Die Morgensonne kämpfte sich gerade durch die kahlen Baumkronen, und der erste Frost glitzerte auf den Ästen. Emilia hatte sich heute besonders motiviert und bereit gefühlt. In ihrer frisch erstandenen Trainingskleidung, die Felix ihr am Vortag aufgedrängt hatte, stand sie am Eingang des Gartens und wartete auf ihn. Doch von Felix war weit und breit keine Spur. Sie schaute sich irritiert um, als plötzlich eine warme Hand sanft ihren Rücken berührte. „Da bist du ja," begann Emilia, doch bevor sie mehr sagen konnte, wurde sie schon Richtung Ausgang geschoben. „Was...? Ich dachte, wir trainieren?"
„Oh, wir werden trainieren, Mieze," antwortete Felix mit einem amüsierten Lächeln, das seine Augen leicht funkeln ließ. „Komm."
Er nahm ihre Hand, fest, aber nicht unangenehm, und führte sie entschlossen zum Dorfausgang.
„Hey, warum hältst du meine Hand? Habe ich dir das erlaubt?" fragte Emilia herausfordernd und versuchte sich loszumachen, doch Felix ließ nicht los. „Was hast du vor? Und warum gehen wir in den Wald?" Felix warf ihr einen Seitenblick zu, und ein verschmitztes Grinsen erschien auf seinem Gesicht. „Damit ich ein bisschen Zeit alleine mit dir verbringen kann." Emilias Herz setzte für einen Moment aus, und ihre Schritte stockten. „Was?" fragte sie mit einer Mischung aus Verlegenheit und Verwunderung. Doch Felix wurde schnell ernster, blieb stehen und blickte ihr direkt in die Augen. „Nein, nein, im Ernst jetzt. Emilia, die anderen haben mir erzählt, dass du dich in deiner Bestiengestalt nicht gut zur Wehr setzen konntest." Seine Stimme war nun tief und ruhig, aber voller Nachdruck. „Und genau das trainieren wir jetzt."
Felix führte sie tiefer in den Wald, bis sie eine Lichtung erreichten, umgeben von hohen Tannen und knisterndem Frost unter ihren Füßen. Er ließ ihre Hand los und trat ein paar Schritte zurück.
„Also, Mieze," begann er, doch Emilia hob sofort eine Hand. „Nenn mich nicht so," forderte sie, doch Felix grinste nur leicht. „Wie auch immer. Verwandle dich," sagte er gelassen.
Emilia zögerte für einen Moment, doch sie konzentrierte sich und ließ ihre Bestiengestalt zu. Ihr Körper veränderte sich, ihre Muskeln spannten sich, und in wenigen Augenblicken stand sie in ihrer Tigerform vor ihm. Ihr kastanienbraunes Fell glänzte im Licht der Morgensonne, und ihre kastanienfarbenen Augen leuchteten golden.
Felix, der sie aufmerksam beobachtet hatte, starrte sie einen Moment an, bevor er ein schlichtes, ehrliches „Wow" aussprach. „Du bist wunderschön."
Emilias Herz begann zu rasen, und sie merkte, wie ihre Pfoten unruhig den Boden unter ihr drückten. Sie fühlte, wie die Röte in ihre Wangen schoss, doch sie bemühte sich, Haltung zu bewahren.
„Danke," murmelte sie leise, fast zu leise, während sie ihn beobachtete.
„Jetzt ich," sagte Felix, der sich nun ebenfalls verwandelte. Seine Gestalt wurde größer, breiter, und ein tiefes Grollen kam aus seiner Kehle. In wenigen Augenblicken stand ein massiver Werwolf vor ihr, seine dunklen Locken flossen wie eine Mähne um seinen Kopf, und seine goldenen Augen funkelten im Licht.
„Bist du eingeschüchtert?" fragte er mit einem herausfordernden Ton.
Emilia schüttelte den Kopf und reckte sich ein wenig. „Nein. So leicht bin ich nicht zu beeindrucken oder zu verängstigen." Felix grinste breit, seine Zähne blitzten gefährlich auf. „Gut. Dann lass uns sehen, ob du das durchhältst."
„Was hältst du von einem kleinen Wettkampf?" fragte Emilia plötzlich, ihre Bestien-Augen voller Tatendrang.
Felix hob interessiert eine Augenbraue. „Ein Wettkampf? Ich bin ganz Ohr."
„Wer als Erster da oben am Hügel ist," sagte Emilia und nickte zu einem Berg, der am Rande der Lichtung aufragte. „Wenn ich gewinne, hörst du auf, mich Mieze zu nennen."
Felix lachte tief. „Und wenn ich gewinne?"
Emilia dachte einen Moment nach. „Dann darfst du mich weiter ärgern." Seine Blick wirkte einen Moment voller Tiefe. „Das klingt fair," sagte Felix mit einem verschmitzten Grinsen. „Aber bereite dich schon mal darauf vor, zu verlieren."
Beide gingen in Position, ihre Gestalten angespannt, ihre Blicke fixiert auf den Hügel.
„Los!" rief Emilia, und beide schossen gleichzeitig los. Der Boden raste unter ihren Pfoten dahin, Äste und Schnee spritzten in die Luft, als sie sich durch das Dickicht kämpften. Felix war schnell und kräftig, sprang mühelos über Hindernisse, doch Emilia war wendig und fand kleine Pfade, die sie schneller voranbrachten.
