Von Reaktionen und ihren Folgen
Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, in dem jeder das sein darf, was er will, lebte einst ein Mann, dessen schwarze Herkunft wegbereitend für seine Zukunft war. Michael wohnte in einem brüchigen Haus am Ende einer Massensiedlung, die extra für die schwarze Bevölkerung errichtet worden war. Im Garten stand ein altes Wellblechdach, dass den eigens angepflanzten Tomaten, Gurken und Kartoffeln vor prasselnden Regen schützen sollte. Die staubige Einfahrt, über die schon lange, wenn überhaupt jemals, ein Auto gefahren war, war aus grauem Asphalt. Graffiti zierten die Häuserwände in der großen Straße mit den vielen Wohnungen. Abgestorbene Bäume standen hie und dort, kahle Äste drückten die Ausweglosigkeit ihrer Situation aus.
„Ich hasse sie. Sie haben uns hierher verschleppt und nun müssen wir in so einem Loch hausen. Man! Ich hasse es. Ich hasse das alles hier. Ich hasse es!", wütend schmiss Michael den Löffel durch das geöffnete Küchenfester.
„Du sollst nicht so sprechen", sagte die Mutter. „Sollen deine Geschwister das hören, was du so sagst? Du bist kein Vorbild. Schäme dich. Und jetzt hol den Löffel, aber zack." Sie stand vor der Spüle und drehte sich in einem Moment von dem schmutzigen Wasser weg.
„Los!", ermahnte sie ihn erneut. „Denkst du es wird besser, wenn du das letzte, was wir haben, auch noch aus dem Fenster schmeißt? Denkst du, das löst deine Probleme? Sei wie ein richtiger Mann und löse deine Probleme mit Männlichkeit. Und leg diese Kette ab. Damit siehst du aus wie ein Mädchen." Ihre Hand ballte und öffnete sich.
Michael stand auf, ging aus dem Haus und suchte den Löffel. Es war nicht schwierig gewesen, in der blendenden Mittagssonne glänzendes Besteck zu finden. Zwischen dem vertrockneten Gras lag der Löffel auf der Erde. Michael verbrannte sich fast, als er ihn anfasste. „Scheiß Ding", fluchte er. Er kam zurück in das Haus, legte den Löffel auf den Tisch, blickte zum leeren Platz und sagte: „Kein Hunger mehr", bevor er wieder verschwand.
Kurz hinter seinem Haus setzte er sich auf den trockenen Boden. Seit sein Vater in Vietnam gefallen war, war das Leben nicht mehr das, was es vorher war. Er und seine drei Geschwister, die allesamt jünger waren als Michael, hatten sich verändert. „Das Leben war schon scheiße genug", dachte er sich, „muss es denn immer noch schlimmer werden?" Unbeantwortet stand seine Frage im Raum. Er blickte in den Himmel. „Ich hasse sie", flüsterte er, als er die weißen Wolken beobachtete. „Ich hasse diese Kartoffelfressen. Ich hasse es, was sie mit meiner Familie getan haben. Wenn ich nur einen in die Finger bekomme." Doch bevor er weiter nachdenken konnte, was er alles mit denjenigen anstellen würde, die er für schuldig empfand, sah er schon seine Freunde. Roy und Arthur, ebenfalls zwei Schwarze, kannten Michael schon seit ihrer Geburt. Sie hatten gemeinsam im Sandkasten gespielt, absolvierten die Elementary und flogen gemeinsam von der Junior High. Roy, Arthur und Michael waren zu diesem Zeitpunkt vierzehn Jahre alt gewesen. Inzwischen waren sie siebzehn und hatten seit drei Jahren keine Schule mehr von innen gesehen. Sie wohnten bei ihren Eltern und redeten häufig darüber, was alles anders wäre, wären ihre Familien vor Jahrhunderten nicht versklavt worden. Sie alle einte der Hass auf jene, die ihnen ihr Unrecht antaten. Der weiße Direktor, der die Probleme der schwarzen Kinder nicht verstand, der weiße Polizeiinspektor, der gerufen wurde und der weiße Richter, der gnadenlose Jugendstrafen gegen schwarze Jungen verteilte. Wie sie gemeinsam im Sandkasten spielten, waren sie auch gemeinsam in orangener Häftlingskleidung im Jugendgefängnis gewesen. Zwar waren es nur wenige Tage, da sich die verarmten Familien keine Kaution leisten konnten, aber immerhin: Roy, Arthur und Michael waren straffällige Polizeibekannte gewesen. Tief in ihrem Inneren wussten sie, dass sie nun keine Chance mehr hatten. „Ein Schwarzer steigt nicht auf, wenn er vorbestraft ist. Ich habe keine Chance mehr. Ich habe verschissen. Ich hasse das hier. Ich hasse dich!", hatte er einmal zu seiner Mutter gesagt, nachdem sie ihn fragte, ob es ihm gut gehe.
