Kapitel 10

Als wir im Geschäft waren hat mir das Kleid noch total gefallen. Es saß wie angegossen, die Farbe passte zu mir und es war angenehm zu tragen. Kurz gesagt, es war perfekt. Aber jetzt, wo ich in meinem Zimmer vor dem Spiegel stand und mich betrachtete, gefiel es mir gar nicht mehr. Das war nicht ich. Es war zu pompös, sah überhaupt nicht aus wie etwas das ich tragen würde und ich fühlte mich verkleidet.
Ich drehte mich mit dem Rücken zum Spiegel und sah über meine Schulter. Eigentlich sah das Kleid ja wirklich schön aus. Aber ich konnte mir nicht vorstellen selber sowas zu tragen. Ich trug eher die schlichteren, einfachen Sachen. Nicht so was. Die Farbe war schon. Das weinrot passte gut zu meinem Hautton und ließ mich auch nicht zu blass erscheinen. Zudem hatte das Kleid Träger, was für mich oberste Priorität hatte. Ich wollte nicht den ganzen Abend nur dastehen und mein Kleid davon abhalten zu rutschen. Nur die Straßsteinchen, welche auf dem Brustkorb eingenäht waren, sahen in meinen Augen zu viel aus. Es war schön, das stand außer Frage, aber es war auch irgendwie komisch selber zu tragen.
„Wow. Du siehst unglaublich aus.“ Überrascht drehte ich mich zur Tür. Ich hatte gar nicht gemerkt das jemand hochgekommen war. Mark stand mit verschränkten Armen in einem Anzug vor mir. Ich musste mich ziemlich zusammenreisen, um nicht loszulachen. Dieser Typ vor mir sah gar nicht aus wie Mark. Er hatte sogar eine Krawatte um, und dabei hatte ich ihn seit über einem halben Jahr nicht mehr in heiler Hose gesehen.
„Gehen wir? Wir sind schon spät dran und wir können die anderen doch nicht noch länger warten lassen.“ Kaum hatte er das gesagt, drehte er sich auch schon weg, um mir die Tür aufzuhalten. Zusammen liefen wir nach unten, wo Marcus stand und uns überglücklich ansah. Man sah ihm an, wie glücklich er war, das wir heute meinen Abiball nachfeiern wollten. Schon seit er von Marks Idee wusste, strahlte er die ganze Zeit.
Er und Mark unterhielten sich kurz, irgendwann stieß auch Charlotte dazu und ich fühlte mich kurz bisschen überflüssig, doch dann drängte Mark uns auch schon, das wir los mussten und wir verließen das Haus.
„Pass diesmal besser auf sie auf.“ rief Marcus noch aus der Haustür raus was  Mark kurz zum Lachen brachte und er nickte.
Ich fand es schön das Marcus nicht mehr so angespannt auf das Thema reagierte. In den letzten zwei Wochen hatte es sich bei uns zuhause einiges geändert. Ich war distanzierter zu Marcus und Charlotte und schob es darauf, das ich alleine sein wollte um alles zu verarbeiten, auch wenn ich tief in mir wusste, das ich mich damit selber belüge. Aber wahrscheinlich würde ich es anders gar nicht aushalten. Zudem hatte ich mich das ein oder andere Mal dabei erwischt, wie ich daran dachte wieder bei ihm zu sein und mit ihm zu reden. Ich wollte nicht sagen das ich ihn vermissen würde, das wäre zu weit gegriffen, aber er hatte mich so neugierig gemacht. Ich wollte wissen wer er war. Was wollte er von mir? Woher kannte er mich? Woher wusste er alles über mich? All diese Fragen beschäftigten mich und wollten mir auch einfach keine Ruhe geben. Der einzigen, der ich mich, wenn auch nur teilweise, anvertraute, war Alina. Irgendwie hatte ich bei ihr das Gefühl das es sie wirklich interessierte und sie für mich da sein wollte, und nicht nur Mitleid hatte.