Sie spürte, wie die Kälte ihre Muskeln prickeln ließ, doch sie ließ nicht nach. Felix war knapp hinter ihr, und sie konnte sein gleichmäßiges Atmen hören.
Mit einem letzten Satz erreichte Emilia den Gipfel, nur wenige Sekunden vor Felix. Sie drehte sich triumphierend um und sah ihn herausfordernd an.
„Ich habe gewonnen," schnurrte sie zufrieden.
Felix schnaubte, sichtlich beeindruckt, aber auch ein wenig genervt. „Knapp, aber gewonnen ist gewonnen. Ich nehme an, du willst jetzt, dass ich dich Emilia nenne."
„Genau," sagte sie mit einem selbstzufriedenen Grinsen. Felix verzog das Gesicht. „Ich bin kein Fan davon. Wie wäre es mit... Amy?"
Emilia dachte kurz nach und nickte dann. „Das gefällt mir. Amy ist in Ordnung."
Felix grinste wieder. „Na gut, Amy. Aber das heißt nicht, dass ich dich weniger ärgern werde."
Emilia rollte mit den Augen, konnte jedoch das Lächeln nicht unterdrücken.
Der Wettkampf war beendet, doch Emilia fühlte sich beflügelt. Felix mochte anstrengend sein, aber es gab etwas an ihm, das sie gleichzeitig herausforderte und faszinierte. Und während sie zusammen den Berg hinabgingen, wusste sie, dass dies erst der Anfang war. Wieder unten angekommen, ließ Emilia die Anspannung langsam aus ihrem Körper weichen. Sie atmete tief durch und sah Felix an, der ihr dicht auf den Fersen gefolgt war. Er war in seiner Bestiengestalt geblieben, während sie sich gerade wieder in ihre humanoide Form zurückverwandelte. Seine goldenen Augen ruhten auf ihr, und ein schiefes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
„Was machen wir jetzt?" fragte Emilia vorsichtig und wischte sich eine Schneeflocke von der Stirn.
Felix verwandelte sich augenblicklich zurück in seine humanoide Gestalt, riss sich ein paar Blätter vom Mantel und sah sie herausfordernd an. „Oh, jetzt kämpfen wir."
Emilia blinzelte ihn ungläubig an. „Was? In dieser Gestalt?" „Natürlich," sagte Felix mit einem Hauch von Spott in der Stimme. „Oder hast du Angst, mich zu kratzen?" „Ich meine es ernst," erwiderte Emilia und schob eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. „Was, wenn ich dir wehtue? Ich bin stärker, als ich aussehe." Felix lachte leise, ein tiefes, warmes Lachen, das durch die Luft schnitt. „Mieze - entschuldige, Amy - wenn du mir wehtust, verspreche ich dir, ich halte das aus."
Emilia biss sich auf die Unterlippe und nickte schließlich, auch wenn sie sich nicht ganz sicher fühlte. Felix trat ein paar Schritte zurück, ließ die Schultern kreisen und nahm eine lässige Kampfhaltung ein. „Los, greif mich an. Zeig mir, was du kannst."
Emilia zögerte, spannte dann aber ihre Muskeln an und verwandelte sich erneut in ihre Tigerform. Sie warf sich mit einem Satz auf ihn, doch Felix wich mühelos zur Seite aus. „Schneller," rief er. „Und präziser!" Sie machte einen weiteren Sprung, doch Felix duckte sich geschickt, griff nach ihrer Vorderpfote und drehte sie aus dem Gleichgewicht. Emilia landete im Schnee, rollte sich jedoch rasch ab und ging wieder in Position.
„Das war gut," kommentierte Felix mit einem scharfen Blick. „Aber du bist zu berechenbar. Versuch's nochmal."
Emilia knurrte leise, doch diesmal schaltete sie schneller. Sie sprang vor, doch mitten in der Bewegung ließ sie ihre Bestiengestalt fallen und trat ihn stattdessen in ihrer humanoiden Form. Felix war überrascht, blockte den Angriff aber instinktiv ab.
„Nicht schlecht," sagte er grinsend. „Jetzt hast du's verstanden. Wechsel zwischen den Gestalten. Nutze die Überraschung."
Emilia nickte und konzentrierte sich. Der Trick, zwischen den Gestalten hin und her zu wechseln, fiel ihr schwerer, als sie dachte. Doch mit jedem Angriff wurde sie schneller, präziser. Felix gab ihr nur wenig Raum, ihre Bewegungen zu überdenken, und sie musste intuitiv handeln. „Das ist es," lobte er, während er sie erneut in die Defensive drängte. „Aber du bist immer noch zu vorsichtig. Komm schon, Amy, wo bleibt die wilde Tigerin in dir?"
Emilia holte tief Luft und gab alles, um ihn zu überraschen. Mit einem plötzlichen Sprung verwandelte sie sich zurück in ihre Bestiengestalt, raste auf ihn zu und streckte ihre Krallen aus - doch Felix war schneller.
Er wich ihrem Angriff aus, packte sie an der Flanke und nutzte ihr Momentum, um sie herumzuwirbeln. Bevor sie reagieren konnte, drückte er sie sanft, aber bestimmt in den Schnee. Emilia schnaufte schwer, ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, und sie spürte, wie seine warme Hand gegen ihre Schulter drückte.
„Du hast verloren," flüsterte Felix mit einem leichten Grinsen, während er über ihr kniete.
„Nur knapp," brachte Emilia keuchend hervor, doch ihre Stimme verlor sich, als Felix' Blick intensiver wurde. „Weißt du," begann er, seine Stimme wurde sanfter, fast rau, „du bist wirklich beeindruckend. Nicht nur in der Bestiengestalt, sondern auch so."