Michael stand auf, trat eine verbogene Cola-Dose, die auf einen Stein prallte und zurückgeschossen kam. Voller Wut nahm er sie, quetschte sie derart zusammen, wie er es nur konnte, und schmiss sie weit weg in einen Vorgarten. Gemeinsam gingen sie zu ihrem Gangplatz, riefen einem anderen Schwarzen noch: „Was guckst du'n so? Pussy" hinterher, der an ihnen nur beschämt vorbeiging. Als sie angekommen waren, zündeten sie sich eine Zigarette an. Sie rauchten gemeinsam. Sie lebten gemeinsam. Generell fühlten sie sich verbunden. Michael lächelte in dem Moment, er genoss ihn. Er genoss diese Momente immer, wenn er und seine Brüder, wie er alle Schwarzen nannte, gemeinsame Dinge machen. „Das ist cool", dachte er sich. Er und seine Brüder waren ein gemeinsamer Koloss gewesen, der nicht aufgehalten werden konnte. „Wenn wir eines Tages das Weiße Haus stürmen", sagte er und lächelte, „dann wird sich alles ändern", sie lachten gemeinsam über diese Idee. „Sie haben mir alles kaputt gemacht", sagte er dann wieder und zog kräftig an seiner Kippe. „Ich hasse diese verfickten Motherfucker. Ich hasse sie. Wenn sie könnten, würden sie uns immer noch in Zoos und Käfige sperren. Das würden sie tun, da bin ich mir sicher." Die anderen nickten. Auch sie, jeder einzelne von ihnen, hatte die Geschichte der weißen Übermacht tief in sich verankert.
„Wie läuft es eigentlich mit deiner Musik?", fragte Roy. Arthur nickte.
„Gut. Läuft richtig nice. Habe schon meine ersten Songs fertig", freute sich Michael.
„Sind das - richtige Songs? So voll mit Text und Musik?", fragte einer nach.
„Ja, was soll es denn sonst sein?", stolz zog er an seiner Zigarette.
„Junge, dann geh doch zum Plattenlabel!", warf einer ein.
„Meinst du? Ich weiß nicht. Wie soll ich denn dahinkommen?"
„Bruder, was fragst du mich. Wir machen das schon. Nicht wahr?", sah der eine zum anderen rüber. Der andere nickte.
„Bro. Wenn die dich nicht nehmen, dann kriegen die richtig was auf die Fresse."
„Hm", Michael nickte. „Lasst mich nur meine Sachen holen. In zwei Stunden am Busbahnhof. Tickets besorge ich." Sie trennten sich.
Es war schon dunkel gewesen. „Hast du's dabei?", fragte eine Gestalt im schwarzen Hoodie. „Ja, hier, man." Der andere blickte in das Kuvert und zählte nach.
„Was? Vertraust du mir nicht?"
„Standard", sagte er dann, bevor er ihm etwas überreichte.
„Danke man"
„Bis zum nächsten Mal." Sie verabschiedeten sich.
Der Busbahnhof am anderen Ende der Straße war genauso verkommen wie die Häuser, die sie schmückten. Dreck und verfaulte Abfälle lagen am Boden, dort machte keiner mehr sauber. Es war vor Jahren das letzte Mal gereinigt worden. Eine puerto-amerikanische Putzfrau erlitt einen Schuss in den rechten Oberarm, eine weiße Frau verschanzte sich in der Toilette. Seitdem hatte niemand mehr, schon gar nicht nachts, das Areal betreten. Ein paar dunkle Gestalten zeichneten sich im Schatten der Gaslampen ab. Insekten schwirrten umher, in der Ferne leuchteten die Häuser der weißen Bevölkerung. Roy und Arthur kamen dazu. „Es ist immer wieder komisch, hier zu sein", sagte einer von beiden und seine Stimme sprach ins Leere. „Sie hatten es verdient." Ruhe. „Der Bus kommt gleich", sagte Michael. Eine Neonlampe flackerte. Eine Katze fing eine Maus.
