45 | Sturmgespräche.

┊┊Alt-J (∆) - Dancing In The Moonlight┊┊


"Es ist alles gut, Hannah. Es war bloß dieser doofe Blumentopf, der gegen die Tür geknallt ist." Daniel reckt die Arme hoch, wodurch die dortigen Muskeln zucken, und trägt die Überreste des Blumentopfes in das Haus. "Aber du solltest dir das vielleicht mal ansehen."

Er stellt den Blumentopf mit einem leisen Knall ab und nickt mit dem Kopf in Richtung Tür. Mühsam stehe ich auf und stelle mich neben ihn. Unsere Oberarme berühren sich und ich schrecke vor dieser Berührung zurück. Mich durchfahren tausend Stromschläge. Ihm so nah zu sein raubt mir den Atem. Ich spüre seinen Blick auf mir, doch ich starre weiterhin aus der Tür.


Und was ich da sehe, verschlägt mir den Atem. Das Gewitter ist jetzt direkt vor uns. Inzwischen schneit es wie verrückt und der Wind wirbelt den liegenden und fallenden Schnee herum. Er peitscht uns die weiße Kälte ins Gesicht, wodurch man kaum etwas sehen kann. Nebenbei bemerkt ist es arschkalt und ich zittere. Es blitzt und donnert sofort und ich zucke zusammen. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, aber Gewitter faszinieren mich. Einerseits. Andererseits habe ich so verdammt große Panik und Angst davor. Als ich noch klein war, wurde mir immer gesagt, dass bei einem Gewitter die Engeln kegeln. Das hat mir als Kind Donner und Blitz erklärt. Inzwischen weiß ich natürlich, dass mir da nur irgendeine Geschichte erzählt wurde. Wie auch die Geschichte mit dem Osterhasen oder dem Weihnachtsmann - oder Christkind, je nachdem in welchem Bundesland man wohnt. Ich habe das Gefühl, dass man als Kind noch mehr glaubt. Warum auch nicht? Das Herz wurde noch nicht gebrochen und man hat - in den meisten Fällen - nichts Schlimmes erlebt. Manchmal wäre es schön, die Welt wieder durch Kinderaugen zu sehen. Dann würde man vielleicht wieder mehr Magie entdecken.


"Wow. Ich glaube ja nicht, dass die anderen bei so einem Wetter noch hier hochkommen." Ich schlucke und starre gebannt auf das Unwetter vor uns. Meine Hände sind in den hölzernen Türrahmen gekrallt. So fest, dass die Knöchel weiß hervortreten.

Daniel schnaubt. "Das hoffe ich doch. Alles andere wäre nämlich wirklich lebensmüde."

Zustimmend nicke ich. "Ja, in der Tat. Können wir das Unwetter jetzt wieder aussperren, bitte?"

"Na klar, du Angsthase." Er stößt mich sanft mit seiner Hüfte an und schließt die Tür hinter uns. Sie fällt krachend ins Schloss und ich bin froh, dass sie endlich wieder geschlossen ist.

"Ich bin kein Angsthase", grummle ich und gebe ihm den leichten Schubs zurück.

Er grinst kurz. "Oh doch, das bist du."

Ich stemme meine Hände in die Hüfte und versuche, mich größer zu machen. Daniel beobachtet dieses Schauspiel grinsend und verschränkt die Arme vor der Brust.

"Nein, immerhin liebe ich Horrorfilme!" Äußere ich mich empört.

"Interessant. Die kannst du aber nur angucken, wenn jemand bei dir ist. Alleine würdest du dir in die Hosen machen."

"Sagt der, der bei 'Happy Feet' geheult hat, weil ihm der kleine Pinguin so leid getan hat."

Seine Kinnlade klappt auf. "Hey, der war aber echt arm dran. Und so geheult habe ich jetzt auch wieder nicht. Vielleicht ein paar Tränchen, ja. Und außerdem ist es gemein, dass du mir das jetzt vorhältst. Du bist ganz schön frech, meine Liebe."