Emilias Atem stockte, als sie die Wärme in seinen Augen sah. Bevor sie protestieren konnte, beugte sich Felix langsam zu ihr hinunter. Sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut, und ihr Herz setzte einen Moment aus, als seine Lippen ihre berührten.
Der Kuss war sanft, warm und voller Intensität.
Felix hielt sie mit einer Hand am Rücken, während die andere vorsichtig an ihrem Hals ruhte. Emilia wollte erst zurückweichen, doch stattdessen ließ sie es zu. Ihr Herz hämmerte so laut, dass sie dachte, er müsste es hören. Es war... schön. Sie hasste es, wie sehr ihr dieser Moment gefiel.
Doch genau das war es, was sie verwirrte.
Als der Kuss endete, blieben ihre Gesichter nah beieinander, und Felix betrachtete sie mit einem leichten Lächeln. „Du bist etwas Besonderes, Amy."
Doch Emilia fühlte die Hitze in ihren Wangen und die Verwirrung in ihrem Inneren. Ohne ein Wort schob sie ihn sanft von sich und richtete sich auf. Sie wich seinem Blick aus, drehte sich um und begann, zurück Richtung Lichtung zu laufen.
„Amy?" rief Felix ihr nach, doch sie blieb nicht stehen. Felix blieb im Schnee sitzen und beobachtete, wie sie davonging. Sein Lächeln verschwand, und er ließ sich zurück in den Schnee fallen, den Blick auf den Himmel gerichtet.
Emilia blieb abrupt stehen, ihre Schultern hoben und senkten sich in tiefem Atem, bevor sie sich langsam zu Felix umdrehte. Ihr Blick traf seinen, und in ihren Augen tobte ein Sturm, der ihn für einen Moment stocken ließ. Wut, Verwirrung, Verletzlichkeit - all das schien sich darin zu spiegeln, und es traf Felix wie ein Schlag.
Er wollte etwas sagen, doch sein Hals war wie zugeschnürt. Ihre Augen hielten ihn gefangen, und dann - genau in diesem Augenblick - sah er, wie sie ihn fortstieß. Nicht mit Worten, nicht mit Gesten, sondern allein durch den Schmerz, der in ihrem Blick lag.
Emilia schüttelte kaum merklich den Kopf, wandte sich ab und stapfte weiter, ihre Schritte fest und entschlossen, als wolle sie den Schnee unter ihren Füßen zermalmen. Jeder Schritt fühlte sich für Felix an, als würde sie ein weiteres Stück von sich mitnehmen, und doch blieb er wie versteinert zurück.
Der Schnee fiel dicht, seine eisige Kälte biss in seine Haut, doch Felix spürte nichts davon. Sein Herz raste, doch es fühlte sich an, als hätte sie es mitgenommen, ihn leer zurückgelassen. Noch immer sah er ihr hinterher, bis die Dunkelheit des Waldes sie verschluckte und nur noch die leichten Flocken in der Luft tanzten.
Er blieb reglos stehen, seine Hände ballten sich zu Fäusten. Er hatte gehofft, sie zu erreichen - doch jetzt wusste er, dass er es übertrieben hatte. „Zu früh...", murmelte er heiser, seine Stimme kaum mehr als ein Hauch.
Und während er immer noch in die Richtung starrte, in die sie verschwunden war, spürte er, wie sich ein Knoten in seiner Brust zusammenzog - schwer, unerträglich, und doch unausweichlich.
Mit einem letzten, zischenden Atemzug ließ er sich in den Schnee fallen, seine goldenen Augen auf den leeren Pfad gerichtet, auf dem sie ihm davonging. Das Knirschen ihrer Schritte war längst verstummt, doch das Echo davon hallte noch immer in seinem Inneren wider.
„Das lief nicht wie geplant," murmelte er zu sich selbst und schloss kurz die Augen.
Doch in seinem Inneren war kein Bedauern - nur die Hoffnung, dass sie ihre Gefühle irgendwann ordnen konnte.
--- Ein weiterer band Ende. -(für Verlag)
Emilia lief ziellos durch die kleinen Gassen des verschneiten Dorfes. Ihre Füße hinterließen flache Spuren im frisch gefallenen Schnee, doch sie schenkte ihnen kaum Beachtung. Die kalte Luft brannte leicht in ihrer Lunge, und der weiße Atem, der bei jedem Ausatmen vor ihrem Gesicht erschien, war ihr einziger Begleiter. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon unterwegs war. Es war einer dieser Momente, in denen man sich bewegte, nur um der Enge der eigenen Gedanken zu entkommen.
Nach einer Weile blieb sie stehen. Vor ihr lag ein kleiner Teich, dessen Oberfläche vom Winter fest verschlossen war. Der Schnee, der wie ein sanfter Schleier über das Eis fiel, bedeckte die Risse und Unebenheiten darunter. Emilia setzte sich auf eine alte Bank am Ufer. Der kalte Wind zog an ihrem Mantel, doch sie ignorierte ihn. Ihre Augen ruhten auf der glatten, vereisten Oberfläche, und es fühlte sich an, als würde sie in den stummen Tiefen ihrer eigenen Seele nach Antworten suchen.