„Und du willst sicher kein Geld, man? Ich habs dabei."
„Passt", sagte er lässig.
„Wie läuft das jetzt eigentlich?", fragte der eine.
„Was?"
„Na mit der Musik und so. Du kommst da an - und dann? Singst du was vor?"
„Ich habs gebrannt", erwiderte Michael.
„Geiler Shit, man. Geiler Shit."
„Es geht um Nutten", sagte er wieder. „Um Huren, wie ich sie wegficke, die Drogen, die ich mir reinzieh und all den Scheiß, den wir erleben. Weiße haben vielleicht Macht, dafür sind wir männlich." Sie nickten sich zu und der Bus fuhr ein. Der Slum war der letzte Halt des Busses gewesen, bevor er nach Los Angeles fahren würde. Häufig sah man dunkle Gestalten um diese Uhrzeit dort stehen und der weiße Busfahrer, der automatisch an seine Handfeuerwaffe fasste, war davon nicht mehr überrascht gewesen. Erstaunt war er, als die drei den Bus bestiegen und ein gültiges Ticket vorzeigten. „Hm", entgegnete der Busfahrer den schwarzen Männern und ließ sie durch. Seine Linie fuhr die ganzen schwarzen Orte ab und hielt kein einziges Mal vor der Tür eines Weißen. Fast hätte der Busfahrer gesagt, wo sie sich hinzusetzen hatten, aber das wurde inzwischen nicht mehr praktiziert. Acht Jahre nach dem Civil Right Act konnten sich die drei jungen Männer einen Platz aussuchen, den sie wollten. „Das ist Freiheit", sagte Michael und lächelte. „Ruhe dahinten!", schrie der Busfahrer und fuhr grummelnd los. „Oder wollt ihr, dass ich euch wieder rausschmeiße? Kein Problem", so wurden sie still und sagten während der ganzen Fahrt kein einziges Wort. Ihre Blicke schweiften zu einem weißen jungen Mann, der in einer hinteren Reihe saß. Sein Schlüsselanhänger, der halb aus seiner Tasche blickte, bildete eine Eule auf einem Wappen ab. Sie sahen sich an.
Als sie angekommen waren, stiegen die drei Schwarzen aus und Michael sagte noch: „Eines Tages schlag ich dem die Fresse ein", die anderen stimmten zu. Während der Busfahrer Pause machte, pinkelten alle drei an seinen Wagen. Durch die verdreckten Scheiben konnten sie noch die Abdrücke der Aufkleber sehen, die auf die richtige Sitzpositionen für weiße und schwarze hinwies. Der Lack blätterte ab. Der junge Mann, mit denen sie im Bus saßen, ging an ihnen vorbei, er guckte kurz und drehte sich schnell weg. Er ging zügiger.
Die drei Männer zogen den Zipper ihres Reißverschlusses hoch und gingen ihm hinterher. Sein Herz puckerte. Er wusste, dass sie es wussten. Er bog ab. Sie folgten ihm. Er ging schneller. „Noch zwei Blocks", dachte er sich. Er bog ab. Sie folgten ihm. Sie schnappten ihn sich und stellten ihn an die Wand. „Na, du schwule Sau? Was treibt dich um diese Zeit hierher?", fragte Michael und umklammerte seinen Kopf. „Dass du dich überhaupt auf die Straße traust." Er schlug in sein Gesicht. „Bitte", winselte sein Gegenüber. Er schlug nochmal. Er schlug ein drittes Mal. Er warf ihn auf den Boden. Roy und Arthur traten auf ihn ein. „Du bist eine Schande", ein vierter Schlag traf sein Gesicht. Ein Fünfter. „Heul nicht wie ein Mädchen." Ein Sechster. Sein ganzer Körper blutete. Sie klauten ihm seinen teuren Schmuck. Die drei Jungs hauten ab. Er blieb liegen. „Na, Schnecke?", riefen sie noch einer Frau hinterher. Es war das letzte, was er hören konnte. Fledermäuse zogen vorbei.