Jetzt bin ich es, die grinsen muss und recke mein Kinn siegerisch in die Höhe. Ich habe übersehen, dass Daniel einen Schritt auf mich zugegangen ist und jetzt direkt vor mir steht. Wir sind uns wieder so nahe, dass ich mich nur ein bisschen recken müsste, um ihn zu küssen. Warum geraten wir nur immer wieder in diese Situationen? Daniel starrt auf meinen Mund und schluckt. Gedankenverloren beißt er auf seine Unterlippe, was mich persönlich verrückt macht. Nach einer gefühlten Ewigkeit wandert sein Blick zu meinen Augen und ich werde noch nervöser. Auch wenn ich dachte, dass das gar nicht mehr geht. Langsam senkt er seinen Kopf. In Zeitlupe. Und auch wenn ich mich ihm liebend gerne entgegendrängen würde, ich lasse ihm Zeit. Er muss jetzt den ersten Schritt machen. Meine Augenlider flattern vor lauter Nervosität. Zwischen uns fehlen nur noch wenige Zentimeter.


Mein Handy klingelt und wir schrecken beide zurück. Zitternd atme ich ein und sehe auf das Display. Es ist Ida. Ich werfe Daniel noch kurz einen Blick zu, aber er hat sich bereits wieder abgewandt. Als wäre nie irgendetwas passiert. Naja, liebe Hannah, es ist ja auch nichts passiert. Ihr wart euch nur gerade sehr nahe. Aber es ist ja nichts passiert. Entspann dich.

"Ida?" Ich kann nicht verhindern, dass meine Stimme zittert. Kurz muss ich meine Augen schließen und mich hinsetzen. Meine wackeligen Knie tragen mich anscheinend nicht länger.

"Hannah? Gott sei Dank, dass ich dich erreiche. Wir bleiben heute in der Stadt. Es ist zu gefährlich. Es tut mir leid, dass wir gefahren sind, dass wir euch dort gelassen haben. Aber ich wollte, dass er bei dir bleibt. Bitte verriegelt die Türen und Fenster!" Idas Stimme klingt schrill, als müsste sie gegen tausend andere Störgeräusche ankämpfen.

Ich nicke, aber dann fällt mir ein, dass sie mich ja gar nicht sehen kann. "Geht klar, Ida. Es ist alles gut. Passt auf euch auf."

"Immer. Und Hannah?"

"Ja?", frage ich.

"Daniel-" Aber dann wird das Gespräch unterbrochen und die Leitung ist tot.

Was wollte sie sagen? Das werde ich wohl erst erfahren, wenn ich sie wieder sehe.


"Und, was hat sie erzählt?" Daniel sieht mich abwartend an. Sein Blick ist jetzt wieder unterkühlt, als wäre dieser kleine Moment zwischen uns vorhin nie passiert.

"Sie kommen heute nicht mehr hier hoch." Ich schlucke und werde mir Daniels Anwesenheit nur zu sehr bewusst.

Daniel nickt. "Das habe ich mir schon fast gedacht. Gut, super. Dann sind es nur wir zwei. Was für ein schöner Abend." Seine Stimme trieft nur so voller Sarkasmus und ich senke den Kopf.

"Es tut mir leid, dass du hier bei mir sein musst und nicht wo anders sein kannst", sage ich wütend, denn seine Art und Weise mit mir umzugehen geht mir allmählich ziemlich auf den Keks.

"Ich hätte dich nicht allein lassen können, Hannah", merkt er leise an.

"Komisch, ich hatte eher das Gefühl, du könntest nicht schnell genug von mir fliehen, so wie du dich verhalten hast."

"Ja, ich weiß, mein Verhalten war-"

Ich unterbreche ihn. "Scheiße? Unterste Schublade? Mies? Gemein? Nils-Niveau?" Mit hochgezogenen Augenbrauen sehe ich ihn herausfordernd an.

Er nickt. "Vermutlich alles davon, ja. Hannah, es tut mir leid. Manche Sachen waren echt nicht okay."

"Manche Sachen? Du hast mich teilweise behandelt wie n Knallfrosch." Ich schürze die Lippen.

Daniel schmunzelt. "Manchmal bist du ja aber auch einer."

Ich verdrehe die Augen und muss grinsen. "Gleichfalls."


Er setzt sich auf die Couch und legt sich die Decke über die Knie. Ich tue es ihm gleich und setze mich neben ihn. Mit einigem Abstand natürlich. Die Decke ist aber, zum Glück, groß genug für die Couch und dankbar nehme ich sie an. Ich friere und zittere dadurch noch mehr.