„Was ist los mit mir?" Der Gedanke traf sie wie ein Schlag. Sie fühlte sich fremd in ihrer eigenen Haut, als wäre sie eine Schauspielerin in einem Stück, das sie nie geschrieben hatte. Die letzten Tage hatten ihre Gefühle auf den Kopf gestellt. Sie liebte die Jungs - sie wusste es, tief in ihrem Herzen - aber sie konnte nicht sagen, ob diese Liebe wirklich ihre eigene war. Ein neuer funke eine neue Seele kämpfte sich in ihren Geist und beanspruchte ihren Platz in ihrer Seele und ihrem Herzen. Emilia war es leid, ständig ihre Gefühle neu bewerten zu müssen. Sie begann, die Grenze zwischen ihrem eigenen Leben und den Erinnerungen einer ihrer vergangenen Existenzen infrage zu stellen - konnte sie überhaupt noch zwischen ihnen unterscheiden?
„Sind das überhaupt meine Gefühle? Oder sind es nur die Überbleibsel meiner vergangenen Leben?" Ihre Hände umklammerten die Kanten ihres Mantels fester. Es war, als würde die Erinnerung an ihre vergangenen Inkarnationen ihr Herz langsam zermürben. Jede Begegnung mit einer der Todsünden brachte eine neue Flut von Gefühlen mit sich, eine neue Verwirrung. Felix war das neueste Beispiel dafür. Der Kuss - dieser eine Moment, in dem sie sich von ihm angezogen fühlte - hatte sie zutiefst verunsichert.
„Was, wenn ich ihn nicht wirklich mag? Was, wenn das nur die Seele in mir ist, die ihn erkennt?" Ihre kastanienbraunen Augen starrten auf das Eis, während diese Fragen durch ihren Kopf wirbelten. Sie hatte nicht das Gefühl, die Kontrolle über ihre eigenen Emotionen zu haben. „Ich habe mein Leben lang nach meiner eigenen Identität gesucht... und jetzt frage ich mich, ob ich überhaupt noch ich selbst bin." Der Schnee fiel lautlos, doch in Emilias Kopf tobte ein Sturm. Sie dachte an die Jungs, an Alex, an Gray -Ash, Chaid und Jake. „Ich liebe sie, aber was, wenn diese Liebe gar nicht mir gehört? Was, wenn das nur die Pflicht der Hüterin ist, die mich zwingt, sie zu beschützen?" Sie fühlte sich plötzlich, als wäre sie nicht mehr als ein Werkzeug - ein Bindeglied, geschaffen, um die Essenzen zusammenzuhalten.
Aber was, wenn sie nicht stark genug war?
Was, wenn sie irgendwann einen von ihnen enttäuschen würde?
„Ich bin nicht Ari. Ich bin Emilia.
Aber wer bin ich wirklich?" Sie schluckte schwer und rieb ihre Hände aneinander, um sie zu wärmen.
„Bin ich eine eigenständige Person, oder bin ich nur ein Schatten meiner vergangenen Leben?"
Ihre Gedanken wanderten zurück zu Felix. Er hatte sie verwirrt. Sein Kuss hatte in ihr eine Welle von Gefühlen ausgelöst, die sie nicht einordnen konnte. Es war leidenschaftlich gewesen, fast schon überwältigend und doch hatte sie nicht widerstehen können. „Aber war das wirklich ich? Oder war das nur die Seele, die sich an ihn erinnerte?" Sie fühlte sich schuldig. Nicht wegen des Kusses selbst, sondern weil sie nicht wusste, ob sie ihn zugelassen hatte, weil sie es wollte, oder weil es etwas in ihr gab, das keine Wahl ließ. Sie dachte an die anderen Jungs. Sie waren immer da gewesen, immer ein Teil von ihr. Doch selbst bei ihnen spürte sie manchmal die Last der Vergangenheit.
„Wie soll ich wissen, ob ich sie liebe, wenn alles in meinem Leben von der Aufgabe der Hüterin überschattet wird?" Sie hatte Angst, dass diese Liebe nicht echt war, dass sie nur durch die Bindung zu den Sünden existierte. Ihnen fehlte jeder Vergleich, um die Liebe leichter einordnen zu können.
„Bin ich überhaupt mehr als ihre Hüterin?" Dieser Gedanke drückte schwer auf ihrer Brust. Sie hatte sich oft gefragt, ob die Jungs sie genauso lieben würden, wenn sie keine Verbindung zu den Sünden hätte. Was, wenn sie nur eine gewöhnliche Valkyrie wäre? Würden sie dann trotzdem an ihrer Seite sein? „Vielleicht ist das alles, was ich für sie bin - die Hüterin. Ihre Brücke. Ihr Kompass." Es fühlte sich manchmal so an, als würde die Rolle der Hüterin ihre eigene Persönlichkeit auslöschen.
Emilia fühlte sich plötzlich klein und unbedeutend. Sie wusste nicht, wie sie all diese Erwartungen erfüllen sollte. Die Jungs hatten sie auf ein Podest gestellt, doch sie fühlte sich nicht wie die starke Schamanin oder die tapfere Valkyrie, die sie in ihr sahen. „Ich habe Fehler gemacht. Ich habe Saphira fast gefährdet, weil ich nicht genug nachgedacht habe. Ich konnte Sedrick nicht die Stirn bieten. Und jetzt soll ich Felix beeindrucken, obwohl ich nicht mal weiß, wie ich mit ihm umgehen soll."
Langsam färbte sich der Himmel dunkler, und die ersten Sterne tauchten auf. Der Schnee hörte nicht auf zu fallen, und die Kälte kroch unter Emilias Mantel. Sie atmete tief durch und schloss für einen Moment die Augen. „Ich brauche Klarheit. Ich muss herausfinden, wer ich wirklich bin - nicht als Hüterin, sondern als Emilia."