Mark fuhr uns mit seinem alten, kleinen Gebrauchtwagen quer durch die Stadt und sammelte auf dem Weg noch Jaydan und Stacy ein. Mit meiner kleinen Vermutung, dass die beiden zusammen waren, hatte ich nicht mal unrecht. Die Geschichte dahinter war allerdings alles andere als romantisch. Sie hatten beide auf dem Abiball schon ziemlich etwas intus und hatten beide Lust herumzuknutschen. Sie sind gemeinsam auf dem Zimmer gelandet aber haben es nicht dabei belassen und wollten dieses 'unbeschreibliche Gefühl' nicht bei einmal belassen. Also sind sie irgendwie zusammengekommen.
„Und wir sind da!“ meinte Mark, als er vor einem Gasthaus zum stehen kam und anfing, sich nach einem Parkplatz umzusehen. Da wir schon ziemlich spät dran waren und somit auch alle Parkplätze in angenehmer Entfernung belegt waren, ließ er uns dann einfach direkt vor dem Eingang raus und schickte uns vor. Er würde nachkommen. Wir Mädchen auf den hohen Absätzen waren natürlich mehr als dankbar. Wir hatten schon genug Probleme damit, überhaupt stehen, geschweige denn gehen zu können da der gesamte Weg mit Kieselsteinen ausgelegt war.
Stacy wurde natürlich liebevoll von ihrem Freund gestützt, aber ich ging leider leer aus und kämpfte mich alleine über den Weg.
Glücklich endlich festen Boden unter den Füßen zu haben stieg ich danach die vier Treppenstufen hoch zum Eingang. Nicht viele Menschen standen noch hier auf der doch recht großen Terrasse. Von drinnen dröhnte laute Musik und die meisten waren wahrscheinlich schon drinnen am Tanzen.
Von den wenigen die hier draußen standen beachteten uns noch weniger, aber diejenigen die es taten, freuten sich augenscheinlich mich zu sehen. Die ersten die mich registrieren waren aus unserer alten Parallelklasse und waren Freunde von Mark, und dadurch irgendwie auch meine. Oder zumindest meine Bekannten. Dadurch, das ihre Aufmerksamkeit plötzlich jemand neuen galt, wurden auch schnell alle anderen auf mich aufmerksam und es bildete sich eine Traube von Leuten, die Fragen stellen wollten, gleichzeitig aber auch nicht wussten was sie sagen sollten.
Alles in einem fühlte es sich auf ungewohnte Weise komisch an, im Mittelpunkt von so vielen Menschen zu stehen. Ich fühlte mich irgendwie unwohl und hatte das Gefühl hier nicht her zu gehören. Langsam bereute ich es dieser Party oder was das war zugestimmt zu haben. Ich wollte wieder nach Hause, an einen Ort wo ich mich nicht so beobachtet fühlte. Die Tatsache, dass ich nicht wusste ob mich nur ehemalige Mitschüler ansahen oder vielleicht auch irgendein psychopathischer Stalker verunsicherte mich und ich wünschte mir irgendwen der für mich da sein konnte. Auch wenn ich hier eigentlich jeden kannte, selbst wenn es nur das Gesicht ist, fühlte ich mich so, wie wenn mich nur Fremde ansahen.
Ich wusste nicht genau wieso ich kurze Zeit später plötzlich an einem Tisch saß, oder wie ich überhaupt nach drinnen gekommen war, aber es war mir eigentlich auch recht egal. Erst jetzt wurde mir auch bewusst, das ich mit meinen Gedanken komplett abwesend gewesen sein musste und auch noch immer kein Wort gesagt hatte.
„Mila?“ Mark ließ sich auf den Stuhl neben mich fallen und reichte mir ein Glas mit einer hellrosanen Flüssigkeit.
„Ist nur Saft. Geht's dir gut? Du bist so still.“ Ich nickte und sah hinter mich. Ich hatte das Gefühl irgendwer beobachtete mich. Und dieses Gefühl war alles andere als angenehm. Jedoch konnte ich niemanden sehen. Ich sah den Wald vor lauter Bäumen nicht, traf es wohl am ehesten.
„Mark?“ Angesprochener hob augenblicklich den Kopf und brachte ein aufmerksames „Hm?“ zustande, während er an seinem Glas nippte.