"Natürlich hättest du mich hier auch alleine lassen können. Überall ist es besser, als bei mir." Ich sehe ins Feuer und beobachte die Flammen bei ihrem Tanz. Das Holz knackt leise und ich zucke kurz zusammen.

Daniel bemerkt mein Zucken und lacht leise. "Nein, ich hätte dich nicht allein lassen können. Du bist ein zu großer Angsthase", sagt er augenzwinkernd.

Er überlegt und seine Kiefermuskeln zucken. Kurz habe ich das Verlangen, seine Kieferpartie mit meinen Fingern nachzumalen. Er wirft mir einen kurzen Blick zu.

"Außerdem habe ich gelernt, dass ich auf mein Bauchgefühl hören sollte. Und mein Bauchgefühl sagt mir, dass ich heute besser hier bleibe. Ich habe schon mal den Fehler gemacht und nicht auf mein Bauchgefühl gehört. Dadurch habe ich bereits einen Fehler gemacht, den ich bis heute bereue und nicht zurücknehmen kann. Und dieser Fehler hat mich jemanden gekostet." Trauer legt sich über sein schönes Gesicht und seine Augen verdunkeln sich.


Ich sehe ihn an und kann den Blick nicht von ihm nehmen. "Wen?", frage ich nur.

"Erinnerst du dich an den Namen meines Autos?"

Es fühlt sich wie ein halbes Jahrhundert an, als ich in Daniels Auto saß und er mich zum ersten Mal nach Hause gefahren hat. Ich krame fieberhaft nach dem Namen seines Autos und mir fällt die Situation wieder ein und die Situation läuft vor meinem inneren Auge erneut ab.


"Außerdem ist Molly schon uralt."

"Molly?" Entgeistert sehe ich ihn an. "Dein Auto hat einen Namen? Welcher Idiot gibt seinem Auto einen Namen?" Ich kichere.

"Es war nicht immer mein Auto."


"Wessen Auto war es, Daniel?" Ich setze mich so hin, dass ich ihn ansehen kann und lasse ihn nicht aus den Augen.

Dieser holt tief Luft und sieht mich anschließend mit dunklen Augen an. Nur das Feuer spiegelt sich in ihnen. Er leckt sich über die Lippen und fährt mit seiner Hand über den Saum der Decke.

"Daniel?", bohre ich nach. Wenn ich jetzt nachgebe, erzählt er es mir nie.

Er schluckt und als er spricht, bricht seine Stimme ein wenig. "Das meiner Schwester."

Ich stutze, denn er hat sie noch nie erwähnt. Und ich habe sie auch noch nie gesehen. "Deiner Schwester? Wo ist sie jetzt?"

"Nicht mehr hier." Daniel lächelt traurig.

"Ist sie weggezogen?" Ich beobachte seine Hand, die immer wieder den Saum der Decke nachfährt.

"Sie ist tot, Hannah. Sie hat sich umgebracht." Die darauffolgende Stille ist so laut wie ein kreischender Zug.

Mein Herz bricht, als ich in sein trauriges Gesicht sehe. Er hat sich mir noch nie so gezeigt. Und ich kann mir nicht annähernd vorstellen, was für einen Schmerz er durchleben musste - muss.

"Daniel, ich-" Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Kein Wort der Welt würde seinen Schmerz in irgendeiner Weise dämmen können.

"Alles gut. Es ist zwei Jahre her. Ich habe mich, mehr oder weniger, damit abgefunden. Aber sie fehlt mir, Hannah. Sie fehlt mir so sehr."

"Möchtest du mir davon erzählen? Möchtest du darüber sprechen?"


Und vielleicht ist es die Tatsache, dass dieser Abend sowieso schon komplett anders läuft als ursprünglich geplant und draußen ein Weltuntergangsszenario herrscht, aber er spricht. Er öffnet sich mir und ich bin unendlich dankbar für sein Vertrauen.