Als sie die Augen wieder öffnete, fiel ihr Blick auf die Spiegelung des Mondes im Eis. Er schien sie zu beobachten, als würde er Antworten bereithalten, die sie selbst noch nicht gefunden hatte. Doch sie wusste, dass diese Antworten nicht vom Himmel fallen würden. Sie musste sie in sich selbst finden.
Langsam erhob sie sich von der Bank, der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln.
„Ich liebe sie. Aber ich muss herausfinden, ob es meine Liebe ist - oder nur die ihrer Hüterin." Mit diesem Gedanken machte sie sich auf den Weg zurück, ohne zu wissen, wohin genau ihre Schritte sie führen würden.
Emilia kehrte zurück ins Haus, ihre Schritte langsam und schwer. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, und der Schnee, der sich auf ihren Mantel gelegt hatte, begann in der warmen Luft zu schmelzen. Als sie die Tür öffnete, blickten ihr besorgte Gesichter entgegen. Alex, Gray, Jake, Ash, Chaid und Felix saßen zusammen, offensichtlich mitten in einer hitzigen Diskussion.
„Was hast du dir dabei gedacht, Felix?" Jake klang wütend, seine Augen funkelten gefährlich. „Du hättest sie nicht so unter Druck setzen dürfen. Sie braucht Zeit, nicht noch mehr Chaos!"
Felix zuckte mit den Schultern, eine unbeeindruckte Miene aufgesetzt. „Chaos? Sie muss lernen, mit solchen Situationen umzugehen. Oder wollt ihr sie in Watte packen? Ihr wisst genauso gut wie ich, dass das nicht funktioniert."
„Das ist nicht der Punkt!" Alex' Stimme war ungewöhnlich scharf. „Sie war aufgewühlt, und du hast sie noch weiter überfordert. Das war unnötig!"
Felix schnaubte. „Unnötig? Ihr tut gerade so, als hätte ich sie in einen Abgrund gestoßen.
Ich habe sie nur herausgefordert. Und wisst ihr was? Sie hat sich gut geschlagen. Ihr solltet mir dankbar sein."
Emilia räusperte sich, ihre Stimme leise, aber bestimmt. „Genug."
Alle Augen richteten sich auf sie. Felix hob eine Augenbraue, während Alex und Jake aufstanden, um auf sie zuzugehen. „Emilia, geht es dir gut?" Alex' Stimme war sanft, fast flehend.
„Ich bin okay", antwortete sie und schloss die Tür hinter sich. Sie schob den Mantel von ihren Schultern und trat in den Raum. „Aber wir müssen reden. Alle von uns." Emilia ließ sich auf einen freien Platz am Tisch nieder, ihre Hände fest ineinander verschränkt. Sie suchte nach den richtigen Worten, während die Jungs gespannt auf sie warteten. Schließlich brach sie das Schweigen:
„Ich liebe euch." Ihre Stimme zitterte leicht, aber sie sprach weiter. „Ich liebe jeden Einzelnen von euch. Aber... ich weiß nicht, ob diese Gefühle echt sind. Oder ob sie nur ein Überbleibsel meiner vergangenen Leben sind."
Die Worte hingen schwer im Raum. Alex' Gesichtsausdruck wurde schmerzlich, Jake verschränkte die Arme und sah zur Seite, und Ash rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. Felix hingegen beobachtete sie aufmerksam, ohne ein Wort zu sagen. „Was meinst du damit?" fragte Chaid schließlich, seine Stimme leise, fast ängstlich.
„Ich... ich weiß nicht, ob das, was ich fühle, wirklich von mir kommt. Oder ob es nur die Verbindung ist, die wir durch meine Seele teilen."
Emilias Stimme wurde fester. „Jedes Mal, wenn eine neue Sünde auftaucht, fühle ich mich überwältigt. Felix, du bist da keine Ausnahme. Ich weiß nicht, ob das echte Gefühle sind oder ob meine Seele mir das nur aufzwingt."
Felix lehnte sich zurück, seine Arme vor der Brust verschränkt. „Also sagst du, dass du uns nicht wirklich liebst?" Seine Tonlage war neutral, aber in seinen Augen funkelte etwas, das sie nicht deuten konnte. „Das sage ich nicht!" Emilia hob die Hände, um ihn zu unterbrechen.
„Ich sage nur, dass ich mir nicht sicher bin.
Und das macht mich wahnsinnig. Ich kann so nicht weitermachen, nicht ohne herauszufinden, ob das wirklich meine Gefühle sind."
Jake lehnte sich vor, seine Stimme ruhig, aber fest. „Und was willst du tun, Emilia? Willst du uns wegstoßen, nur um zu testen, ob du uns vermisst?"
„Nein", sagte sie schnell. „Ich will euch nicht wegstoßen. Aber ich brauche klare Grenzen.
Ich brauche Zeit, um das herauszufinden.
Das bedeutet..." Sie holte tief Luft. „Das bedeutet keine Küsse, keine Zärtlichkeiten, keine romantischen Gesten. Zumindest für eine Weile."
Alex wirkte wie vor den Kopf gestoßen, seine Stimme war leise, aber durchdrungen von einer schmerzlichen Verwunderung. „Emilia, du weißt, dass wir dich lieben, oder? Warum denkst du, dass wir dich beeinflussen würden?"