„Ich weiß das das jetzt wirklich nicht meine Art ist, und ja, es schmeckt mir auch eigentlich gar nicht, aber ich brauche Alkohol.“ Er nickte und stand auf. Dann deutete er hinter sich zum Tresen und fragte mich noch was ich den haben wollte. Da ich mich auf diesem Gebiet jedoch gar nicht auskannte und mit dieser kleinen Frage schon mehr als nur Überfordert war, bat ich ihn einfach um irgendwas. Aber lieber etwas stärker, sonst hielt ich das Ganze hier nicht mehr lange aus und müsste seine so mühsam veranstaltete Party als erste verlassen. Während er ging, um meine Bestellung aufzugeben, saß ich wie bestellt und nicht abgeholt auf meinem Platz und sah ein wenig durch die Gegend. Mein Blick blieb an einer kleinen, dunkel Ecke hängen. Ich hatte das Gefühl von dort einen Blick deutlich auf mir zu spüren. Hier waren jedoch zu viele Menschen, als das ich irgendwas erkennen könnte. Ich starrte dennoch auf die Ecke und sah erst weg, als Mark wiederkam und  ein Glas vor mich abstellte. Sofort griff ich nach dem Glas und nahm sofort den ersten Schluck. Der Alkohol brannte in meiner Kehle, weshalb ich laut anfing zu husten. Mark wirkte für einen kurzen Moment etwas besorgt, doch dann lachte er und klopfte mir sanft auf den Rücken.
„Daran gewöhnst du dich noch.“ sagte er dabei und hob, nachdem ich mich dann wieder beruhigt hatte seinen Becher um mit mir anzustoßen. Er hatte recht. Zwar waren die darauffolgenden Schlucke noch immer widerlich bitter und gleichzeitig auch viel zu süß, aber nach ungefähr einem halben Glas fing es an sich in einen süßen und irgendwie auch warmen Geschmack zu verwandeln. Es tat gut und ich vergaß sofort meine Sorge, beobachtet zu werden, also bat ich Mark direkt um ein zweites.
Einige unserer ehemaligen Mitschüler schienen bemerkt zu haben, das ich auf den Alkoholgeschmack gekommen war, denn sie kamen nach und nach an und wollten mit mir anstoßen. Es dauerte nicht lange, da hörte ich schon mit dem zählen auf. Ich brauchte es sowieso nicht. Schon alleine daran, wie alles um mich herum alles anders wirkte und ich mich lockerer und entspannter benahm konnte ich abschätzen, dass die Getränke ihre Wirkung zeigten.
Kurz darauf fand ich mich dann auf der Tanzfläche wieder, umringt von bekannten Gesichtern, welche im Licht der Scheinwerfer in den verschiedensten Farben leuchteten und sich zum Bass der Musik bewegten. Ich stand hier zwischen ihnen und hatte all meinen Scham abgelegt. Ich war kein Stück verklemmt, wie ich es heute über den Tag die ganze Zeit erwartet hatte. Im Gegenteil, es fühlte sich großartig an so frei zu sein und alle Sorgen beiseite zu schieben. Sollte er mich doch beobachten. Wenn er Lust darauf hatte. Ich fühlte mich Wohl und hatte zum ersten Mal seit langem wieder richtig Spaß.
Durch die ganze Bewegung bekam ich Durst und holte mir etwas zu trinken. Davon bekam ich Lust weiter zu tanzen. Es war ein Kreislauf und ich wusste nicht wie er enden würde. Aber das sollte er auch nicht. Noch nicht.
Irgendwann verlor ich Mark dann aus dem Blick und lief ein wenig durch die Gegend um ihn zu suchen Ich fragte ehemalige Mitschüler, ob sie ihn gesehen hätten, bekam aber keine klaren Antworten. Irgendwann kam ich dann auf die Idee, das er wohl auf Toilette gegangen war und spürte jetzt auch langsam den Druck auf meiner Blase, weshalb ich los ging um es ihm gleich zu tun.