"Ihr Name ist Marlene. Oder war. Ich weiß nicht, wie sagt man das denn? Sie heißt ja immer noch so. Aber sie lebt halt nicht mehr. Sie war meine große Schwester, zwei Jahre älter als ich und sie war toll. Sie war mutig und lustig und abenteuerlustig und interessiert an der Welt und ihren Mitmenschen. Damals war ich noch mit Nils befreundet und mit dem Rest, den du damals in dem Pizzaimbiss gesehen hast. Sie in diesem Imbiss zu sehen, das hat mir das Herz gebrochen und wieder an alles erinnert. Deswegen habe ich dich aus dem Imbiss gezogen."

Ich nicke und lasse ihn weitersprechen. Würde ich ihn jetzt unterbrechen, könnte es sein, dass er nicht weitererzählt.

"Du musst wissen, Nils war nicht immer so schlimm. Es ist komisch, das auszusprechen. Aber er war tatsächlich ein guter Freund. Anfangs. Irgendwann haben die Jungs Marlene kennengelernt und ab da ging es bergab. Es folgten respektlose Äußerungen, was sie denn so alles mit ihr und ihrem Körper anstellen würden, hätten sie die Möglichkeit. Ich hab sie mehrmals auf ihr Fehlverhalten hingewiesen, aber sie haben nur gelacht. Marlene hat, wie ihr Frauen leider so seid, leider relativ schnell ein Auge auf Pit geworfen." Er nimmt einen Schluck von seinem Wasser.

"Moment, Pit - der Pit, der mich damals in der Straße bedrängt hat? Mit dem du dich geschlagen hast?"

Daniel nickt. "Ja, der Pit. Ein Arschloch durch und durch, wie ich inzwischen weiß. Pit hatte nie wirklich Interesse an ihr, wollte nur das eine. Wie diese Möchtegernbadboys halt so sind. Marlene war zu blind, um es zu erkennen. Und selbst meine Hinweise haben sie nicht davon abgehalten, ihr Herz an dieses Arschloch zu verlieren. Er hat ihr Vertrauen gewonnen, ihr Herz. Und ist dann mit ihr auf diese Party. Er hat sie abgefüllt und ... und ..." Seine Stimme bricht und ich sehe, wie seine Hand zittert.

Ohne nachzudenken, lege ich meine auf seine und halte sie fest. Er drückt sie und verschränkt unsere Hände miteinander. Mein Herz macht einen Hüpfer. Einen großen Hüpfer. Aber das Thema ist zu ernst, als dass ich mich wirklich über diese Geste freuen könnte.

"Was ist passiert?"

Er räuspert sich. "Er hat sie vergewaltigt und jemand hat ein Foto gemacht. Zum Glück wurde ein Foto gemacht, denn nur so konnten wir ihn identifizieren. Aber für Marlene war es der Horror, verständlicherweise. Er hat ihr das Herz gebrochen und ihr alles genommen. Pit hat natürlich einen guten Anwalt, Nils Vater, und von da an war die Freundschaft zwischen Nils und mir komplett im Arsch. Sie haben vor Gericht gewonnen, obwohl wir das Beweisfoto hatten. Aber der Richter war auf Pits Seite und hat ihm nur ein Jahr auf Bewährung gegeben und Sozialarbeit. Sozialarbeit, Hannah. Und das hat Marlene in den Abgrund getrieben. Am gleichen Abend hat sie sich dazu entschlossen, für immer zu gehen."

Tränen sammeln sich in seinen Augen und es ist mir egal, dass er mich vermutlich hasst. Ich überbrücke die Entfernung und schließe ihn in meine Arme. Ein Zittern durchfährt seinen Körper und ich drücke ihn an mich. Auch in meinen Augen sammeln sich Tränen. Und ich weine um Daniels Schwester,  die ich nie kennenlernen durfte. Daniel drückt mich an sich, als wäre ich sein überlebenswichtiger Anker. Und so bleiben wir auf der Couch sitzen. Um uns herum das Chaos des Unwetters, das Donnern und das leise Knarzen des Holzes im Kamin. Und obwohl wir von solch einem Chaos umgeben sind, ist es hier ruhig. Gänzlich ruhig.

Und kurz habe ich Angst, dass wir uns mitten im Auge des Sturms befinden.


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Hallo! 😍

Die Lesenacht beginnt - und ich wünsche euch viel Spaß. Ich bin so gespannt, was ihr zu alledem hier sagt. 🤭

♥️

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