Emilia sah ihn an, ihre Augen glitzerten vor zurückgehaltener Emotion. „Ich denke das nicht," erklärte sie. „Aber ich bin nicht sicher, ob ich mich selbst beeinflusse. Ob ich nur das fühle, was meine Seele mir sagt, oder ob es wirklich aus meinem Herzen kommt."
Ash nickte langsam, seine Stirn in Falten gelegt. „Das macht Sinn. Aber Emilia... was, wenn du dadurch mehr kaputt machst als heilst? Was, wenn du dich dadurch von uns entfernst?"
Emilia schwieg einen Moment, bevor sie schließlich leise antwortete: „Dann ist das ein Risiko, das ich eingehen muss."
Die Stille im Raum war beinahe erdrückend. Schließlich holte Emilia tief Luft, ihre Hände ballten sich nervös zu Fäusten, bevor sie weitersprach.
„Ich habe Angst," begann sie, ihre Stimme bebte leicht. „Ich habe Angst, dass ihr mich nur als die Hüterin seht. Dass ich für euch nicht mehr bin als diese Rolle, als diese... Funktion. Und dass ich als Person... als Emilia... nie wirklich existiere."
Die Worte schwebten schwer im Raum, und die Jungs starrten sie an, als hätte sie ihnen die Luft aus den Lungen geraubt.
Alex' Kiefer spannte sich an, und er trat einen Schritt zurück, als ob ihn die Worte körperlich getroffen hätten. „Wie kannst du das sagen?" fragte er, seine Stimme leise, aber voller Schmerz. „Nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben?"
Jake knurrte leise, sein Blick hart. „Das glaubst du wirklich? Dass wir dich nur als Hüterin sehen?
Das ist... das ist verdammt unfair, Emilia."
Gray sah sie mit einer Mischung aus Trauer und Verletzung an, sein Ton sanft, aber durchdringend. „Wir haben dir gezeigt, wie wichtig du uns bist. Und du denkst, wir sehen dich nicht als die Person, die du bist?"
Chaid lachte bitter, seine Stimme voller Selbstverteidigung. „Wenn das alles wäre, Emilia, dann hätten wir längst aufgegeben. Aber wir sind immer noch hier. Für dich."
„Und trotzdem..." Emilia's Stimme brach leicht, aber sie hielt stand. „Ihr sagt, ihr seid hier für mich, aber wie kann ich sicher sein, dass es wirklich mich betrifft und nicht nur das, was ich repräsentiere?" Sie sah in die Runde, ihre Augen voller Schmerz und Zweifel. „Wie kann ich wissen, dass ich nicht nur wegen meiner Rolle hier bin?
Dass ihr... mich... nicht nur als Werkzeug für die Hüterin seht?"
Die Jungs blieben stumm, jeder von ihnen sichtlich getroffen.
Felix, der sonst immer etwas zu sagen hatte, knurrte schließlich leise. „Das... das ist Schwachsinn, Emilia. Aber wenn du das wirklich denkst... dann weiß ich nicht, wie wir dir beweisen sollen, dass du falsch liegst."
Alex biss die Zähne zusammen und wandte den Blick ab, als ob er eine harsche Antwort zurückhalten musste.
Jake rieb sich mit der Hand übers Gesicht, sein Ton scharf. „Vielleicht willst du es auch einfach nicht sehen. Vielleicht willst du uns von dir wegstoßen, weil du Angst hast, dass wir dir wirklich nah sind."
„Genug!" Gray's Stimme war ruhig, aber bestimmend. Er sah Emilia direkt an. „Wenn das deine Angst ist, dann müssen wir das akzeptieren. Aber es ändert nichts daran, was wir für dich empfinden."
Emilia sah jeden von ihnen an, ihre Stimme war ein Flüstern: „Ich... ich weiß nicht, ob ich euch glauben kann. Nicht jetzt."
Die Spannung im Raum war fast greifbar, als sich eine unsichtbare Kluft zwischen ihr und den Jungs auftat. Sie wollte sich entschuldigen, wollte zurückrudern, aber etwas in ihr hielt sie davon ab.
Alex' Gesicht wurde hart, bevor er sich abwandte. „Wenn das wirklich das ist, was du glaubst... dann weiß ich nicht, was wir noch sagen können."
Einer nach dem anderen schwiegen die Jungs, und Emilia fühlte, wie der Abstand zwischen ihnen wuchs - eine Leere, die sie selbst geschaffen hatte, um sich zu schützen, und die sie gleichzeitig zu verschlingen drohte.
Gray warf ruhig, aber bestimmt ein: „Emilia, tu das nicht. Stoß uns nicht von dir weg." Emilia sah ihn mit traurigen, aber entschlossenen Augen an, ohne auch nur den Hauch eines Anzeichens zu zeigen, dass sie einknicken würde.
Felix schnaubte und lehnte sich nach vorne.
„Du machst dir viel zu viele Gedanken, Amy."
„Felix-" begann Jake, aber Felix hielt die Hand hoch. „Nein, lasst mich ausreden."
Er sah Emilia direkt an, seine Augen durchdringend. „Ich verstehe, was du meinst. Aber du wirst keine Antworten finden, wenn du dich nur in deinem eigenen Kopf verkriechst. Du musst rausgehen, die Dinge erleben. Lass uns dir zeigen, was wir fühlen. Und dann kannst du entscheiden."
Emilia hielt seinem Blick stand, ihre Augen glitzerten vor Emotionen. „Und was, wenn ich mich entscheide, dass ich euch nicht liebe?"