Die feste, große Tür ins Badezimmer hielt den Schall der lauten Musik etwas zurück. Ich konnte dennoch jedes Lied deutlich hören. Ich suchte nach einer freien Kabine, was sich nicht als sonderlich schwer herausstellte, da ich alleine im Bad war. Alleine zu sein sorgte einen kurzen Moment für ein unwohles Gefühl, aber da ich ja wusste, das ich alleine hier war, konnte ich mich beruhigt für eine Kabine entscheiden.
Langsam konnte ich auch wieder klarer denken und mich deshalb kurz darauf auch der schwierigen Aufgabe stellen mein Kleid auszuziehen ohne das es auf den Boden aufkam. Irgendeine Flüssigkeit lag dort und ich wollte wirklich auf keinen Fall wissen was es war. Es könnte alles sein. Was schon schlimm genug darin zu stehen.
Als ich meine Blase erleichtert hatte, mein Kleid erfolgreich wieder angezogen hatte und vor dem Spiegel stand bekam ich dann einen kleinen Schock. Ich sah schrecklich aus. Mein Gesicht war gerötet und mein Make-Up sah aus als wenn ich Tage damit geschlafen hätte. Riesige Panda-Augen, der Lippenstift verschmiert und das ganze Gesicht gerötet als wenn ich einen schrecklichen Sonnenbrand erlitten hätte.
Zu meinem großen Glück hatte ich vorsichtshalber ein paar Abschminktücher eingepackt welche mir jetzt mehr als nur nützlich wurden. Eigentlich hatte ich sie dabei, weil ich kein wasserfestes Make-Up hatte und momentan sehr Nahe am Wasser gebaut war. Aber hierfür könnte ich sie auch nutzen.
Ich entfernte die schlimmsten Stellen und wollte noch meinen Lippenstift auffrischen, beschloss aber zuvor einen Schluck Leitungswasser zu trinken. Ich beugte mich nach vorne und füllte meine zu einer Schale geformten Hand mit kühlem Wasser, als ich aus dem Augenwinkel irgendwas sah. Ich sah so schnell wie möglich nach hinten, da ich aber nichts sehen konnte beschloss ich, dass ich es mir wohl nur eingebildet hatte und schlürfte das Wasser aus meiner Hand. Ich zog ein Papiertuch aus dem Spender neben mir und trocknete meine Hände, um danach den Lippenstift zu greifen. Ich öffnete diesen und lehnte mich etwas nach vorne, um mich besser im Spiegel sehen zu können, als ich hinter mir etwas sah. Und dieses mal war es deutlich. Das hatte ich mir nicht eingebildet.
Ich drehte mich um und versuchte im halbdunkeln, welcher hier auf Grund des nur spärlichen Lichtes diesen Raum versuchte zu erhellen, etwas zu sehen. Ich konnte aber wieder nichts sehen. Hatte ich es mir schon wieder eingebildet? Das konnte doch nicht sein.
Langsam drehte ich mich um und sah währenddessen in den Spiegel. Ich würde mich nicht täuschen lassen. Ich würde sehen wenn da jemand ist.
Als ich fast eine Minute in den Spiegel gestarrt hatte, ohne das dort etwas zu sehen war, beschloss ich mich endlich meinem Lippenstift zu widmen und trug eine dünne Schicht auf meine Lippen auf.
„Dieses Rot steht dir gut.“
Ich zuckte erschrocken zusammen und drehte mich um. Aber dort stand niemand. „Hab doch keine Angst, Kleine.“ Ich lief von Kabine zu Kabine und sah nach, ob dort jemand war, aber das komplette Bad war leer.
„Wo bist du?“ fragte ich panisch, hört darauf hin jedoch nur ein Lachen.
„Ich habe dir doch gesagt das ich dich immer beobachten werde.“ Ich bekam bei seiner Stimme eine Gänsehaut und schlang meine Arme um den Körper.
„Du bist wunderschön. Ich finde es nur alles andere als erfreulich das du mit diesem Trottel Mark hier bist, und nicht mit mir.“ Ich lief langsam auf die Tür zu. Ich wollte hier weg. Raus aus diesem Raum, raus aus dem Gebäude. Einfach wieder nach Hause in mein Bett. Ich werde nie wieder da raus kommen.
