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John wünscht, er könnte sagen, dass ihn das Schicksal mal kann. Er wünscht, ihm wäre die ganze Sache mit dem Namen egal.
Und vielleicht wäre es ihm egal, stünde nichts auf seinem Arm. Er könnte sein Leben leben, wie er es möchte, ohne ständig daran zu denken, ob Esra hinter der nächsten Ecke auf ihn lauert. Was, wenn sie sich erst in nochmal dreißig Jahren begegnen? Würde er die genau wie die vergangenen dreißig damit zubringen, ständig auf die noch fremde Person zu warten?
Wäre er noch unbeschrieben, wäre er nicht ständig diesen Fragen ausgesetzt. Auf die Frage „Weißt du schon, wer es ist?" würde er ehrlich mit Nein antworten und würde nicht weiter belästigt werden. Er könnte selbst entscheiden, mit wem er welche Beziehung eingeht. Müsste nicht jede Freundschaft daran messen, was noch kommen würde. Liegt es an ihrer bedeutungsvollen Beziehung miteinander, die ihn nicht einschließt, dass er sich seinen Eltern gegenüber nie ganz geöffnet hat, oder liegt es an Esra? Daran, dass sowieso niemand sich mit dieser einen Person wird messen können.
John wünscht, ihm würden nicht alle seine Beziehungen derart belanglos vorkommen. Er würde gerne mehr Begeisterung zeigen für das Leben seiner Schwester. Seine Eltern häufiger besuchen und aus eigenem Antrieb. Seine Lehrerkollegen von der Abendschule hin und wieder zu einem Karaokeabend begleiten oder einen von ihnen zu einem Freund erheben. Doch das Schicksal zwingt ihn förmlich, ungeduldig auszuharren. Wann kommt Esra endlich in mein Leben? Wo werde ich Esra kennenlernen? In welcher Beziehung werden wir zueinander stehen? Wird Esra mich glücklich machen oder ist das etwa gar nicht Bestandteil einer Seelenverwandtschaft?
John fragt sich auch, ob Esra ein Mädchen sein wird, wie seine Eltern ganz automatisch dachten. Dann hat Anna (möglicherweise in einer absurden Art von Selbstverteidigung) darauf hingewiesen, dass der Name durchaus für beide Geschlechter gültig sei, und alle verwundert.
Er hat viele Geschichten von Seelenverwandten gehört und wie sie einander begegnet sind. Er bewundert die Einfachheit ihres Umgangs miteinander, das tiefe Verständnis, das sie füreinander haben. Und er neidet ihnen die absolute Glückseligkeit auf ihren Gesichtern, wenn sie in Abwesenheit des anderen über diesen sprechen.
Ihm ist längst aufgefallen, dass in vielen Geschichten die Betreffenden einander bereits kannten, ehe der schicksalhafte Schriftzug sie über ihre Beziehung zueinander in Kenntnis gesetzt hat. So wie bei seinen Eltern, bei denen die Namen auf magische Weise exakt zur gleichen Zeit erschienen. Oder wie bei William, der sofort gewusst hat, wer gemeint ist, als zur Geburt seiner Enkelin deren Name auf seinem Arm stand. Sogar Anna hat Simone erst kennengelernt und dann die bedeutungsvolle Beschriftung erhalten. Als würde das Schicksal es sich besonders leicht machen wollen, und sich für eine Paarung erst entscheiden, wenn eine gute Beziehung sich auftut. So wie bei Marcie, der das Schicksal den Namen ihres Bruders durchaus früher hätte aufzeigen können. Stattdessen hatte es gemütlich gewartet, bis es gerade gut lief. Auch hier fragt John sich, ob das Schicksal im Falle eines anderes Verlaufs eine andere Person für Marcie gewählt hätte. Oder ob ihre Seelenverwandtschaft schon seit ihrer Geburt vorgesehen war und eine frühere Offenbarung dessen dem einzigartigen Verlauf ihrer Beziehung im Wege gestanden hätte.
Es gibt auch ein paar Geschichten wie seine, in denen es anders herum läuft. Erst der Name auf dem Arm, jemand völlig Unbekanntes, dann die Begegnung. Nur kennt er niemanden, der so lange hat warten müssen.
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