Felix grinste schief. „Dann brechen wir uns alle das Herz und machen trotzdem weiter. Weil das ist, was wir tun, Amy. Wir stehen dir zur Seite, egal, was du entscheidest." Am Ende waren sich alle einig. Sie würden Emilias Entscheidung respektieren und ihr die Zeit geben, die sie brauchte. Doch die Stimmung blieb gedrückt, und Emilia spürte das Gewicht ihrer Worte auf allen Schultern.
Als sie später allein in ihrem Zimmer saß, welches kurzer Hand für sie eingerichtet wurde dachte sie über die Gespräche nach. Es war ein schwieriger Schritt, aber sie wusste, dass es der richtige war.
Sie musste herausfinden, was sie wirklich fühlte - nicht nur für die Jungs, sondern auch für sich selbst.
Draußen heulte der Wind, und Emilia zog sich die Decke fester um die Schultern. Es würde keine leichte Reise werden, aber sie war bereit, sich ihr zu stellen.
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Die Jungs lagen im abgedunkelten Raum ihres Zimmers. Jeder von ihnen war wach, obwohl niemand ein Wort sprach. Die Atmosphäre war dicht, fast erdrückend, und die Stille machte ihre unausgesprochenen Gedanken fast hörbar.
Jake war der Erste, der seine Stimme erhob, leise, aber mit einer Schärfe, die die Spannung im Raum durchbrach. „Ich schwöre, ich versteh sie nicht. Wie kann sie so etwas sagen? Nach allem, was wir für sie getan haben?" Seine Hände ballten sich zu Fäusten, die Bettdecke spannte sich unter dem Druck.
„Es ist, als ob sie alles, was wir ihr gezeigt haben, einfach... ignoriert."
Ash brummte zustimmend, seine Stimme klang schläfrig, aber gereizt. „Ich mein, ernsthaft? Zu denken, wir sehen sie nur als Hüterin? Was glaubt sie, was wir all die Zeit gefühlt haben?
Es ist, als hätte sie keinen Funken Vertrauen in uns." Er starrte an die Decke und schnaubte. „Vielleicht sollten wir's einfach lassen. Wenn sie uns wegstoßen will, warum sollten wir's ihr schwer machen?"
Gray, der sich bisher still gehalten hatte, drehte sich zur Seite und sah Ash mit einem kühlen Blick an. „Das meinst du nicht ernst, Ash. Du bist nur wütend." Seine Stimme war ruhig, aber seine Augen verrieten seine eigene Verletztheit. „Aber ich versteh dich. Es ist schwer, sie so reden zu hören, als wären wir... als wäre das alles nur Pflicht. Als wären wir nur hier, weil sie irgendein Schicksal repräsentiert."
Chaid warf den Kopf in die Kissen und lachte bitter. „Das ist doch das Verrückte, oder? Sie glaubt wirklich, wir sehen sie nicht als sie selbst. Emilia, die alles durcheinanderbringt und gleichzeitig alles zusammenhält. Wie kann sie so blind sein?" Er seufzte und rieb sich über die Stirn. „Es macht mich wütend, weil... weil sie uns nicht einmal die Chance gibt, zu beweisen, dass sie falschliegt."
Felix, der in einer Ecke des Raums saß, den Rücken an die Wand gelehnt, knurrte leise. „Blind? Vielleicht. Aber ehrlich? Ich bin es leid, ihr alles erklären zu müssen. Wie oft sollen wir wiederholen, dass sie mehr ist als nur eine Hüterin? Wenn sie es nicht sehen will, dann... was sollen wir machen?" Seine Stimme klang rau vor Frustration, aber auch mit einem Anflug von Resignation. „Sie hat es geschafft, uns alle wie Idioten dastehen zu lassen."
Alex seufzte leise, sein Blick durchbohrte die Dunkelheit. „Ich denke, sie hat Angst."
„Angst?" wiederholte Jake bissig. „Das gibt ihr nicht das Recht, uns so zu behandeln."
„Nein," erwiderte Alex, „aber... es erklärt, warum sie sich so verhält. Trotzdem..." Er schloss kurz die Augen, seine Stimme verlor sich in einem bitteren Ton. „Ich weiß nicht, wie wir wieder zu ihr durchdringen sollen. Und ehrlich gesagt... ich weiß auch nicht, ob ich es gerade versuchen will."
Die Stille kehrte zurück, doch diesmal war sie noch schwerer. Jeder von ihnen hatte etwas gesagt, aber keiner fühlte sich dadurch leichter. Es war, als ob Emilias Worte nicht nur ihre Verbindung erschüttert, sondern auch sie selbst auseinandergerissen hätten.
Felix durchbrach die Stille ein letztes Mal. „Ich weiß nur eins. Wenn sie sich entschuldigen will... dann muss sie diesmal den ersten Schritt machen. Ich renn ihr nicht hinterher."
Jake grummelte zustimmend. „Das... klingt nach einem Plan."
Keiner widersprach. Die Stille kehrte zurück, doch der Zorn und die Verletztheit blieben wie ein unsichtbarer Schatten zwischen ihnen hängen.
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Emilia lag auf ihrem Bett, doch die Dunkelheit der Nacht brachte ihr keinen Trost. Ihre Gedanken kreisten immer wieder um die Worte, die sie am Abend zuvor gesprochen hatte. Die Reaktionen der Jungs, die Mischung aus Verständnis und Schmerz in ihren Blicken, brannten sich in ihr Herz.