„Kleine, wir holen diese Party bald nach, ja? Ich würde mich freuen wenn du dich für mich auch so hübsch machst.“
Panisch rannte ich aus dem Bad und lief prompt in Lina rein, welche gerade auf dem Weg ins Bad war.
„Mila? Hey, was ist den los?“ fragte sie mich doch ich stieß mich von ihr weg und rannte quer über die Tanzfläche auf den Ausgang zu. Kurz bevor ich die Tür erreichte schlang sich plötzlich ein Arm um meine Taille und hielt mich zurück. Ich fing an zu schreien und heulen, doch nichts davon hörte man. Die Musik war zu laut.
„Mila. Mila, hey, beruhig dich. Was ist passiert?“ Marks Stimme drang langsam zu mir durch und ich sah vorsichtig auf. Er sah mich besorgt und irgendwie traurig an.
„Ich will nach Hause. Sofort.“
Mark ging meiner Bitte augenblicklich nach und sammelte unsere Sachen zusammen. Ich wich ihm dabei nicht von der Seite und sah mich ununterbrochen nach ihm um.
Er musste hier sein. Er war hier irgendwo und beobachtete uns.
Ohne sich von irgendwem zu verabschieden, gingen wir nach draußen und liefen zum Auto.
Während des Weges sprach Mark mir gut zu und schaffte es so, mich etwas zu beruhigen. Als wir beim Auto ankamen war ich also nicht mehr am heulen, sondern schniefte nur noch leise.
Besser ging es mir allerdings dennoch nicht wirklich.

Als ich am nächsten Tag irgendwann gegen Mittag wach wurde, lag ich mit zerzausten Haaren, verschmierten Make-Up und in Unterwäsche, an ein Kissen gekuschelt in meinem Bett.
Ich hatte noch immer Angst und bei den Gedanken an den Vortag kamen mir auch wieder die Tränen, aber hier fühlte ich mich sicher und konnte mich somit schnell wieder beruhigen.
Ich stand langsam auf und nahm eine ausgiebige Dusche, bevor ich mich in einer Jogginghose und einem übergroßen Hoodie auf den Weg nach unten begab.
Ich hatte Kopfschmerzen, Gliederschmerzen und mir war übel. Mir ging es im Allgemeinen einfach nur schrecklich, weshalb mich nicht mal der Geruch von warmen Kakao aufmuntern konnte. Leise ging ich in die Küche, wo Charlotte und Marcus saßen und sich unterhielten. Sie bemerkten mich erst, als ich schon mitten in der Küche stand, und mich mit einem leisen „Hi.“ neben Marcus setzte.
Sie fragten mich über die Party aus, wieso wir schon so früh wieder zurück waren und ob ich denn Spaß gehabt hätte. Auch wenn ich die beiden ungern belog, sagte ich einfach, dass ich einen schönen Abend gehabt hätte, da ich den beiden nicht noch mehr Sorgen bereiten wollte.
Nachdem ich denn etwas getrunken hatte, Hunger hatte ich überhaupt nicht, wollte ich wieder auf mein Zimmer, aber bekam auf dem Weg zur Treppe eine andere Idee.
Da ich wusste das die beiden es alles andere als gut finden würden, wenn ich ihnen sage, wo ich hin will, vor allem alleine, schloss ich meine Zimmertür von außen zu, nahm den Schlüssel mit und schlich mich durch die Hintertür nach draußen.
Erst als es zu spät war und ich keine Chance mehr hatte, unbemerkt zurück ins Haus zu kommen, bemerkte ich, dass ich immer noch meinen Schlabberlook trug, beließ es aber dabei und zog mir einfach die Kapuze meines Pullis ins Gesicht.
Sollte man mir meine Gefühle doch ansehen. Heute war es mir egal.
Mit Händen in den Taschen und den Blick gegen Boden gerichtet lief ich durch die Gegen mit dem Ziel Stadtmitte. So wie in jeder Altstadt, zu denen unsere Stadt auch gehörte, lag die Kirche zentral. Und wo eine Kirche war, war auch ein Friedhof.
Diesen steuerte ich zielstrebig an und erreichte ihn nach gerade mal zwanzig Minuten Fußweg. Ich hatte durch meine überstürzte Aktion vergessen mein Portmonee mitzunehmen, wodurch ich auch kein Geld für eine Fahrkarte hatte.
