der Klinik lange nicht mehr sehen zu müssen.


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