Sie fühlte sich, als hätte sie ihnen die Luft zum Atmen genommen, und doch wusste sie, dass sie das Richtige getan hatte - zumindest glaubte sie das.
Doch warum fühlte sich das Richtige so zerstörerisch an?
Der Morgen brach an, und Emilia hatte kaum ein Auge zugetan. Das graue Licht, das durch die Fenster fiel, spiegelte ihre Stimmung wider. Sie war müde, innerlich zerrissen, aber sie würde sich nicht gehen lassen. Mit einem tiefen Atemzug schwang sie sich aus dem Bett, zog ihre Sportkleidung an und machte sich auf den Weg in den Garten.
Die Kälte des Morgens begrüßte sie mit einem frostigen Kuss auf der Haut. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, und der Atem bildete kleine Wolken vor ihrem Gesicht. Emilia ballte ihre Hände zu Fäusten. Sie hatte keine Zeit für Selbstmitleid - sie musste sich auf etwas konzentrieren, etwas Greifbares. Das Training war genau das, was sie jetzt brauchte.
Als sie den Garten erreichte, war Felix bereits da.
Er stand mit verschränkten Armen, seine Haltung aufrecht und wachsam. Seine goldenen Augen musterten sie, doch sein Gesicht zeigte keine Spur des üblichen Spotts oder der Neckerei. Es war ernst, fast kühl.
„Du bist früh dran," sagte er schließlich, seine Stimme ruhig, fast beiläufig.
Emilia nickte knapp. „Ich will einfach anfangen."
Felix schien ihre Stimmung zu erkennen und machte keine Anstalten, sie herauszufordern. „Gut. Dann wärmen wir uns auf."
Das Training verlief ungewohnt still. Felix gab klare, präzise Anweisungen, und Emilia führte sie konzentriert aus. Ihre Bewegungen waren energisch, fast verbissen, während sie die Übungen ausführte. Felix ließ sie laufen, springen, ausweichen, schlagen - er passte das Training an, ohne ein einziges bissiges Wort zu verlieren.
Er beobachtete sie aufmerksam, seine Augen folgten jedem ihrer Schritte, doch er sagte nichts, was sie reizen könnte. Es war ein reines Training, fokussiert und ernsthaft.
Emilia konnte die Erschöpfung in ihren Muskeln spüren, doch sie trieb sich weiter an. Jeder Schlag, jeder Tritt war ein Ventil für die Wut, die Frustration, die Trauer, die in ihr tobten. Felix schien das zu spüren. Er ließ sie gewähren, hielt den Fokus auf ihrer Technik, auf ihrer Haltung.
Irgendwann, während sie versuchte, eine komplizierte Abfolge von Schlägen und Ausweichmanövern auszuführen, stolperte sie und fiel in den Schnee. Sie blieb dort sitzen, den Kopf gesenkt, während ihr Atem schwer und ungleichmäßig ging. Felix blieb zunächst still, doch schließlich kniete er sich vor sie.
„Du hast genug für jetzt," sagte er leise, seine Stimme war fast sanft.
Emilia schüttelte den Kopf, wollte aufstehen, doch Felix hielt sie am Arm zurück. „Du kannst nicht alles auf einmal bewältigen, Amy. Du kannst dir nicht alles aus dem Kopf trainieren."
„Ich muss aber!" rief sie, ihre Stimme bebte. „Ich muss besser werden. Stärker. Wenn ich das nicht mache... dann..."
Felix' Griff wurde etwas fester, aber nicht schmerzhaft. „Du kannst dich nicht kaputtmachen, Amy. Das hilft niemandem - am wenigsten dir selbst."
Seine Worte trafen sie, doch sie wusste nicht, wie sie darauf antworten sollte. Schließlich sah sie weg, ihre Augen suchten den schneebedeckten Boden, während ihre Hände in den kalten Schnee fielen. Felix stand auf und reichte ihr die Hand.
„Komm. Du brauchst eine Pause. Wir machen später weiter."
Emilia nahm seine Hand widerwillig, ließ sich auf die Füße ziehen und klopfte den Schnee von ihrer Kleidung. Sie spürte die Erschöpfung in ihren Gliedern, doch sie nickte schließlich. Sie folgte Felix wortlos zurück ins Haus, doch ihr Herz fühlte sich noch immer schwer an.
Die Jungs warteten bereits im Inneren, ihre Blicke suchten sie. Doch Emilia war zu müde, um zu sprechen. Sie wusste, dass sie sich irgendwann ihren Gefühlen stellen musste. Aber nicht heute. Heute war sie zu zerbrechlich.
Und während die Nacht langsam näher rückte, versprach sie sich, einen Weg zu finden - für sich selbst, für die Jungs, und für die Wahrheit ihrer Gefühle.
Als jeder von ihnen schließlich versuchte, Schlaf zu finden, war sich doch jeder insgeheim bewusst, dass Emilia das Recht hatte, so zu fühlen. Sie hatten keine Zweifel daran, dass sie bei ihr bleiben würden, komme, was wolle. Doch der Schmerz ihrer Worte saß tief, und es würde nicht leicht werden, diese zu vergessen.
Die Kluft zwischen ihnen war spürbar, wie eine unsichtbare Barriere, die sie voneinander trennte. Aber auch wenn die Nacht schwer und der Schlaf fern war, blieb eines sicher: Ihre Verbundenheit zu Emilia würden sie nicht aufgeben - selbst wenn der Weg zurück zueinander alles andere als einfach sein würde.
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