Was mich schon ein bisschen wunderte, aber alles andere als störte war, dass ich mich überhaupt nicht das Gefühl hatte beobachtet zu werden. Es fühlte sich komisch an, aber auf angenehme Weise.
Aber wirklich Zeit zum Nachdenken blieb mir nicht, da meine Gedanken die ganze Zeit um meinen Vater kreisten.
Ich hatte ihn lange nicht mehr besucht.
Damals war es mitten im Sommer. Es war unglaublich warm an dem Tag und wie immer war ich vom Kindergarten aus direkt mit zu Lucas gegangen. Er hatte mich damals täglich abgeholt. Bei ihm aßen wir zu Mittag und spielten bis abends, wenn mein Vater nach Hause kam und mich abholte.
Wie sonst auch immer war ich nach Hause gelaufen, kaum als ich ihn sah. Meine Mutter war sehr früh bei einem Autounfall gestorben. Mein Vater hatte sich immer die Schuld gegeben, da er den Wagen gefahren war, und auch wenn ich damals noch ein kleines Kind war, werde ich niemals vergessen, wie er immer, wenn wir zu dem Grab meiner Mutter gegangen waren, anfing zu weinen. Und an dem Abend sollte ich auch noch ihn verlieren.
Ich wusste nicht mehr, was wir nach dem Abendessen gemacht hatten, wahrscheinlich hatten wir einen Film geschaut oder ein Spiel gespielt, aber bei uns wurde eingebrochen und mein Vater, welcher mich beschützen wollte, starb. Mit vier Jahren den Tod des eigenen Vaters zu sehen hatte mich unglaublich fertig gemacht. 'Tod' war ab da kein abstrakter Begriff mehr für mich. Es war real. Ich war psychisch am Ende, hatte alles vergessen, was damals passiert war und war fast zwei Jahre in Psychologischer Behandlung, bevor ich dann in ein Waisenhaus kam. Dort erfuhr ich denn, dass Lucas damals wohl etwas von dem Einbruch mitbekommen hatte, und versuchen wollte zu helfen. Er wurde entführt. Seit dem hatte ich weder eine Familie, noch einen besten Freund.
Während ich das große Tor, welches zum Friedhof führte öffnete, fragte ich mich ob Lucas wohl noch lebte, und wenn ja, was er jetzt tat. Er war fünf Jahre älter als ich, müsste jetzt also schon dreiundzwanzig Jahre alt sein.
Auch wenn ich sehr selten hier war, wusste ich den Weg zu dem Grab dennoch ganz genau. Ich lief gerade auf den großen Baum in der Mitte des Friedhofes zu, umrundet ihn dann links, und bog bei der ersten Abzweigung ein. Dort musste ich dann nach wenigen Metern wieder links abbiegen und kam dann an einem recht verwachsenen Teil des sonst so gepflegten Friedhofes zum stehen. Das letzte Grab auf der rechten Seite war das Grab meines Vaters. Und jemand stand davor.
Es war ein junger Mann, jemand den ich nicht kannte. Er war groß gebaut und sah recht muskulös aus. Er trug dunkle Kleidung, wirkte aber nicht so, als wenn er sie aus Trauer tragen würde. Eher so als wenn das sein Stil wäre.
Mir wurde leicht mulmig zu Mute, als ich mir sicher war, das er wirklich vor dem Grab meines Vaters stand, und nicht vor irgendeinem anderen.
„Entschuldigung? Wer sind Sie?“ traute ich mich zu fragen und er sah augenblicklich auf.
Ich brauchte einen Moment um sein Gesicht sehen zu können, aber dann fing mein Herz an in einer unglaublichen Geschwindigkeit zu schlagen.
„Mila.“ hörte ich ihn, es klang aber nicht wie eine Frage. Er wollte auf mich zugehen, aber ich war schneller. Nachdem ich seine Stimme gehört hatte war es klar. Meine Augen täuschen mich nicht.
„Lucas!“ rief ich, während sich meine Augen mit Tränen füllten und ich in seine Arme lief, um ihn fest zu umarmen.

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