Sie standen vor dem Capital Records Building in der Vine Street. „Das wird mein Tag. Ab heute bin ich ein Gewinner. Ich werde es schaffen. Bis dann, ihr Loser", verabschiedete sich Michael und ging in das Gebäude. Es sah aus, als würden Schallplatten aufeinander liegen. „Die Post schreibt irgendwas mit Watergate, doch morgen wird die ganze Welt nur über mich reden". Er fasste die goldene Klinke. Er lief durch den marmornen Flur, vorbei an den marmornen Säulen unter den Blicken von marmornen Statuen. Ein Bild sah er sich genauer an. Es schmerzte. „Was badt sein Moren lang vmv sunst? Hör auff es ist verlorn all Kunst Dann niemand der duncklen Nacht kan Dick Finsternis erleuchten thon. Die „Mohrenwäsche" verfolgte ihn. Auf der anderen Seite wurde auf einem Gemälde ein Mann vom Satan in die Hölle gestoßen. Am Ende des Ganges wartete eine zierliche Frau auf ihn. Sie blickte ihn an. Ihr blick streifte sein Cappy, seinen Hoodie, seine ausgewaschene Jeans und seine ausgelaufenen Turnschuhe. Dann blickte sie wieder hinauf. „Sie wünschen?", fragte sie und lächelte unehrlich. „Ich will zu deinem Chef." Sie sah ihn fragend an und verdrehte den Kopf. Sie behielt ihr Lächeln und erwiderte: „Wie bitte?"
„Ich will zu deinem Chef, hab ich gesagt. Hab Musik dabei."
„Süßes Kettchen. Haben Sie einen Termin?", fragte sie wieder und mit jedem Mal, wo sie eine eine Frage stellte, wurde ihre Stimme noch höher.
„Nein, habe ich nicht."
„Oh, dann. Das tut mir aber-", sprach sie und blickte in den Lauf seiner Pistole. Obwohl es ihr nichts genutzt hätte, erhob sie sofort ihre Hände, als wäre sie eine überführte Verbrecherin. Sie zitterte. Sie war kurz davor, zu weinen.
„Ich will zu deinem Chef, habe ich gesagt", sprach er ruhig und gelassen. Er war unbarmherzig. Sie merkte das. Während ihr eine Träne hinablief, verwies sie auf die Treppe.
„Dritter Stock", sagte sie. Er ging hoch.
Er klopfte. „Sherly, ich hab doch ge-", da machte er schon die Tür auf. Er küsste eine Frau, die oben schon halb entkleidet gewesen war. „Man. Was machen Sie denn? Raus hier!", schimpfte er.
„Ich glaube nicht", er holte wieder seine Waffe raus. Die beiden Menschen erstarrten. Ihm blickten fünf Augen entgegen. Zwei des Mannes, zwei der privaten Sekretärin und eins des Adlers mit dem Ölzweig und den Blitzbündeln in seinen Klauen, der über dem Sessel hing.
„Was wollen Sie?", fragte er und schrie beinahe. Die Frau knöpfte sich langsam ihre Bluse zu.
„Ich will, dass sie meine Musik hören! Hier!", er warf dem weißen Mann die Kassette vor die Füße. Es war alles, was er besaß. Seine Hosentaschen waren leer gewesen. „Da, sagte er!"
„Und die soll ich mir jetzt anhören? Deshalb machen Sie so einen Aufriss?" Michael nickte.
„Gut". Langsam bewegte sich der Mann vor ihm, die Frau rannte in einen Seitenflügel. Michael ignorierte sie. Sein Fokus war ein anderer gewesen. Die Frau war nur eine Randfigur in seinem Leben. Jetzt ging es um alles. Während es um alles ging, war sein Fokus nur auf eine Sache gerichtet.
Der Mann vor ihm klickte auf die „Play"-Taste. Noch bevor die Musik spielte, stürmten fünf Polizisten den Raum. Ein Schuss ertönte und traf die Ibisstatue. Während Michael abgeführt wurde, hackte im Hintergrund ein Geier an einem Tierkadaver. Seine Freunde sahen ihm zu. Unter dem großen Banner „Kunst ist, was den Mensch Mensch werden lässt" des Capitol Records Building stieg er in den Polizeiwagen. Es war ihm fast, als wäre es derselbe gewesen, der ihn schon damals abgeführt hatte.
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